Kapitel
79: Kern – Teil Eins
Ende
der Rückblenden – Zurück in die Gegenwart
Das Blutbad der
Nachtlosen Stadt war legendär. Es war eine blutige Schlacht, in der
der YiLing-Patriarch Wei WuXian in der Nacht der ‚Eidverkündung‘
allein über dreitausend Menschen abschlachtet hatte.
Einige sagten, dass es
auch über fünftausend gewesen waren. Egal ob drei oder fünf, eines
war sicher - in dieser Nacht wurden die Ruinen der 'Nachtlosen Stadt'
zu einer blutigen Hölle in den Händen von Wei WuXian.
Und dem Mörder, selbst
unter den Angriffen aller, gelang es, unversehrt zu den Grabhügeln
zurückzukehren. Niemand wusste, wie genau er das gemacht hatte.
Durch diese Schlacht war
die Kultivierungswelt ziemlich schwer verwundet worden. Und da dies
der Fall war, konnten die vier großen Sekten nach fast drei Monaten
des Energiesparens und der Intrigenpläne endlich eine Belagerung der
Höhle des Dämonen, des Grabhügels, erfolgreich durchsetzen und das
Wort ‚Massaker‘ an die Überreste der Wen-Sekte und dem verrückt
gewordenen YiLing-Patriarchen zurückgeben.
Wei WuXian sah die
Kultivierenden vor der Dämonenschlachthöhle an. Ihr Ausdruck war
derselbe wie bei den Kultivierenden in der Nacht der ‚Eidverkündung‘,
die ihren Wein auf den Boden vergossen hatten, während sie das
Versprechen ablegten, die Asche mit den Überresten der Wen-Sekte und
ihn in alle Winde zu zerstreuen.
Einige waren die
Überlebenden dieser Nacht, andere waren die Nachkommen dieser
Kultivierenden, aber noch mehr waren es die selbsternannten ‚Personen
der Gerechtigkeit‘, die den gleichen Glauben hatten wie sie.
Yi WeiChun, ein
mittelalter Kultivierender, der verkündet hatte, dass ihm von ihm
die Beine abgeschnitten worden waren und er von da an Holzprothesen
hatte tragen müssen, sagte erneut: „Die Schulden des Blutes, die
du dreitausend Menschen schuldest, werden nie zurückgezahlt werden
können, nicht einmal, wenn du eine Million Mal stirbst!“
Wei WuXian unterbrach
ihn: „Dreitausend Menschen? In der Tat waren in dieser Nacht in der
'Nachtlosen Stadt' dreitausend Kultivierende anwesend, aber auch die
Führer der Sekten und vieler ihrer Eliten. Wenn wirklich alle
anwesend gewesen wären, hätte ich wirklich alle dreitausend
Menschen töten können? Überschätzt du hier mich oder schaust du
auf sie herab?“
Er sagte nur ruhig eine
einfache Tatsache, aber der Kultivierende fühlte sich, als ob er
verachtet worden wäre, und brodelte innerlich: „Worüber reden wir
hier wohl? Wie könnte es zu Verhandlungen über Blutschulden
kommen?“
Wei WuXian, „Es ist
nicht so, dass ich über so etwas verhandeln will, aber ich will
nicht, dass meine Gebühren nur wegen einiger Worte eines anderen
verdoppelt werden. Ich werde nicht schultern, was ich nicht getan
habe.“
Jemand sprach: „Was
hast du denn nicht getan? Was gibt es denn noch, was du nicht getan
hast?“
Wei WuXian, „Zum
Beispiel war ich nicht derjenige, der ChiFeng-Zun zerteilt hat. Ich
bin nicht derjenige, der Herrin Jin gezwungen hat, sich am
Karpfenturm das Leben zu nehmen. Ich bin auch nicht derjenige, der
all die Leichen kontrolliert, denen du begegnet bist, als du auf
diesen Berg hinaufgestürmt bist.“
Su She lächelte:
„Patriarch YiLing, ich habe immer gehört, dass du arrogant bist,
aber jetzt bist du so bescheiden. Wenn nicht du, so kann ich mir
wirklich niemanden auf dieser Welt vorstellen, der so viele wilde
Leichen kontrollieren kann und so einen guten Kampf mit uns führt.“
Wei WuXian, „Du kannst
dir wirklich niemanden vorstellen? Jeder kann es tun, solange er das
Tiger-Amulett hat.“
Su She, „Aber ist das
Tiger-Amulett nicht eine deiner Waffen?“
Wei WuXian, „Jetzt ist
es an der Zeit, zu fragen, wer es ist, der es so lange aufbewahrt
hat. Es ist wie bei Wen Ning. Damals hatten einige bestimmte Sekten
oder so eine Todesangst vor dem Geistergeneral. Sie sagten in der
Öffentlichkeit, sie hätten ihn getötet, aber hinter aller Rücken
versteckten sie ihn über zehn Jahre lang. Wie seltsam. Wer war
derjenige, der sagte, dass seine Asche damals verstreut worden wäre?“
Im Gleichklang blickten
alle zu den anwesenden Schülern der LanlingJin-Sekte hinüber.
Schließlich war der Führer der LanlingJin-Sekte derjenige, der die
volle Verantwortung für diese Angelegenheit trug, indem er feierlich
verkündet hatte, dass die beiden Führer der Überreste der
Wen-Sekte verbrannt worden seien, und der sogar die Asche in der
Nachtlosen Stadt verstreut hatte.
Su She antwortete sofort:
„Du musst dir nun wirklich keine weiteren Geschichten mehr
ausdenken.“
Plötzlich ertönte
wieder seltsames Rascheln und Rumpeln inmitten der Wälder.
Lan QiRen, „Seid
vorsichtig, ihr alle! Die zweite Welle von Leichen ist da!“
Als sie dies hörten,
ging die Hälfte der Gruppe los, um sich damit auseinanderzusetzen,
während die andere Hälfte immer noch alarmiert mit den Spitzen
ihrer Schwerter auf den ‚Mob‘ vor der Dämonenschlachthöhle
zeigte.
Wei WuXian, „Ich sagte
bereits, dass diese Leichen nicht unter meiner Kontrolle stehen. Wenn
du die Zeit hast, mich anzusehen, dann solltest du dir vielleicht
auch die Zeit nehmen, dir sie auch genauer anzusehen.“
Es waren einige berühmte
Kultivierende anwesend, sowie einige Sektenführer und Senioren. Mit
einer Gruppe von wilden Leichen umzugehen, war da nicht schwer. Mit
den Geräuschen der Guqins und den Schwertern, die überall
herumflogen, hatte niemand die freie Zeit, sich darum zu kümmern,
was hier vor sich ging.
Mit einer Welle seiner
Peitsche schlug Jiang Cheng drei Leichen in Stücke, bevor er sich an
Jin Ling wandte: „Jin Ling! Willst du deine Beine behalten oder
nicht?!“
Was er meinte, war, dass
er Jin Ling die Beine brechen würde, wenn er sich weiterhin
weigerte, zu ihm zurückzukommen. Eine solche Drohung war jedoch
etwas, das Jin Ling immer wieder von ihm gehört hatte. Er hatte es
noch nie wirklich getan. Und so blickte er zu Jiang Cheng, bewegte
sich aber trotzdem nicht. Jiang Cheng fluchte und holte Zidian mit
einer Drehung seines Handgelenks zurück, als ob er es um Jin Ling
wickeln und ihn mit Gewalt zurückziehen wollen würde. Doch das
violette Licht, das auf Zidians Körper leuchtete, dämmerte
plötzlich. Einen Moment später erlosch es komplett.
Sofort wurde die lange
Peitsche zu einem silbernen Ring und wickelte sich um seinen
Ringfinger. Jiang Cheng hielt erstaunt inne. Er war noch nie in einer
Situation gewesen, in der sich Zidian von selbst zurückverwandelte.
Er starrte immer noch auf seine Handfläche, als zwei Tropfen Blut
auf deren Mitte landeten.
Jiang Cheng hob seine
Hand und wischte sich über sein Gesicht, nur um dann eine Handvoll
Rot zu sehen. Jin Ling rief aus: „Onkel!“
Ein paar überraschte
Ausrufe kamen auch aus der Menge, die mit den Leichen kämpfte. Dort
drüben waren die meisten Schwertblicke verdunkelt, und zwei
scharlachrote Blutstreifen hingen auf über der Hälfte der Gesichter
der Menschen. Nasenbluten. Bei einigen tropfte das Blut sowohl aus
der Nase als auch aus dem Mund!
Einer der
Schwertkultivierenden rief aus: „Was ist los?!“
„Meine spirituellen
Kräfte sind weg!“
„Shixiong, komm und
hilf mir ein wenig! Etwas ist hier drüben passiert!“
Bichen wurde aus seiner
Scheide befreit und tötete die Leiche, die hinter dem Kultivierenden
her war, der um Hilfe schrie. Allerdings wuchsen die beunruhigten
Anrufe in der Anzahl, klangen mal lauter und mal leiser. Die Menge
wurde langsam immer weiter zusammengedrängt und zog sich in Richtung
der Dämonenschlachthöhle zurück.
Im Moment waren die
Kultivierenden, die bereit gewesen waren, sich eine große Schlacht
auf dem Grabhügel zu liefern, plötzlich ihrer spirituellen Kräfte
beraubt. Nicht nur, dass der Schwertblick verschwand und all ihre
Talismane versagten, auch die Melodien der Schüler der GusuLan-Sekte
und der MolingSu-Sekte waren zu gewöhnlichen Klängen verkommen und
hatten ihre exorzierenden Fähigkeiten verloren.
Die Situation hatte sich
umgekehrt!
Lan WangJi nahm die Guqin
von seinem Rücken. Die Schwingung der Saiten hallte nach oben wider.
Doch egal, wie geschickt er beim ‚Klang des Bezwingens‘ war, er
war trotzdem allein. Wen Ning sprang aus der Höhle und half ihm, die
Leichen zu vertreiben, während er gleichzeitig stillschweigend die
Stöße und Schläge der Kultivierenden ertragen musste.
Glücklicherweise konnte er keine Schmerzen verspüren und war daher
nicht betroffen.
Inmitten des Aufruhrs
eilte Lan SiZhui plötzlich hinaus und rief: „Ihr alle, kommt her,
kommt in die Dämonenschlachthöhle. Auf dem Boden der Höhle
befindet sich eine große Anordnung . Es fehlen zwar einige Teile,
aber es sollte funktionieren, wenn wir es reparieren. Es sollte für
eine Weile reichen!“
Einige der
Kultivierenden, die durch diese Situation total überfordert waren,
wollten sofort hineingehen, sobald sie es gehört hatten. Su She
schrie jedoch mit lauter Stimme: „Niemand geht rein! Es muss eine
Falle sein! Es muss eine noch größere Gefahren für uns da drin
geben!“
Als die Leute seine
Schreie hörten, erkannten sie plötzlich, dass sie zögerten und
nicht wussten, ob sie hineingehen sollten oder nicht. Wei WuXian ließ
mit einer Handbewegung einen Regen von Talismanen nieder: „Draußen
zu sterben bedeutet zu sterben, drinnen zu sterben bedeutet auch zu
sterben. Du stirbst sowieso, und so kannst du es wenigstens ein wenig
aufschieben, wenn du reingehst. Warum beeilst du dich so sehr damit,
dass all diese Leute früher sterben?“
Obwohl seine Worte
ziemlich viel Sinn ergaben, lag es wohl nun daran, dass er derjenige
gewesen war, der sie gesagt hatte, und so hatten die Leute noch mehr
Angst, hineinzugehen. Noch zögernd setzten sie ihren harten Kampf
mit den wilden Leichen fort. Einigen gelang es noch, sich trotz ihrer
abbauenden spirituellen Kräfte, sich zu wehren, aber Nie HuaiSang
konnte das nicht. Jeder wusste, dass er sowohl schüchtern als auch
talentlos war. Er war auch nicht ehrgeizig genug und arbeitete auch
nicht hart als Kultivierender. Er wurde von der plötzlichen
Veränderung der Ereignisse überrascht und hatte bislang nur keine
Verwundungen erlitten aufgrund seiner persönlichen Wachen.
Als er sah, dass die
Leichenanzahl immer größer und größer wurde, ohne dass ein Ende
in Sicht war, eilte er zum Eingang: „Geht ihr nun alle rein oder
nicht? Wenn ihr es nicht tut, dann gehe ich zuerst rein. Entschuldigt
meine Abwesenheit. Schnell, schnell – ihr alle, kommt rein!“
Bevor er überhaupt mit
dem Sprechen fertig war, führte Nie HuaiSang die Schüler der
QingheNie-Sekte mit schneller Entschlossenheit in die
Dämonenschlachthöhle. Er war wirklich so ängstlich wie ein Hund,
der seinen Besitzer verloren hatte, so ängstlich wie ein Fisch, der
dem Netz entkommen war. Andere waren sofort sprachlos schockiert von
seiner Geradlinigkeit.
An dieser Stelle rief
auch OuYang ZiZhen: „Papa, hör auf, sie zu töten! Vertrau mir,
komm rein! Wir waren doch erst für einige Zeit in dieser Höhle. Es
gibt keine Fallen im Inneren!“
Ein paar der anderen
Jungs riefen auch: „Ja, es gibt wirklich eine große Anordnung auf
dem Boden!“
Jin Ling, „Onkel, komm
rein!“
Jiang Cheng stürzte sich
auf Sandu, das auch seinen Schwertblick verloren hatte, und drohte:
„Du sollst die Klappe halten!“
Nach seinem Schrei
tropfte jedoch wieder Blut von Mund und Nase herunter. Jin Ling
stürzte die Stufen hinunter und begann, ihn zur Höhle zu ziehen.
In diesem Moment, nachdem
er seine spirituellen Kräfte verloren hatte und bisher den halben
Tag lang gekämpft hatte, war Jiang Cheng erschöpft und ließ sich
irgendwie erfolgreich von Jin Ling in die Höhle ziehen. Die
Kultivierenden der Jiang-Sekte beeilten sich, auch ihrem Anführer zu
folgen.
Gleichzeitig hallte Nie
HuaiSangs strahlende Stimme aus dem Inneren der leeren Höhle: „Ihr
alle, kommt rein! Es ist ziemlich groß im Inneren! Könnte ein
Senior reinkommen und helfen, die Anordnung am Boden zu reparieren?
Ich kann das nicht! Ich weiß nicht, wie man es repariert!“
Als sie seinen letzten
Satz hörten, tauchten drei große Worte in aller Köpfe auf:
„Taugenichts!“
Lan WangJis Finger ließen
die Fäden seines Guqin nicht los, als er aufblickte: „Onkel!“
Zunächst wollte Lan
QiRen nicht in die Höhle gehen. Er würde lieber hier draußen bis
zu seinem letzten Atemzug kämpfen. Doch im Moment war er nicht
allein. Er war für viele Lan-Sekten-Kultivierende und die
Jin-Sekten-Kultivierenden verantwortlich, die seinem Kommando
überlassen worden waren. Er war auch nicht die Hauptkraft der
Schlacht. Er wollte das Leben dieser Jünger nicht ignorieren und er
war bereit, jede Hoffnung zu erwecken, die es noch gab.
Er würdigte Lan WangJi
keines Blickes, hob sein Schwert hoch und befahl: „Geht mit
Vorsicht vor!“
Bis jetzt waren die
LanlingJin-Sekte, die GusuLan-Sekte, die QingheNie-Sekte und die
YunmengJiang-Sekte bereits im Inneren der Höhle. Mit ihnen an der
Spitze beschloss der Rest der Menschen sofort, den Kampf auch nicht
fortzusetzen. Wenn es wirklich ein Tier oder einen Dämon in der
Höhle geben würde, dann gab es nun vier hohe Säulen, die es für
sie blockierten. Sie beeilten sich auch, ins Innere zu kommen. Am
Ende waren die Leute der MolingSu-Sekte die einzigen, die sich noch
nicht bewegt hatten.
Wei WuXian, „Hä?
Sektenführer Su, gehst du nicht rein? Sehr gut, dann kannst du
draußen bleiben. Aber jeder von euch hat keine spirituellen Kräfte
mehr, oder? Wenn du hier draußen bleibst, wirst du dann nicht deinen
eigenen Tod finden? So ein lobenswerter Mut.“
Su She schenkte Wei
WuXian einen Seitenblick. Obwohl sein finsteres Gesicht
unkontrolliert zuckte, führte er nun auch seine Jünger hinein.
Die Dämonenschlachthöhle
beherbergte nun erfolgreich alle weit über tausend Menschen. Die
Atemzüge und das Flüstern dieser Menschen hallte endlos im
Hauptbereich der Höhle wider. Lan QiRen hatte sich Nie HuaiSang
genähert, sobald er eingetreten war, und damit begonnen, die
verschmierten Teile der Anordnung am Boden unter dessen eifrigen,
erwartungsvollen Blicken zu untersuchen.
Die Anordnung war in der
Tat ziemlich alt. Sofort schnitt er seine Handfläche auf und flickte
die Anordnung mit seinem Blut. Wen Ning bewachte die Treppe und warf
all die Leichen weg, die dem Eingang am nächsten waren. Sobald die
Anordnung repariert war, schien es, als ob die Leichen durch eine
unsichtbare Barriere blockiert worden wären, und sie vorübergehend
nicht reinkommen konnten.
Wei WuXian wartete, bis
Lan WangJi seine Guqin weglegt hatte, bevor er mit ihm in die Höhle
ging. Als die Kultivierenden, die gerade einen Seufzer der
Erleichterung ausgelassen hatten, die beiden die Treppe hinuntergehen
sahen, der eine in Schwarz und der andere in Weiß, machten sie sich
erneut Sorgen.
Niemand hatte erwartet,
dass dies der Fall sein würde. Sie hatten eigentlich hier sein
sollen, um an einer Belagerung des YiLing-Patriarchen teilzunehmen,
aber jetzt schien es, als wären sie diejenigen, die vor einer
Belagerung standen. Sie mussten sich sogar in der Höhle des
YiLing-Patriarchen verstecken, um noch ein wenig länger zu leben.
Lan QiRen beendete die Reparatur der Anordnung auf dem Boden und
stellte sich vor die Menge und blockierte den Weg der beiden. Er
hielt sein Kinn hoch und es schien ganz so, als wollte er sie fast
mit den Armen blockieren, nur um zu zeigen, dass er Wei WuXian bis
zum Ende seines Lebens bekämpfen würde, wenn dieser es wagte, auch
nur einen einzigen weiteren Schritt zu tun.
Lan WangJi, „...
Onkel.“
Das Gefühl der
Enttäuschung hatte Lan QiRens Herz noch nicht verlassen. Im Moment
wollte er immer noch nicht auf den Schüler schauen, auf den er einst
so stolz gewesen war, nachdem er ihn all die Jahre über gelehrt
hatte. Er sah Wei WuXian nur an und sprach kalt: „Was hast du vor?“
Wei WuXian setzte sich
auf die Treppe und sagte: „Nichts. Aber da du schon hier bist,
warum unterhalten wir uns nicht mal....“
Yi WeiChun rief: „Es
gibt nichts, worüber wir mit dir reden könnten!“
Wei WuXian, „Wie könnte
es denn nichts zu besprechen geben? Das kaufe ich euch nicht ab –
wollt ihr nicht wissen, wie ihr plötzlich eure spirituellen Kräfte
verloren habt? Ich spreche nun aus tiefstem Herzen, wenn ich euch
sage, das ich nicht so mächtig bin, dass ich euch allen etwas
angetan haben könnte, ohne dass es auch nur einer von euch bemerkt
hätte.“
Gerade als Yi WeiChun
spuckte, hörte er Nie HuaiSang antworten: „Ja, ich denke, das
ergibt viel Sinn.“
Alle starrten ihn an.
Wei WuXian fuhr fort:
„Ich schätze, bevor ihr zur Belagerung hierher gekommen seid,
hattet ihr nicht die Zeit, euch zu versammeln und irgendwo etwas
gemeinsam zu essen, also solltet ihr nicht unter irgendeinem Gift
stehen.“
Lan SiZhui, „Es ist
definitiv kein Gift. Ich habe noch nie von einem Gift gehört, das
einem seine spirituellen Kräfte so plötzlich auflösen kann. Sonst
würde es definitiv von vielen Anbauern zu Höchstpreisen verkauft
werden, und die Gerüchte würden für Aufruhr sorgen!“
Unter den Kultivierenden
hier gab es viele Mediziner. Sie begannen damit, ein paar Leute zu
untersuchen und fühlten nach ihren Puls. Die Leute fragten: „Was
ist es? Was ist es? Ist das Verschwinden unserer spirituellen Kräfte
vorübergehend oder dauerhaft?!“
Die Frage zog sofort die
Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich. Sie hatten nun nicht mehr
die Zeit, Vorkehrungen gegen Wei WuXian zu treffen. Denn wenn ihre
spirituellen Kräfte für immer und ewig verschwunden wären, dann
wären sie mehr oder weniger nutzlos. Das wäre definitiv ein
qualvolleres Ende, als hier zu sterben.
Die Mediziner
diskutierten kurz miteinander, bevor sie antworteten: „Ihr alle,
eure goldenen Kerne sind unversehrt. Kein Grund zur Sorge! Es sollte
vorübergehend sein.“
Als er hörte, dass es
sich um eine vorübergehende Situation handelte, ließ Jiang Cheng
schließlich einen geheimen Seufzer der Erleichterung aus. Er
übernahm das Taschentuch, das Jin Ling an ihn weitergegeben hatte,
und wischte sich das Blut auf seinem Gesicht ab. Er begann:
„Vorübergehend? Wie lange dauert das vorübergehend? Wann sollten
wir uns wieder erholt haben?“
Einer der Mediziner
antwortete, „.... leider... mindestens vier Stunden.“
Jiang Chengs Gesicht
wurde schrecklich dunkel, „Vier Stunden?!“
Alle blickten auf und
sahen auf die Menge der wilden Leichen, die den Eingang der Höhle
blockierten, so eng, dass nicht einmal ein Tropfen Wasser sie hätte
durchdringen können. Ihre Anzahl war nicht geringer als die der
lebenden Menschen, die heute hierher gekommen waren. Jeder von ihnen
starrte direkt in das Innere der Höhle, wo die Köpfe der Menschen
auf und ab wackelten und die Yang-Energie schwer wogte. Sie waren
nicht einmal bereit, einen halben Fuß weit wegzutreten, sich hin und
her zu winden, Schulter an Schulter drängelten sie, als ob sie jeden
Moment hereinkommen würden. Der Geruch nach verrottendem Fleisch war
mehr als überwältigend.
Ihre spirituellen Kräfte
würden sich erst in mindestens vier Stunden erholen? Sie wussten
nicht einmal, ob die fragmentierte Anordnung auf dem Boden, die
jahrelang unbenutzt und vorübergehend fehlerhaft gewesen war, vier
Stunden lang standhalten konnte!
Außerdem befand sich der
YiLing-Patriarch im selben Raum wie sie. Obwohl sie nicht wussten,
warum er noch keinen Zug gemacht hatte, wollte er sie vielleicht wie
eine Katze, die Mäuse fängt, vernichten, nachdem er damit fertig
war, sie zu erschrecken und mit ihnen zu spielen. Trotzdem wusste
niemand, ob Wei WuXian plötzlich ausflippen würde.
Ihre Blicke landeten
wieder auf Wei WuXian. Wei WuXian, „Ich habe bereits gesagt, dass
es keinen Grund für euch gibt, mich anzusehen. In dieser Höhle gibt
es nur zwei Gruppen von Menschen, deren spirituelle Kräfte erhalten
geblieben sind. HanGuang-Jun und ich bilden eine Gruppe, die Kinder,
die vor einigen Tagen auf den Berg gebracht wurden, die andere. Es
wäre nicht falsch, wenn ich den Rest der Leute hier als absolut
machtlos bezeichne, oder? Wenn ich euch etwas antun wollte, würden
die Kinder mich dann nicht aufhalten können?“
Su She schnaubte, „Hör
auf mit dem Unsinn. Wenn du uns töten willst, dann sei es so. Jeder,
der dabei nur ein einziges Geräusch macht, verdient es nicht, als
Held bezeichnet zu werden. Erwarte auch nicht, dass jemand um dein
Mitleid bettelt.“
Nach seinen Worten
begannen viele der Menschen zu zögern. Von den tausend Menschen
waren nur etwa zwanzig hier, um sich zu rächen. Der Rest hatte nur
gedankenlos daran teilgenommen, als sie hörten, dass es eine
Belagerung geben würde. Man könnte sagen, dass sie nur
Außenstehende der Gerechtigkeit waren, nur hier wegen ihres eigenen
Sinnes für die Moral. Diese wollten nur dem Fluss der Hauptgruppen
in der Führung folgen. Zudem wäre das Töten von ein paar von Wei
WuXians Leichenhunden eine sehr prestigeträchtige Sache. Aber wenn
sie wirklich aufgefordert würden, den Preis dafür zu zahlen, würden
nicht viele Menschen bei dem mitmachen wollen.
Wei WuXian blickte ihn
an: „Es tut mir leid, aber ich muss fragen - wer bist du?“
Er hatte bereits nach Su
Shes Namen gefragt, als sie vor der Höhle gewesen waren, aber jetzt
fragte er wieder danach. Es war eindeutig Absicht. Die Venen sprangen
leicht von Su Shes Stirn ab. Er war im Begriff zu sprechen, als Lan
JingYi mit lauter Stimme dazwischenfuhr, „Und nun? Es ist kein
Gift, was dann?“
Wei WuXian vergaß Su She
sofort: „Und die Menschen würden ihre spirituellen Kräfte auch
nicht ohne Grund verlieren. Es muss eine Methode und einen bestimmten
Moment gegeben haben. Bevor ihr den Grabhügel hinaufgegangen seid
oder auf dem Weg hierher ward, muss es entweder etwas gegeben haben,
mit dem ihr alle Kontakt aufgenommen habt oder etwas, das ihr alle
getan habt. Die Kinder wurden vor ein paar Tagen hierher gebracht,
also liegen sie außerhalb dieses Zeitabschnitts, während
HanGuang-Jun und ich nicht den gleichen Bergpfad wie ihr benutzten,
also fällt der Ort auch weg. Möchte jemand darüber nachdenken, was
ihr alle getan habt?“
Inmitten der
ohrenbetäubenden Stille antwortete jemand hilflos: „Was wir alle
getan haben? Als wir den Grabhügel hinaufgingen, tranken wir alle
Wasser, nicht wahr? Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß es
nicht.“
Wer würde auf Wei WuXian
so unangebracht reagieren, alles tun, was er sagte, und darüber
nachdenken, was auch immer er gesagt hatte? Der Einzige war dieser
‚Kopfschüttler‘, Nie HuaiSang. Jemand konnte nicht anders, als
das zu kommentieren: „Niemand hat auf dem Weg zum Berg etwas
getrunken! Wer würde es wagen, das Wasser auf einem Berg voller
Leichen zu trinken?“
Nie HuaiSang riet noch
einmal: „Haben wir dann alle den Nebel in den Bergen eingeatmet?“
Wenn es wirklich etwas
Seltsames an dem Nebel hier gäbe, dann wäre es eine plausible
Erklärung. Jemand stimmte sofort zu: „Das ist möglich!“
Doch Jin Ling antwortete
sofort: „Das ist unmöglich. Auf dem Gipfel der Berge ist der Nebel
viel dichter, aber wir waren hier oben seit zwei ganzen Tagen
gefesselt. Unsere spirituellen Kräfte sind noch da, nicht wahr?“
Su She schien es, als
könnte er es wirklich nicht mehr ertragen, „Genug, nicht wahr?
Also hast du wirklich angefangen, mit ihm zu reden. Macht es Spaß,
sich von ihm so mitreißen zu lassen? Er....“
Plötzlich änderte sich
sein Ausdruck drastisch. Seine Worte hörten in der Mitte des Satzes
auf. Wei WuXian, „Nur zu. Warum machst du nicht weiter?“
Alle Schüler der
MolingSu-Sekte standen auf: „Sektenführer!“
„Sektenführer, was ist
los?“
Su She schüttelte den
Schüler ab, der gekommen war, um ihm zu helfen. Er hob seinen Arm.
Zuerst zeigte er auf Wei WuXian, dann direkt auf Lan WangJi. Der
Schüler, der ihm am nächsten stand, kochte: „Wei WuXian, welchen
Fluch hast du diesmal ausgeführt?!“
Lan SiZhui, „Es ist
kein Fluch! Es ist.... Es ist...“
Lan WangJi, der bislang
ganz anständig und gerade an der Seite gesessen hatte, legte die
Finger seiner rechten Hand über die Guqin und stoppte die
Schwingungen der sieben Saiten. Die Jünger, die vor lauter Aufregung
die ganze Zeit geplappert hatten, verwandelten sich plötzlich in
Enten, deren Hälse ergriffen worden waren und deren Geräusche zu
einem abrupten Stillstand kamen.
Alle Anwesenden der
Lan-Sekte kommentierten schweigend - das war der Schweigefluch der
GusuLan-Sekte.....
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