Sonntag, 20. Oktober 2019

Kapitel 87


Kapitel 87: Kern – Teil Neun
Zolle dem Himmel Respekt und hebe dir den Eid
unter Paaren für später auf


Während Wei WuXian sprach, griff er nach zwei Ästen und begann damit, auf den Stamm des Baumes zu klettern. Mit großer Leichtigkeit sprang er nach oben, bis er einen Bereich nahe der Spitze erreicht hatte. Wei WuXian hielt schließlich an: „Hm, es sollte ungefähr hier gewesen sein.“

Er vergrub sein Gesicht in einem Büschel dicker Blätter und sah erst nach einer langen Weile nach unten. Seine Stimme war hoch, von Gelächter erfüllt, „Damals fühlte es sich so beängstigend hoch an, aber wenn man es jetzt ansieht, dann war es wirklich nicht so hoch.“

In dem Moment, als er seine Arme um den Baum gelegt hatte, hatten sich Wei WuXians Augen erwärmt. Als er nach unten blickte, war sein Blick bereits verschwommen.

Lan WangJi stand direkt unter dem Baum und sah ihn mit erhobenem Kinn an. Er war ebenfalls weiß gekleidet. Er hielt keine Laterne, aber das Mondlicht glitt über seinen Körper, hüllte ihn fast in einen weichen Heiligenschein und ließ ihn so hell erscheinen. Er blickte mit einem teilnahmsvollen Ausdruck auf die Spitze des Baumes. Er schien ein paar Schritte näher gekommen zu sein, fast so, als würde er seine Arme ausstrecken wollen.

Plötzlich strömte ein ungewöhnlich starker Impuls durch Wei WuXians Gedanken.

Er wollte wieder runterfallen, genau wie damals.

Eine Stimme in ihm sagte: Wenn er mich fängt, dann werde ich.....

An dem Punkt, an dem er dachte: 'dann werde ich', ließ Wei WuXian los. Als Lan WangJi sah, dass er ohne Vorwarnung aus dem Baum herausfiel, weiteten sich seine Augen sofort. Er schoss gerade noch rechtzeitig vorwärts, um Wei WuXian zu erwischen, oder man könnte sagen, um von Wei WuXian erwischt zu werden.


Lan WangJis Figur war schlank. Er schien ein ziemlich gelehrter junger Meister zu sein, aber seine Kraft durfte nicht außer Acht gelassen werden. Nicht nur seine Armstärke war schockierend, auch sein Unterkörper war stabil. Aber schließlich war es ein erwachsener Mann, der vom Baum sprang, daher, obwohl er Wei WuXian gefangen hatte, taumelte er leicht und schwankte einen Schritt zurück. Sofort aber beruhigte er sich. Gerade als er im Begriff war, Wei WuXian loszulassen, erkannte er, dass Wei WuXians Arme eng um seinen Hals gelegt waren, was ihn daran hinderte, sich auch nur im Geringsten zu bewegen.


Er konnte das Gesicht von Wei WuXian nicht sehen. Wei WuXian konnte auch sein Gesicht nicht sehen, aber das musste er nicht. Als er die Augen schloss, atmete er nur den kalten Geruch von Sandelholz auf Lan WangJis Körper ein.

Seine Stimme war heiser, „Danke.“

Er hatte keine Angst vor dem Fallen. All die Jahre war er viele Male gefallen. Aber auf den Boden zu fallen, tat immer noch weh. Wenn jemand da gewesen wäre, um ihn zu fangen, dann wäre es mehr als wundervoll gewesen.

Als Wei WuXian ihm dankte, schien Lan WangJis Körper für eine Sekunde zu erstarren. Die Hand, die er auf Wei WuXians Rücken legen wollte, hielt inne, bevor er sie zurückzog.

Nach einer Schweigeminute antwortete Lan WangJi: „Gern geschehen.“


Nachdem sie sich eine lange Zeit umarmt hatten, löste sich Wei WuXian schließlich von ihm. Er stand mit geradem Rücken wie immer da und sprach, als wäre nichts passiert: „Lass uns zurückgehen!“

Lan WangJi, „Keine Erinnerungen mehr?“

Wei WuXian, „Doch, noch mehr Erinnerungen! Aber es gibt hier nichts zu sehen, wenn wir noch weiter hinausgehen. Es gibt hier nur Wildnis und von der haben wir in den letzten Tagen wirklich genug gesehen. Gehen wir zurück zum Lotus Pier. Ich bringe dich zum letzten Ort.“

Die beiden kehrten zum Dock zurück und betraten wieder die Tore des Lotus Piers. Sie gingen über das Trainingsfeld. Als sie an einem kunstvollen kleinen Gebäude vorbeikamen, stoppte Wei WuXian und sah es sich noch eine Weile genauer an. Sein Ausdruck schien anders zu sein. Lan WangJi fragte: „Was ist los?“

Wei WuXian schüttelte den Kopf, „Nichts. Der Ort, an dem ich früher mein Zimmer hatte, war hier. Jetzt ist er weg. Sie haben ihn wirklich abgerissen. All das ist neu.“

Sie passierten einige Gebäudereihen und kamen an einem ruhigen Ort in den Tiefen des Lotus Piers an, vor einem schwarzen, achtkantigen Palast. Als ob er Angst hätte, dass er jemanden erschrecken könnte, drückte Wei WuXian sanft die Türen auf und ging hinein. Vor einem Altar standen sehr ordentlich einige Reihen an kleinen Gedenktafeln.

Es war die Ahnenhalle der YunmengJiang-Sekte.

Er fand eine Soutane und kniete sich nieder. Er nahm drei der Räucherstäbchen aus dem Behälter, entzündete sie beim Kerzenlicht und steckte sie in das bronzene Stativ vor den Tafeln. Er warf sich dreimal vor zwei der Tafeln nieder und wandte sich an Lan WangJi: „Ich bin früher oft hierher gekommen.“

Lan WangJi zeigte einen verständnisvollen Ausdruck: „Niederknien als Strafe?“

Wei WuXian grübelte: „Woher wusstest du das? Das ist richtig. Herrin Yu hat mich fast jeden Tag bestraft.“

Lan WangJi nickte: „Ich habe von ein paar Dingen gehört.“

Wei WuXian, „Es ist anscheinend so berühmt, dass sogar Menschen außerhalb von Yunmeng, sogar ihr Leute aus Gusu, davon gehört habt – wie kann es sich dann nur um 'ein paar Dinge' handeln? Aber um ehrlich zu sein, in all den Jahren habe ich noch nie eine zweite Frau gesehen, deren Temperament so schlecht war wie das von Herrin Yu. Sie sagte mir stets, ich solle in die Ahnenhalle gehen und knien, egal wie nichtig die Angelegenheit war. Hahaha....“

Aber abgesehen davon hatte Herrin Yu nie wirklich etwas getan, um ihm zu schaden.

Plötzlich erinnerte er sich daran, dass dies die Ahnenhalle war und dass die Tafel von Herrin Yu direkt vor ihm stand. Er entschuldigte sich sofort: „Es tut mir leid, es tut mir leid.“


Um seine gedankenlosen Worte wiedergutzumachen, zündete er drei weitere Räucherstäbchen an. Gerade als er sie über seinen Kopf hob und sich immer noch in seinem Kopf entschuldigte, wurde es neben ihm plötzlich dunkler. Er drehte sich um und stellte fest, dass Lan WangJi sich auch neben ihm niedergekniet hatte.


Nun, da sie sich in der Ahnenhalle befanden, musste er natürlich auch seinen Respekt zeigen. Lan WangJi nahm auch drei Räucherstäbchen, fegte seinen Ärmel zur Seite und entzündete sie mit einer der roten Kerzen. Seine Bewegungen waren korrekt, und sein Ausdruck war ernst. Wei WuXian neigte seinen Kopf, um ihn anzusehen, seine Lippen zuckten fast unkontrolliert nach oben. Lan WangJi blickte ihn an und erinnerte daran, „Die Asche.“

Die drei Räucherstäbchen, die Wei WuXian hielt, brannten schon seit geraumer Zeit. Ein wenig Asche hatte sich bereits oben angesammelt, und stand kurz vor dem Absturz. Er weigerte sich jedoch immer noch, sie in das Stativ einzusetzen, sondern sagte: „Lass es uns gemeinsam tun.“


Lan WangJi hatte nichts dagegen. Und so knieten sich die beiden mit je drei Räucherstäbchen zwischen den Reihen der Tafeln nieder und verbeugten sich gemeinsam vor den Namen von Jiang FengMian und Yu ZiYuan.

Einmal. Zweimal. Die Bewegungen waren genau die gleichen. Wei WuXian, „Das war's.“

Er legte am Ende schlussendlich den Weihrauch in das Stativ.

Schließlich blickte Wei WuXian zu Lan WangJi, der aufrichtig wie immer neben ihm kniete. Er faltete seine Hände zusammen und sprach in seinem Herzen: Onkel Jiang, Herrin Yu, ich bin es wieder. Ich bin hier, um euch beide wieder zu stören. Aber ich wollte ihn wirklich hierher bringen und ihn euch zeigen. Betrachtet die beiden Demutsbezeugungen, die wir gerade geleistet haben, auch als Demutsbezeugung vor dem Himmel und der Erde sowie vor dem Vater und der Mutter. Bitte helft mir, die Person neben mir vorerst bei mir zu halten. Ich schulde euch jetzt noch die letzte Demutsbezeugung und ich werde eine Möglichkeit finden, dass in Zukunft wieder gutzumachen....

An dieser Stelle kam plötzlich ein kaltes Lachen von hinten.

Wei WuXian war mitten in seinem stillen Gebeten. Als er das Geräusch hörte, zitterte er, während seine Augen aufschlugen. Er drehte sich um und sah Jiang Cheng in der Mitte der Lichtung außerhalb der Ahnenhalle stehen, seine Arme verschränkt vor der Brust.

Seine Stimme war kühl: „Wei WuXian, du verstehst dich wirklich nicht als Außenseiter, oder? Du kommst und gehst, wann immer du willst. Du nimmst mit, wen immer du willst. Erinnerst du dich vielleicht noch daran, wessen Sekte das hier ist? Wer ist der Besitzer?“

Dabei wollte Wei WuXian das hier von Jiang Cheng fernhalten. Jetzt, da er sie entdeckt hatte, wusste er, dass sie definitiv mit einigen bösartigen Bemerkungen konfrontiert werden würden. Er wollte nicht streiten: „Ich habe HanGuang-Jun nicht zu den anderen, vertraulicheren Orten des Lotus Piers gebracht. Wir kamen nur her, um Onkel Jiang und Herrin Yu mit ein paar Räucherstäbchen zu begrüßen. Wir sind schon fertig und gehen jetzt.“

Jiang Cheng, „Wenn du gehst, dann geh bitte so weit weg wie möglich. Lass mich nicht wieder sehen oder hören, wie du hier im Lotus Pier herumalberst.“

Wei WuXian spürte, wie seine Augenbrauen zuckten. Er sah, wie Lan WangJis rechte Hand auf sein Schwert drückte und hielt ihn sofort zurück.

Lan WangJi wandte sich an Jiang Cheng, „Pass auf, was du sagst.“

Jiang Cheng war ziemlich offen: „Ich denke, ihr seid diejenigen, die ihr Handeln genau überdenken sollten.“

Wei WuXians Augen pochten noch stärker, und auch das ominöse Gefühl in ihm wuchs. Er sprach zu Lan WangJi, „HanGuang-Jun, lass uns gehen.“

Dann drehte er sich um und verbeugte sich noch ein paar Mal vor den Tafeln des Paares Jiang, bevor er mit Lan WangJi aufstand. Jiang Cheng hielt ihn nicht davon ab, sich niederzuknien, aber er verbarg auch nicht seinen spöttischen Ton: „Du solltest wirklich anständig vor ihnen knien, nachdem du ihre Augen beschmutzt und ihren Frieden gestört hast.“

Wei WuXian warf ihm einen Seitenblick zu und sprach mit ruhiger Stimme: „Ich bin nur hier, um etwas Weihrauch zu verbrennen. Das reicht doch, oder?“

Jiang Cheng, „Etwas Weihrauch verbrennen? Wei WuXian, bist du noch ganz dicht? Es ist so lange her, dass du aus unserer Sekte geworfen wurdest, und jetzt bringst du hier eine unwillkommene Person mit, um Weihrauch für meine Eltern zu verbrennen?“

Wei WuXian war bereits dabei, um ihn herumzugehen und zu gehen. Als er das hörte, blieb er plötzlich stehen, seine Stimme leise, „Nun, sprich es laut aus. Wer ist hier eine unwillkommene Person?"

Wenn er hier allein gewesen wäre, dann hätte er so tun können, als hätte er nichts von dem gehört, was Jiang Cheng gesagt hatte. Doch mit Lan WangJi bei ihm, würde er unter keinen Umständen wollen, dass Lan WangJi durch Jiang Chengs vulgäre Bemerkungen und offensichtliche Bosheit an seiner Seite litt.

Jiang Cheng spottete: „Schau, wie vergesslich du bist. Was bedeutet unwillkommene Person? Dann lass mich dich daran erinnern. Weil du den Helden gespielt und den zweiten jungen Meister Lan, der gerade neben dir steht, gerettet hast, ist der gesamte Lotus Pier und meine Eltern mit ihm untergegangen. Und das war nicht genug. Nach dem ersten Mal kommt schon bald darauf das zweite. Du musstest sogar Wen-Hunde retten und meine Schwester mit dir zusammen runterziehen. Was für ein Mensch du bist! Außerdem bist du sogar so großzügig, dass du die beiden zum Lotus Pier mitnehmen kannst. Der Wen-Hund schlendert vor den Toren meiner Sekte herum; zweiter junger Meister Lan kam sogar hierher, um Weihrauch zu verbrennen. Du bist absichtlich hier, um mich daran zu erinnern, um sie daran zu erinnern.“

Er fuhr fort: „Wei WuXian, was glaubst du, wer du bist? Wer gab dir das Gesicht, um jeden, den du willst, mit in den Ahnensaal unserer Sekte zu bringen?“

Wei WuXian wusste, dass Jiang Cheng das mit ihm ein für allemal klären musste.

Für die Zerstörung vom Lotus Pier glaubte Jiang Cheng nicht nur, dass Wei WuXian alleine dafür verantwortlich sei, sondern auch, dass Wen Ning und Lan WangJi ebenfalls verantwortlich seien. Er wollte keinem der beiden einen freundlichen Blick zuwenden, geschweige denn, dass sie beide gleichzeitig direkt vor seinem Gesicht in den Lotus Pier hineingingen. Er war wahrscheinlich rasend vor Wut.




Information
Betrachtet die beiden Demutsbezeugungen, die wir gerade geleistet haben, auch als Demutsbezeugung vor dem Himmel und der Erde sowie vor dem Vater und der Mutter (…) : In traditionellen chinesischen Ehen muss man sich dreimal niederwerfen: einmal für den Himmel und die Erde, einmal für den Vater und die Mutter und einmal für den Mann und die Frau (einander zugewandt).

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