Kapitel
77: Nachtflug – Teil Zwei
Bösartigkeit
maximieren
In der Vergangenheit
hatten ihn immer nur andere gefragt, was sie nun tun sollten. Nun
aber war er derjenige, der andere fragte, was er tun sollte, und
niemand konnte ihm eine Antwort geben.
Plötzlich fühlte Wei
WuXian einen schwachen Schmerz an der Seite seines Halses, als wäre
er von einer scharfen Nadel gestochen worden. Er fühlte, wie sein
Körper überall taub wurde. Nachdem er durch seine momentane
Verwirrtheit unvorsichtig geworden war, erkannte er erst nach wenigen
Augenblicken, was gerade geschah. Ungewollt war er bereits auf dem
Steinbett zusammengebrochen. Zuerst konnte er seinen Arm noch heben,
aber bald fiel sogar sein Arm bewegungslos auf das Bett zurück. Er
konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen.
Mit roten Augen zog Wen
Qing langsam ihre rechte Hand zurück, „....es tut mir leid.“
Sie hätte mit ihrer
Geschwindigkeit normalerweise keinen Angriff auf Wei WuXian landen
können, aber Wei WuXian war überhaupt nicht in Alarmbereitschaft
gewesen. Mit dem verblassenden Schmerz fühlte Wei WuXian, dass sich
auch sein Geist ein wenig beruhigte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und
ab, ehe er seinen Mund öffnen konnte: „Was machst du da?“
Wen Qing und Wen Ning
tauschten einen Blick aus. Sie standen unisono vor ihm und verbeugten
sich in ernster Haltung vor ihm. Als er das sah, stieg ein ungutes
Gefühl der Vorahnung in Wei WuXian auf: „Was habt ihr vor? Was
genau wollt ihr machen?“
Wen Qing, „Als du
aufgewacht bist, waren wir gerade dabei, darüber zu diskutieren. Ich
glaube, wir sind zu einem Entschluss gekommen.“
Wei WuXian, „Über was
habt ihr diskutiert? Hört auf, Unsinn zu reden. Nimm die Nadel
heraus - lasst mich gehen!“
Wen Ning stand langsam
vom Boden auf. Sein Kopf hing noch tief nach unten gebeugt,
„Schwester und ich sind zu einem Entschluss gekommen. Wir gehen zum
Karpfenturm, um uns zu ergeben.“
„Euch ergeben?“
Wei WuXian war
schockiert: „Wie habt ihr euch das vorgestellt? Euch entschuldigen?
Euch ausliefern?“
Wen Qing rieb sich die
Augen, ihr Ausdruck schien ruhig zu sein: „Ja, mehr oder weniger.
In den Tagen, während du bewusstlos warst, hat die LanlingJin-Sekte
einige Leute hergeschickt, um ein paar Worte an den Grabhügel
gerichtet zu sagen.“
Wei WuXian, „Was für
Worte? Lass dir nicht alles aus der Nase herausziehen! Sag es
deutlich! Beende deine Erklärung!“
Wen Qing, „Die
LanlingJin-Sekte wollte, dass du ihnen eine Antwort gibst. Die
Antwort wäre, ihnen die beiden Führer der verbleibenden
Wen-Sekten-Mitglieder, insbesondere den Geistergeneral, zu
übergeben.“
„…“
Wei WuXian, „Ich warne
euch. Nimm die Nadel sofort aus mir heraus.“
Wen Qing fuhr fort: „Die
Führer der verbleibenden Mitglieder der Wen-Sekte - das sind wir.
Laut ihrer Aussage, wenn wir beide uns ergeben, dann würde das bei
diesem Vorfall vorübergehend auch berücksichtigt werden. Wir werden
dich noch ein paar Tage auf dem Bett liegen lassen. Die Wirkung der
Nadel würde in etwa drei Tagen nachlassen. Ich habe bereits mit dem
Vierten Onkel darüber gesprochen. Er wird auf dich aufpassen und
dich rauslassen, falls innerhalb dieser drei Tage ein Notfall
eintritt.“
Wei WuXian wütete: „Du
kannst verdammt nochmal die Klappe halten, verdammt! Es herrscht
bereits genug Chaos, so wie es im Moment läuft! Ihr zwei könnt
aufhören, noch mehr Ärger auf meine Platte zu bringen. Euch
ausliefern am Arsch! Habe ich euch gesagt, ihr sollt das tun? Nimm
die Nadel raus!“
Wen Qing und Wen Ning
standen nur still da, die Arme hingen schlaff herunter. Sie schwiegen
gemeinsam. Wei WuXian hatte keine Kraft in seinem Körper. Seine
Kämpfe nützten nichts, und auch niemand hörte hier auf ihn. Auf
einmal schien auch in seinem Herzen keine Kraft mehr zu sein.
Er konnte weder schreien
noch sich bewegen und raunte: „Warum geht ihr zum Karpfenturm? Ich
war doch nicht diejenige, die ihn mit 'Hundert Löchern' verflucht
hat....“
Wen Qing, „Aber sie
haben entschieden, dass du es warst.“
Wei WuXian versuchte sein
Bestes, um über Möglichkeiten nachzudenken, wie er damit umgehen
sollte. Plötzlich dachte er an etwas: „Dann finde ich die echte
Person, die den Fluch gesetzt hat! Jin ZiXun ist definitiv zu
Experten für Flüche gegangen. Der häufigste Weg, mit diesen
Flüchen umzugehen, ist, sie zurückzuschlagen, die Effekte auf
denjenigen zurückprallen zu lassen, der den Fluch gelegt hat.
Selbst, wenn man nicht die gesamte Kraft zurückwerfen kann, dann
zumindest einen großen Teil davon. Wir könnten einfach nach
jemandem suchen, der die gleichen Fluchzeichen auf sich hat!“
Wen Qing, „Das ergibt
keinen Sinn.“
Wei WuXian, „Warum
nicht?“
Wen Qing, „Es gibt so
viele Menschen - wo sollen wir da anfangen, zu suchen? Einen
Kontrollpunkt in jeder Straße in jeder Stadt einrichten und jeden
dazu bringen, sich auszuziehen, damit wir nachsehen können?“
Wei WuXian protestierte:
„Warum nicht?“
Wen Qing, „Wer wäre
schon bereit, diese Kontrollpunkte für dich einzurichten? Und wie
lange willst du suchen? Wir könnten denjenigen vielleicht nach acht
oder zehn Jahren finden, aber wären diese Leute bereit so lange zu
warten?“
Wei WuXian, „Aber es
gibt doch keine abgeprallten Fluchspuren auf mir!“
Wen Qing, „Haben sie
dich während des Vorfalls danach gefragt?“
Wei WuXian, „Nein.“
Wen Qing, „Das ist
richtig. Sie haben nicht gefragt. Sie bereiteten sich geradewegs
darauf vor, dich zu töten. Verstehst du jetzt? Sie brauchen keine
Beweise. Sie brauchen dich auch nicht, um die Wahrheit zu finden. Ob
du Fluchspuren an deinem Körper hast oder nicht, spielt für sie
keine Rolle. Du bist der YiLing-Patriarch, der König des dämonischen
Pfades. Du bist auf dunkle Flüche spezialisiert, so dass es nicht
einmal seltsam wäre, wenn du keine Fluchspuren auf dir hättest.
Außerdem hättest du es nicht selbst tun müssen. Du hättest
Wen-Hunde, deine Sklaven, dazu bringen können, es für dich zu tun.
Du bist es für sie, egal was passiert. Du wirst es nicht leugnen
können.“
Wei WuXian fluchte.
Wen Qing wartete
stillschweigend darauf, dass er mit dem Fluchen aufhörte: „Und so,
siehst du? Es hat keinen Zweck. So wie die Dinge liegen, ist die
Identität desjenigen, der den Fluch von 'Hundert Löchern' gelegt
hat, nicht mehr wichtig. Was wichtig ist, ist die Tatsache, dass
Hunderte von Menschen auf dem Qiongqi Pfad und... Jin ZiXuan
tatsächlich von A-Ning getötet worden sind.“
Wei WuXian, „.... Aber,
aber....“
Aber was? Nicht einmal er
selbst wusste, was er an dieses 'Aber' hängen sollte. Er konnte sich
keinen Grund benennen, oder eine Ausrede benutzen.
Er sprach: „.... Aber
selbst dann sollte ich derjenige sein, der geht. Ich war derjenige,
der die Leichen dazu gebracht hat, die Menschen zu töten. Warum
sollte sich das Messer anstelle des Mörders ergeben?“
Wen Qing, „Ist es nicht
besser so?“
Wei WuXian, „Besser als
was?!“
Wen Qings Stimme war
ruhig: „Wei Ying, wir beide wissen es. Wen Ning ist das Messer, ein
Messer, das ihnen Angst macht, aber auch ein Messer, das sie als
Vorwand benutzen, um dich anzugreifen. Wenn wir gehen, und du kein
Messer mehr hast, dann haben sie keine Ausrede mehr. Diese ganze
Sache könnte endlich vorbei sein.“
Wei WuXian starrte sie
schockiert an. Er ließ plötzlich ein bedeutungsloses Gebrüll
heraus.
Er verstand schließlich,
warum Jiang Cheng immer extreme Wut auf bestimmte Dinge, die er getan
hatte, äußerte, warum er immer sagte, dass er einen Heldenkomplex
hatte, warum er immer so aussah, als würde er ihn verprügeln
wollen. Zu sehen, wie andere die Verantwortung auf ihre Schultern
nahmen, egal was passierte; das sie darauf bestanden, alle negativen
Folgen zu tragen, und man selbst unfähig war, sie überhaupt zu
stoppen - dieses Gefühl war das Abscheulichste!
Wei WuXian, „Versteht
ihr beide es oder nicht? Indem ihr euch dem Karpfenturm ausliefern
wollt - was würde dann wohl mit euch beiden passieren, besonders mit
Wen Ning? Bist du denn nicht diejenige, die ihren Bruder über alles
liebt?“
Wen Qing, „Was auch
immer mit ihm passiert, es wäre das, was er verdient hat.“
Nein. Wen Ning hatte dies
alles hier überhaupt nicht verdient. Er wäre derjenige, der es
verdient hätte.
Wen Qing, „Wie auch
immer, wir hätten schon vor langer Zeit sterben sollen. Diese
letzten Tage waren für uns ein Glücksfall.“
Wen Ning nickte.
Er war schon immer so,
nickte, was auch immer andere sagten, stimmte zu und erhob nie
Einwände. Wei WuXian hatte noch nie so sehr sein Nicken und seine
Fügsamkeit verabscheut. Wen Qing hockte am Bett. Als sie auf sein
Gesicht starrte, streckte sie plötzlich die Hand aus und schnippte
mit ihrem Finger gegen Wei WuXians Stirn.
Sie hatte viel Kraft in
ihren Schnipser gesteckt. Wei WuXian runzelte die Stirn wegen dem
Schmerz. Wen Qing schien bei diesem Anblick viel besser gelaunt zu
sein: „Ich habe dir gesagt, was ich zu sagen hatte, dir Dinge
erklärt, die ich zu erklären hatte, und Abschied genommen. Also
dann, auf Wiedersehen.“
Wei WuXian, „Nein....“
Wen Qing unterbrach ihn:
„Ich habe noch nie solche Dinge zuvor zu dir gesagt. Aber jetzt, wo
es soweit ist, gibt es in der Tat ein paar Dinge, die ich sagen
sollte. Ich werde sonst wirklich keine Chance mehr haben, sie später
zu sagen.“
Wei WuXian flüsterte,
„.... Halt die Klappe... Lass mich gehen....“
Wen Qing, „Es tut mir
leid. Und, danke.“
Wei WuXian lag wirklich
ganze drei Tage da.
Die Berechnungen von Wen
Qing waren in der Tat korrekt. Drei Tage. Nicht einen Moment früher,
nicht einen Moment später. Er konnte sich gleich nach Ablauf dieser
drei Tage wieder bewegen.
Zuerst seine Finger, dann
seine Gliedmaßen, dann seinen Hals.... Als das fast gefrorene Blut
wieder in ihm zu fließen begann, sprang Wei WuXian vom Steinbett auf
und eilte aus der Dämonenschlachthöhle heraus.
Die Leute der Wen-Sekte
schienen innerhalb dieser drei Tage auch keine Augen zu gemacht zu
haben. Sie saßen still in der großen Hütte, um die Tische herum.
Wei WuXian schenkte ihnen nicht einmal einen einzigen Blick. Er
sprintete so schnell er konnte und stürzte den Grabhügel hinunter.
Nachdem er den Berg
hinuntergegangen war, stand er umgeben inmitten des Unterholzes und
holte tief Luft. Vorn über gebeugt, stützte er seine Hände lange
Zeit auf den Knien ab, bevor er sich wieder gerade aufrichtete. Doch
als er die wilden Gräser betrachtete, die auf dem Bergpfad
wucherten, wusste er nicht, wohin er gehen sollte.
Der Grabhügel - er war
gerade von dort heruntergegangen.
Lotus Pier - er war seit
über einem Jahr nicht mehr da gewesen.
Karpfenturm? Drei Tage
waren bereits vergangen. Wenn er jetzt ging, war es wahrscheinlich,
dass Wen Qings Leiche und Wen Nings Asche die einzigen Dinge wären,
die von ihnen noch übrig waren.
Er stand wie gelähmt da.
Plötzlich spürte er, dass die Welt keinen Platz mehr für ihn
hatte, egal, wie groß sie war. Er wusste auch nicht, was er tun
sollte.
Aus heiterem Himmel
tauchte ein erschreckender Gedanke aus den Tiefen seines Herzens auf.
Innerhalb der drei Tage hatte er diesen Gedanken immer wieder
geleugnet, aber er tauchte immer wieder auf, unfähig, fortgewischt
zu werden.
Wen Qing und Wen Ning
waren von sich selbst aus gegangen. Irgendwo, tief in sich drin,
erleichterte ihn das. Aus diesem Grund hatte man ihm das Treffen von
Entscheidungen erspart. Sie hatten bereits die Wahl für ihn
getroffen und sich mit den Schwierigkeiten auseinandergesetzt.
Wei WuXian hob die Hand
und schlug sich auf das Gesicht. Mit leiser Stimme schimpfte er: „Was
denkst du da nur?!“
Seine Wange brannte. Er
war endlich in der Lage, den erschreckenden Gedanken zu unterdrücken.
Stattdessen dachte er sich, dass er auf jeden Fall die Asche der
Geschwister Wen zurückbringen musste.
Und so lief er am Ende
doch noch in Richtung Karpfenturm.
Es war nicht schwer für
Wei WuXian, sich an einen Ort zu schleichen, wenn er es wollte. Es
war sehr ruhig am Karpfenturm. Überraschenderweise gab es keine
schweren Verteidigungslinien, die er hier eigentlich erwartet hatte.
Obwohl er überall suchte fand er nichts, was er für verdächtig
hielt.
Wie ein Geist wanderte er
durch die Paläste im Karpfenturm. Er versteckte sich, wenn Menschen
seinen Weg kreuzten; er ging weiter, wenn niemand zu sehen war. Er
wusste auch nicht, wonach er suchte oder wie man danach suchte. Als
er jedoch die Schreie eines Säuglings vernahm, erstarrten seine
Schritte plötzlich. In ihm war eine Stimme, die seinen Körper dazu
drängte, in die Richtung zu gehen, aus der der Klang kam.
Die Schreie kamen aus
einem großen, unbeleuchteten Palast.
Wei WuXian schlich sich
zu den Haupttüren, ohne Lärm zu machen. Er blickte durch die zarten
Schnitzereien der Holzfenster hinein.
Ein schwarzer Sarg stand
in der Halle. Vor dem Sarg knieten zwei Frauen in Weiß.
Die Frau auf der linken
Seite hatte eine etwas kleinere Statur. Es war eine Silhouette, die
er niemals verwechseln würde. Während seiner Kindheit war er von
dieser Figur viele, viele Male getragen worden.
Es war Jiang YanLi.
Jiang YanLi kniete auf
einem Futon und starrte ausdruckslos auf den Sarg, der so schwarz
war, dass er zu leuchten schien. Das Kind lag in ihren Armen und
weinte immer noch leise.
Die Frau zu ihrer rechten
Seite flüsterte, „.... A-Li, du kannst aufhören, hier zu sitzen.
Mach eine Pause.“
Jiang YanLi schüttelte
den Kopf. Herrin Jin seufzte.
Sie war eine Frau, die
eine ähnliche Persönlichkeit hatte wie ihre beste Freundin, Herrin
Yu. Sie war extrem durchsetzungsfähig, ihre Stimme klang immer hoch.
Doch die wenigen Worte, die sie gerade gesprochen hatte, klangen so
leise und so rau, dass sie den Anschein erweckte, drastisch gealtert
zu sein.
Herrin Jin bestand
darauf: „Ich werde hier bleiben. Du solltest nicht mehr sitzen. Du
wirst nicht mehr lange durchhalten können.“
Jiang YanLi sprach leise:
„Mutter, es geht mir gut. Ich würde gerne noch eine Weile sitzen
bleiben.“
Einen Moment später
stand Herrin Jin langsam auf: „Du wirst nicht durchhalten können,
wenn du so weitermachst. Ich hole dir etwas zu essen.“
Sie hatte wahrscheinlich
auch schon lange hier gesessen. Die Beine taub, schwankte ihr Körper
leicht, während sie aufstand, aber sie beruhigte sich schnell. Sie
drehte sich um. Ihr Erscheinungsbild hatte sich in der Tat etwas
verhärtet.
In den Erinnerungen von
Wei WuXian war Herrin Jin immer energisch und entschlossen gewesen.
Sie trug immer einen arroganten Ausdruck auf ihrem Gesicht, umgeben
von goldener Pracht. Sie hatte ihre Jugend ziemlich gut erhalten und
wirkte ziemlich jung, wahrscheinlich sogar noch in der Lage, für
zwanzig gehalten zu werden. Aber gerade jetzt, vor Wei WuXian, stand
eine Frau mittleren Alters, weiß gekleidet, ihre Schläfen
angegraut. Sie trug kein Make-up. Inmitten ihres aschgrauen Gesichts
befanden sich ein Paar rissige Lippen.
Als sie sich näherte und
kurz davor war, herauszukommen, versteckte sich Wei WuXian sofort.
Mit einem leichten Abstoßen seines Fußes sprang er auf das Dach des
Flurs, gerade als Herrin Jin hinausging. Sie schloss die Tür hinter
sich. Mit einem kalten Gesichtsausdruck atmete sie tief durch und
passte die Muskeln ihrem nun aufgelegten Gesichtsausdruck an, als
wollte sie ihren gewohnten stattlichen Ausdruck wieder aufleben
lassen.
Doch noch bevor sie zu
Ende ausgeatmet hatte, hatten sich ihre Augen wieder gerötet. Im
Raum, vor Jiang YanLi, hatte sie nie ein Zeichen von Trauer gezeigt.
Als sie jedoch heraustrat, verzogen sich ihre Lippenwinkel sofort
nach unten. Ihre Gesichtszüge schienen zu zerknittern, und sie fing
an zu zittern.
Es war das zweite Mal,
dass Wei WuXian einen so unschönen, aber verzweifelten Ausdruck auf
dem Gesicht einer Frau sah.
Er wollte einen solchen
Ausdruck wirklich nicht mehr sehen.
Unbewusst drückte Wei
WuXian seine Fäuste zusammen, aber seine Knöchel gaben ein
knackendes Geräusch von sich. Als Herrin Jin das hörte, erstarrte
sie: „Wer ist da?!“
Gerade als sie
aufblickte, sah sie Wei WuXian, der sich hinter einer der
Dachdekorationen versteckt hatte. Herrin Jin hatte eine gute Sicht.
Sie erkannte die Gesichtszüge in der Dunkelheit, und sie drehte sich
sofort herum. Sie schrie mit schriller Stimme: „An alle! Kommt alle
her! Wei Ying - er ist hier! Er schleicht sich durch den
Karpfenturm!“
Wei WuXian sprang vom
Dach. Plötzlich hörte er eine Reihe von beschleunigten Schritten.
Jemand eilte aus dem Palast. Er konnte nur weglaufen.
Zu diesem Zeitpunkt wagte
er es nicht, Jiang YanLi anzusehen, nicht einmal für einen einzigen
Augenblick und nicht einmal für ein einziges Wort!
Nachdem er aus dem
Karpfenturm geflohen war und die Stadt Lanling verlassen hatte,
verlor Wei WuXian wieder einmal die Orientierung. Er streift
desorientiert herum, sein Verstand war getrübt. Er hatte nicht ein
einziges Mal Rast gemacht. Er wusste nicht, wie viele Städte er
passiert hatte, als er plötzlich sah, wie sich eine Gruppe von
Menschen um ein Stadttor drängten. Sie führten eine hitzige,
leidenschaftliche Diskussion.
Wei WuXian wollte diese
Menschen ignorieren, aber als er vorbeikam, hörte er zufällig die
Worte 'Geistergeneral'. Er hielt sofort in seinem Schritt inne und
konzentrierte sich auf das Gespräch.
„Der Geistergeneral war
wirklich heftig.... Er sagte, er sei da, um sich zu ergeben, aber
dann flippte er plötzlich aus. Er hat wieder gewütet, diesmal im
Karpfenturm!“
„Gut, dass ich an
diesem Tag nicht mitgegangen bin!“
„Er war ein Hund, der
von Wei WuXian ausgebildet wurde. Kein Wunder, dass er jeden auf
seinem Weg beißt.“
„Obwohl, Wei Ying,
hätte ihn nicht machen sollen, wenn er ihn nicht kontrollieren kann.
Er hat einen verrückten Hund erschaffen und er hat ihn nicht
angeleint. Früher oder später wird er mit einer Qi-Abweichung
konfrontiert werden. So wie die Dinge derzeit laufen, bezweifle ich,
dass der Tag noch allzu fern sein wird.“
Wei WuXian hörte leise
zu. Die Muskeln auf seinem Gesicht und seinen Fingern zuckten leicht.
„Wie unglücklich für
die LanlingJin-Sekte.“
„Es war doch noch viel
schlimmer für die GusuLan-Sekte! Über die Hälfte der etwa dreißig
Menschen stammten aus ihrer Sekte. Sie waren eindeutig nur da
gewesen, um die Dinge dort zu beruhigen.“
„Gut, dass der
Geistergeneral endlich verbrannt wurde. Ansonsten würde es schon
ausreichen, nur daran zu denken, wie so etwas da draußen herumläuft
und ab und zu ausflippt, um mir Alpträume zu verschaffen!“
Jemand spuckte: „Das
ist das Ende, das alle Wen-Hunde treffen sollte!“
„Der Geistergeneral
wurde fast zu Staub verbrannt. Diesmal sollte selbst Wei WuXian
wissen, was los ist, was? Ich habe gehört, dass viele der
Sektenführer, die zur Sondertagung gehen, bereits zugesagt haben.
Wie fantastisch!“
Je länger Wei WuXian
lauschte, desto kälter wurde sein Ausdruck. Er hätte es schon vor
langer Zeit verstehen sollen. Egal, was er tat, kein einziges gutes
Wort würde aus dem Mund dieser Leute kommen. Wenn er gewann,
fürchteten andere sich; wenn er verlor, freuten andere sich.
„Er hat diesen dunklen
Weg auf irgendeine Art und Weise kultiviert, warum hat man ihn all
die Jahre damit weitermachen lassen? Wofür genau war das gut?“
Doch je kälter seine
Augen wurden, desto heller brannte das wütende Feuer in seinem
Herzen.
Einer aus der Gruppe
freute sich, als hätte er einen großen Beitrag dazu geleistet: „Ja,
fantastisch! Es wäre in Ordnung, wenn er sich von nun an gehorsam
auf diesen verdammten Berg drängen lassen würde. Wenn er es dann
wagt, sein Gesicht wieder hier draußen zu zeigen... Ha, sobald er
sich das wagt, werde ich....“
„Was wirst du tun?“
Die Menschen, die
inmitten ihres erhitzten Gespräches waren, hielten unisono inne. Sie
drehten sich alle herum. Sie sahen einen blassen, schwarz gekleideten
jungen Mann hinter sich stehen, zwei dunkle Kreise unter seinen
Augen, seine Stimme kalt: „Wenn er es dann wagt, herauszukommen,
was wirst du dann tun?“
Diejenigen mit scharfen
Augen sahen die Flöte mit der leuchtend roten Quaste an der Taille
des Mannes hängen. Sie sprangen sofort auf und riefen: „Chenqing,
es ist Chenqing!“
Der YiLing-Patriarch, Wei
WuXian, war wirklich herausgekommen!
Innerhalb kürzester Zeit
hatte sich ein großer Kreis um sie gebildet, in dessen Zentrum Wei
WuXian stand. Die Menschen waren überall hin geflohen. Als Wei
WuXian ein schrilles Pfeifen ausstieß, spürten die Menschen
plötzlich, wie ihre Körper zusammensackten. Sie fielen alle auf den
Boden. Als sie sich wackelig herumdrehten, erkannten sie, dass jeder
von ihnen, einschließlich sie selbst, verschiedene dunkle, blutige
Geister auf ihren Rücken sitzen hatten!
Unter den verstreuten,
festgesetzten Menschen ging Wei WuXian geduldig auf und ab und
sprach: „Huh, was ist los? Wart ihr gerade nicht alle noch
Kultivierende, die hinter meinem Rücken über mich gesprochen habt?
Warum könnt ihr jetzt, wo ihr vor mir steht, nichts anderes tun, als
auf dem Boden zu liegen?“
Er positionierte sich
neben die Person, deren Worte am Härtesten gewesen waren, und
stellte seinen Fuß auf dem Gesicht der Person ab und lachte:
„Sprich. Warum redest du nicht mehr? Herr Held, was willst du mit
mir machen?“
Der Nasenknochen der
Person wurde durch die Krafteinwirkung gebrochen, er schrie und
blutete unkontrollierbar. Viele Kultivierende beobachteten alles von
oben vom Stadttor aus. Sie wollten helfen, aber sie wagten es nicht,
sich dieser Szene zu nähern.
Einer von ihnen schrie
aus der Ferne: „Wei.... Wei Ying! Wenn du wirklich so stark bist,
warum gehst du dann nicht hin und findest diese Sektenführer, die an
der Tagung teilnehmen? Was beweist du denn damit, wenn du gegen uns
niedere Kultivierende, die keine Macht haben, vorgehst?“
Wei WuXian gab noch einen
kurzen Pfiff von sich. Der Kultivierende, der geschrien hatte,
fühlte, wie eine Hand ihn plötzlich herunterzog. Er fiel vom
Stadttor, brach sich beide Beine und begann zu schreien.
Inmitten des Gejammers
änderte sich der Ausdruck von Wei WuXian überhaupt nicht:
„Kultivierende auf niedriger Ebene? Muss ich dich tolerieren, nur
weil du ein niederer Kultivierender bist? Wenn du es wagst, diese
Dinge zu sagen, musst du es auch wagen, die Konsequenzen dafür zu
tragen. Wenn du wusstest, dass du ein unbedeutender, schmutziger
Dreckskerl bist, warum wusstest du dann nicht, dass du erst
nachdenken musst, bevor du sprichst?!“
Alle wurden so blass wie
Asche und gaben keinen einzigen Ton mehr von sich. Einen Moment
später, als Wei WuXian kein Geschwätz mehr hörte, fuhr er
zufrieden fort: „Ja, das ist die richtige Einstellung!“
Gerade als er fertig war,
trat er wieder zu und schlug der Person, die die erfundenen
Geschichten am meisten verbreitet hatte, den halben Mund voller Zähne
aus!
Das Blut spritzte über
den ganzen Boden. Alle erschauderten, während sie zusahen, wie die
Person bereits vor Schmerz ohnmächtig geworden war. Wei WuXian
blickte nach unten, drückte seinen Fuß auf den Boden und hinterließ
ein paar blutige Fußspuren.
Er dachte eine Weile
nach, bevor er wieder sprach, seine Stimme gefühllos: „Aber ihr
Abschaum hattet Recht mit einer Sache. Es hat nicht wirklich viel
Sinn, Zeit mit euch Leuten zu verschwenden. Du wolltest, dass ich
diese größeren Sekten finde? Gut. Ich werde mich gleich auf den Weg
zu ihnen machen, um ein paar Dinge mit ihnen zu klären.“
Er blickte auf und sah
eine große Ankündigung über dem Stadttor hängen. Die Menge hatte
sich um diese Ankündigung herum versammelt gehabt und sich deswegen
unterhalten.
Oberhalb dieser
Ankündigung standen die Worte 'Eidverkündung'. Der Inhalt erzählte,
dass die vier führenden Sekten - die LanlingJin-Sekte, die
QingheNie-Sekte, die YunmengJiang-Sekte und die GusuLan-Sekte - die
Asche der Überreste der Wen-Sekte auf den Ruinen der verlassenen
Residenz der QishanWen-Sekte – in der Nachtlosen Stadt - verstreuen
würden. Gleichzeitig würden sie gemeinsam einen Eid ablegen, dass
sie sich für immer dem YiLing-Patriarchen widersetzen würden, der
den Grabhügel besetzt hatte.
Eine
'Eidverkündung' in der Nachtlosen Stadt?
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