Kapitel
76: Nachtflug – Teil Eins
Wei
WuXian, lebenslanger Anti-Fan von Jin ZiXuan, sagt:
„Ich
werde Jin ZiXuan ein Jahr lang nicht ärgern!“
Im Inneren des größten
Schatz-Pavillons in der Stadt Lanling.
In den übersichtlichen
Schatzkammern befanden sich unzählige spirituelle Jaden und Waffen
von höchster Qualität. Viele Kultivierende gingen durch die
einzelnen Reihen und verglichen die Preise und die Handwerkskunst der
einzelnen Stücke miteinander. Diejenigen, die in ihrer Freizeit
herkamen, blieben auch oft noch für eine Weile, um zu Plaudern.
Einer von ihnen fragte:
„Der Chefkultivator? Scheint so, als würden die großen Sekten
schon seit einiger Zeit darüber diskutieren. Sind sie schon zu einem
Ergebnis gekommen?“
„Was gibt es da denn
überhaupt noch zu diskutieren? Wir können ja schließlich nicht
immer wie ein Haufen loser Sand sein, denn eine Gruppe braucht immer
einen Führer, oder etwa nicht? Einen Kultivierenden dafür
einzusetzen, der über alle Sekten wacht – ich finde daran
überhaupt nichts Falsches.“
„Das ist doch nicht so
gut, oder? Was ist, wenn dann nur eine andere QishanWen-Sekte....“
„Das kann doch nicht
damit verglichen werden, nicht wahr? Der Hauptkultivierende wird von
allen Sekten gewählt. Sie sind anders, und daher ist es was
anderes!“
„Hah, man behauptet
zwar, es sei eine Wahl, aber jeder kennt doch die Wahrheit. Es ist
egal, was passiert, es sind doch immer die gleichen wenigen Leute,
die am Wettbewerb teilnehmen, nicht wahr? Wo bleibt da noch Platz für
andere?“
„ChiFeng-Zun ist ganz
dagegen, nicht wahr? Er hat schon so oft versucht, Jin GuangShan
aufzuhalten, ob er es nun stillschweigend tat oder nicht. Meiner
Meinung nach wird es noch lange dauern, bis sie darüber entschieden
haben.“
„Und es kann nur eine
Person geben, die auf der Position des Hauptkultivators sitzt. Wenn
es also wirklich so weit kommen sollte, dann werden sie noch ein paar
Jahre brauchen, um darüber zu streiten, wer genau die Person sein
sollte.“
„Es sind doch sowieso
nur die Sorgen derjenigen, die da oben sitzen. Das geht uns alles
nichts an. Es ist ja nicht so, dass so kleine Fische wie wir die
Kontrolle darüber bekommen könnten, selbst wenn wir es wollten.“
Jemand änderte plötzlich
das Thema: „Hat einer von euch an der Abschlusszeremonie des
Bibliothekspavillons der Wolken-Schluchten teilgenommen? Nun, ich bin
dort hingegangen. Ich stand da und habe es mir angesehen, und es war
alles genau so, wie es vorher gewesen war. In der Tat war das ein
schwieriges Unterfangen.“
„Ja, sehr schwierig. Es
war ja auch eine so riesige kultivierende Residenz, wie ein
ätherisches Reich und Hunderte von Jahren alt, wie könnte man es in
nur so kurzer Zeit wieder aufbauen?“
„Wo wir gerade davon
sprechen, es gab in den letzten Tagen viele freudige Anlässe, nicht
wahr?“
„Du meinst die
Sieben-Tages-Feier von Jin ZiXuans Sohn? Es hat einen ganzen Haufen
von bunten Dingen geschenkt bekommen, und das Kind mochte keines
davon. Er schrie so heftig, dass das Dach des Festsaals fast davon
weggesprengt worden wäre. Jedoch war es sehr amüsant, dass er immer
so kichert, sobald er das Suihua seines Vaters sieht. Seine Eltern
waren so glücklich. Sie alle sagten, dass er ein wunderbarer
Schwertkämpfer sein wird, wenn er groß ist.“
Nicht weit entfernt hielt
eine Person in Weiß einen Jade-Quastenanhänger in der Hand und
untersuchte ihn sorgfältig. Als er das hörte, lächelte er.
Die Stimme einer
Kultivierenden kam rüber: „Herrin Jin hat so viel Glück.... Sie
muss in ihrem letzten Leben darauf verzichtet haben, in die
Unsterblichkeit aufzusteigen, damit sie so viel Glück in diesem
Leben hat.“
Ihre Begleiterin
antwortete: „Es sieht ganz so aus, als ob es wahr ist, dass, egal
worin man gut ist, alles in Ordnung geht, solange man nur aus einem
guten Hause kommt. Sie ist eindeutig nur so la-la....“
Die Person in Weiß
runzelte die Stirn. Glücklicherweise wurde der etwas bittere
Kommentar schnell von einer lauteren Stimme übertönt: „Die
LanlingJin-Sekte hat wirklich ihren guten Ruf verdient. Sogar ein
Baby, das erst seit ein paar Tagen auf der Welt ist, bekommt eine so
großartige Vorstellung.“
„Weißt du etwa nicht
mehr, wer die Eltern des Babys sind? Könnten sie da wirklich
nachlässig sein? Es war nicht nur, dass sich der Mann der jungen
Frau Jin sich weigert, nachlässig zu sein. Wenn die Feierlichkeiten
nur ein bisschen kleiner ausgefallen wären... ihre Schwiegermutter,
ihr jüngerer Bruder - wer von den beiden hätte so etwas erlaubt?
Bei der ganzmonatigen Feier in einigen Tagen könnte es daher nur
noch extravaganter werden.“
„Apropos, hast du schon
gehört, dass man sich sagt, dass zu dieser ganzmonatigen Feier....
ein gewisser Jemand eingeladen wurde?“
„Wer denn?“
„Wei WuXian!“
Eine plötzliche Stille
legte sich über den Schatz-Pavillon.
Jemand rief aus:
„Wirklich... Ich dachte, das sei nur ein Gerücht. Ist er wirklich
eingeladen?!“
„Ja! Es wurde in den
letzten Tagen bestätigt. Wei WuXian wird kommen!“
Jemand anderes überwand
seinen Schock: „Was denkt sich die LanlingJin-Sekte nur dabei?
Haben sie etwa vergessen, wie viele unschuldige Menschen Wei WuXian
auf dem Qiongqi Pfad getötet hat?“
„Wer wird es denn jetzt
noch wagen, zu Jin Lings ganzmonatiger Feier zu gehen, jetzt, wo
bekannt ist, dass eine solche Person eingeladen ist? Wie auch immer,
ich werde definitiv nicht hingehen, egal was passiert.“
Nach dieser Aussage
spotteten noch einige heimlich in der Menge, Ihr seid nicht einmal
qualifiziert genug, um eingeladen zu werden, und jetzt macht ihr euch
Sorgen, ob ihr hingeht oder nicht?
Die Person in Weiß hob
ihre Augenbrauen an. Nachdem er sich entschieden hatte, ging er aus
dem Schatz-Pavillon heraus. Ein paar Schritte später ging er in eine
kleine Gasse. Eine schwarz gekleidete Figur erschien: „Junger
Meister, bist du mit dem Einkauf fertig?“
Wei WuXian warf ihm eine
zierliche Sandelholzkiste zu, die er gehalten hatte. Wen Ning fing
sie auf und öffnete sie, um einen Quastenanhänger zu sehen, an dem
ein Stück weiße Jade hing. Die Jade war durchsichtig. Durch sie
schien das Licht weich zu fließen, als ob sie lebendig wäre.
Er strahlte: „Es ist so
schön!“
Wei WuXian, „Dieses
hübsche kleine Ding war überhaupt nicht billig. Das Geld deiner
Schwester hätte fast nicht gereicht, nachdem ich mir dieses neue
Outfit hatte kaufen müssen. Jetzt habe ich keine einzige Münze mehr
übrig. Jetzt erwarten mich bestimmt ganz neue Schimpfwörter, wenn
wir zurück sind.“
Wen Ning beeilte sich,
„Nein, nein. Der junge Meister hat doch ein Geschenk für das Kind
von Fräulein Jiang gekauft. Die Schwester wird dich nicht
schimpfen.“
Wei WuXian, „Merk dir
deine Worte. Wenn sie mich doch schimpft, vergiss nicht, mir ein
wenig zu helfen.“
Wen Ning nickte, bevor er
hinzufügte: „Der junge Meister Jin Ling wird dieses Geschenk
definitiv sehr mögen.“
Wei WuXian antwortete
jedoch: „Es ist nicht so, dass dies das eigentliche Geschenk ist,
das ich ihm geben werde. Es ist nur ein kleines Accessoire. Diese
Dinge, die sie da im Schatz-Pavillon verkaufen - was macht sie schon
besonders außer ihrem Aussehen?“
Wen Ning hielt überrascht
inne: „Dann, junger Meister, welches Geschenk hast du denn
vorbereitet?“
Wei WuXian, „Der Wille
des Himmels soll von den Sterblichen nicht erfasst werden.“
Wen Ning, „Oh.“
Er hatte wirklich
aufgehört zu fragen. Nachdem er es jedoch eine Weile für sich
behalten hatte, konnte Wei WuXian es selbst nicht mehr ertragen: „Wen
Ning, solltest du nicht weiterhin mit äußerster Neugierde und
Ausdauer fragen? Wie konntest du wirklich nach nur einem ‚oh‘
aufhören zu fragen? Willst du nicht wissen, was die Geschenk ist???“
Wen Ning starrte ihn
ausdruckslos an. Schließlich wurde ihm klar: „...das tue ich!
Junger Meister! Welches Geschenk hast du vorbereitet?“
Wei WuXian nahm
schließlich eine kleine Holzkiste aus der Innenseite seines Ärmels
heraus. Er schüttelte es vor Wen Ning und lächelte. Wen Ning
übernahm es und öffnete es, bevor er ausrief: „Was für ein
beeindruckendes Glöckchen!“
Das ‚Beeindruckende‘
bezog sich nicht nur allein auf die Vielschichtigkeit seiner
Handwerkskunst, obwohl die Reinheit des Silbers und der auffallend
lebendige, neunblättrige Lotus, der in seinen Körper geschnitzt
worden war, fast als der Gipfel der Perfektion in diesem Handwerk
angesehen werden könnte. Was Wen Ning jedoch damit ausdrücken
wollte, war die Menge an Macht, die in einer so kleinen Glocke
steckte.
Wen Ning, „Junger
Meister, ist es das, was du den vergangenen Monat über gemacht hast,
als du dich nach Einbruch der Dunkelheit in der Höhle eingeschlossen
hast?“
Wei WuXian, „Das ist
richtig. Solange mein Neffe diese Glocke bei sich trägt, kann keine
einzige Kreatur, deren Niveau auch nur niedrig einzustufen wäre,
überhaupt nur daran denken, ihm zu nahe zu kommen. Du könntest es
auch nicht anfassen. Es würde dich wahrscheinlich auch für einige
Zeit beeinträchtigen, wenn du es tätest.“
Wen Ning nickte: „Ich
kann es deutlich fühlen.“
Wei WuXian nahm den
Quastenanhänger und hängte ihn an die silberne Glocke.
Zusammengenommen sahen die beiden äußerst ansprechend aus. Er war
damit sehr zufrieden.
Wen Ning, „Aber da du
nun an der Feier des Einmonatigen des jungen Meisters Jin Ling
teilnehmen wirst, musst du dich zurückhalten, wenn du dem Mann von
Fräulein Jiang begegnest. Kämpfe nicht mit ihm....“
Wei WuXian winkte mit der
Hand ab: „Du kannst dich deswegen entspannen. Ich weiß, was zu tun
ist und was nicht. Aus Dankbarkeit, dass Jin ZiXuan mich eingeladen
hat, werde ich ein ganzes Jahr lang kein schlechtes Wort über ihn
verlieren.“
Wen Ning kratzte sich am
Kopf und schämte sich: „Letztes Mal, als der junge Meister Jin den
Leuten sagte, sie sollten dir die Einladung am Boden des Grabhügels
überreichen, dachte ich, dass es eine Falle sein müsste. Und dann
war es zufällig ein Missverständnis. Es war wirklich unfair ihm
gegenüber. Ich konnte es vorher nicht sagen, aber in Wirklichkeit
ist der junge Meister Jin auch ein netter Mensch....“
Gegen Mittag passierten
die beiden den Qiongqi Pfad auf ihrem Weg.
Nach seiner
Wiederherstellung war es lange her, dass der Qiongqi Pfad umbenannt
wurde. Wei WuXian wusste auch nicht, wie er gerade genannt wurde. Es
schien, dass sich auch andere nicht daran erinnern konnten, und so
wurde er meistens immer noch als der Qiongqi Pfad bezeichnet. Zuerst
bemerkte keiner der beiden etwas. Aber als sie die Mitte des Tals
erreichten, begann Wei WuXian zu spüren, dass etwas nicht stimmte.
Es sollten nicht so
wenige Passanten hier sein.
Wei WuXian, „Stimmt
etwas nicht?“
Wen Ning rollte mit
seinen Augen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. Einen
Moment später zeigten sich wieder seine Pupillen: „Nein. Es ist
nur so still.“
Wei WuXian, „Es ist
wirklich ein bisschen zu still.“
Er konnte nicht einmal
ein einziges unmenschliches Geräusch hören, obwohl er die
eigentlich immer hören konnte.
Wei WuXian war sofort
alarmiert und flüsterte: „Lass uns gehen!“
Gerade als er sich
umdrehte, hob Wen Ning seine Hand, um etwas zu fangen.
Es war ein gefiederter
Pfeil, der genau auf die Mitte von Wei WuXians Brust gezielt hatte!
Wei WuXian sah abrupt
auf. Viele Menschen traten aus unzähligen Verstecken auf beiden
Seiten des Tales heraus. Es waren über dreihundert von ihnen. Die
meisten trugen Gewänder aus ‚Funken inmitten von Schnee‘, obwohl
einige auch andere Uniformen trugen. Alle trugen Bögen auf dem
Rücken und Schwerter an der Taille, gekleidet in Rüstungen und sie
schienen voller Wachsamkeit. Mit den Bergen im Rücken und anderen
Menschen als Mitstreiter wurden die Spitzen aller Schwerter und
Pfeile auf ihn gerichtet. Der gefiederte Pfeil, der als erstes bei
Wei WuXian angekommen war, war von demjenigen abgeschossen worden,
der die Menge anführte. Der Mann hatte einen großen Körperbau und
eine dunkle Haut. Seine schönen Gesichtszüge schienen etwas
vertraut.
Wei WuXian, „Wer bist
du?“
Der Mann wollte
ursprünglich ein paar Worte sagen, nachdem er den Pfeil abgeschossen
hatte. Doch mit einer solchen Frage vergaß er all das auf einmal und
kochte: „Du wagst es zu fragen, wer ich bin? Ich bin Jin ZiXun!“
Wei WuXian erinnerte sich
sofort daran. Das war Jin ZiXuans Cousin. Er hatte ihn schon ein paar
Mal gesehen.
Sein Herz sank nach
langer Zeit wieder. Am Anfang war er noch von der Freude erfüllt
gewesen, sich auf dem Weg zur ganzmonatigen Feier des Sohnes von
Jiang YanLi zu befinden. Aber im Moment verflüchtigte sich die ganze
Freude, und ein dunkler Schatten legte sich über sie. Dennoch
weigerte er sich, zu viel darüber nachzudenken, und wollte nicht
erraten, warum diese Leute hier einen Hinterhalt für ihn vorbereitet
hatten.
Jin ZiXun erhob seine
Stimme: „Wei WuXian, ich warne dich - hebe den bösen Fluch auf,
den du mir auferlegt hast, und ich werde dann so tun, als wäre
nichts passiert und dich gehen lassen.“
Wei WuXian hielt
überrascht inne. Obwohl er wusste, dass es als Verleugnung angesehen
werden würde, musste er die Dinge noch klären: „Welcher Fluch?“
Wie er erwartet hatte,
dachte Jin ZiXun, dass er fragte, obwohl er es bereits schon wusste:
„Du tust immer noch so, als würdest du nichts wissen?“
Er riss seine Revers auf,
brüllte, „Schön. Ich lasse dich sehen, was für ein böser Fluch
es ist!“
Die Brust von Jin ZiXun
war vollständig mit Löchern in allen Größen bedeckt!
Die kleineren Löcher
hatten die Größe von Sesamsamen, während die größeren so groß
waren wie Sojabohnen. Sie waren gleichmäßig auf seinem Körper
verteilt, auf eine haarsträubende Art und Weise.
Wei WuXian warf nur einen
Blick darauf, „‘Hundert Löcher‘?“
Jin ZiXun, „Das ist
richtig! In der Tat ‚Hundert Löcher‘!“
‚Hundert Löcher‘ war
ein Fluch von äußerster Brutalität.
Als Wei WuXian den
Bibliothekspavillon der GusuLan-Sekte erkundet hatte, während er
eigentlich hatte die Schriften kopieren sollen, hatte er einmal ein
altes Buch entdeckt. An der Stelle, an der diese Art von Fluch
erklärt wurde, war dem Text eine Illustration hinzugefügt worden.
Die abgebildete Person auf der Seite war ziemlich ruhig, als ob sie
keine Schmerzen verspürte, aber viele münzgroße Löcher waren
bereits über ihren ganzen Körper verteilt gewesen.
Zuerst würde das Opfer
des Fluches nichts spüren. Sie würden höchstens denken, dass ihre
Poren etwas größer geworden wären. Doch bald darauf wurden die
Löcher so groß wie Sesamsamen. Je länger es andauerte, desto
größer und zahlreicher würden diese Löcher werden. Es würde
immer so weitergehen, bis der ganze Körper mit Löchern aller
Größen bedeckt wäre, fast wie ein groteskes menschliches Sieb.
Darüber hinaus, nachdem die Oberfläche der Haut mit Löchern
bedeckt wäre, würde der Fluch damit beginnen, sich in Richtung der
inneren Organe zu erstrecken. Es könnten entweder unaufhörliche
Bauchschmerzen oder die Fäulnis aller Organe eintreten!
Nachdem Jin ZiXun einem
Fluch zum Opfer gefallen war, der so abstoßend und doch so schwer zu
entfernen war, empfand Wei WuXian vorübergehend fast Sympathie für
ihn. Doch selbst wenn er sympathisch war, dachte er immer noch, dass
Jin ZiXun wahrscheinlich kein richtiges Gehirn hätte: „Du bist mit
‚Hundert Löchern‘ verflucht worden, aber warum solltest du mir
den Weg versperren? Was hat das mit mir zu tun?“
Jin ZiXun blickte auf
seine Brust herunter, als ob er sich selbst ebenfalls davon
angewidert fühlte. Er zog sein Revers wieder in seine ursprüngliche
Form zurück: „Abgesehen davon, dass ein Verbrecher wie du, der es
gewohnt ist, finstere Mittel zu benutzen, wer sonst könnte mir so
eine widerliche Sache anhängen?“
Wei WuXian dachte bei
sich selbst, dass es tatsächlich viele gab, die das tun würden.
Könnte es sein, dass Jin ZiXun tatsächlich dachte, er sei bei den
anderen beliebt?
Aber er wollte es nun
nicht so direkt sagen und Jin ZiXun auch noch provozieren, was die
Situation verschlimmert hätte: „Jin ZiXun, ich benutze keine so
heimlichen Tricks. Wenn ich jemanden töten will, würde ich jedem
sagen, dass diese Person durch meine Händen gestorben ist. Und wenn
ich wirklich wollte, dass du stirbst, wärst du tausend Mal schlimmer
dran als jetzt.“
Jin ZiXun, „Du warst
schon immer ziemlich arrogant, nicht wahr? Und jetzt bist du nicht
mutig genug, zuzugeben, was du getan hast?“
Wei WuXian, „Ich bin
nicht derjenige, der es getan hat; warum sollte ich es also zugeben?“
Die Tötungsabsicht
blitzte in Jin ZiXuns Augen auf: „Höflichkeit vor Gewalt - wenn du
diese Chance nicht nutzen willst, das Ganze hier noch umzudrehen,
dann lasse ich dich auch nicht einfach so davonkommen!“
Wei WuXian hielt in
seinen Schritten inne, „Oh, wirklich?“
Was damit gemeint war,
dass man ihn ‚nicht einfach so davonkommen‘ ließe, war wirklich
klar.
Es gab zwei
Möglichkeiten, den Fluch von ‚Hundert Löchern‘ aufzuheben.
Abgesehen davon, dass derjenige, der den Fluch gelegt hatte, die
eigene Kultivierung unterbrechen und so den Fluch an sich aufheben
musste, gab es eine absolutere Methode: Denjenigen zu töten, der den
Fluch gelegt hatte!
Wei WuXian sprach
verächtlich: „Du willst mich nicht einfach davonkommen lassen? Du?
Mit nur ein paar hundert Leuten, die du hier hast?“
Jin ZiXun winkte mit dem
Arm. Alle Jünger legten ihre Pfeile auf die Bögen und richteten sie
auf Wei WuXian und Wen Ning, die sich im unteren Teil des Tals
befanden. Wei WuXian hob Chenqing auch an seine Lippen. Die schrille
Note der Flöte zerriss die Stille des Tales.
Doch auch einen Moment
später war noch keine Antwort gekommen. Jin ZiXun, „Wir haben
bereits vor langer Zeit das gesamte Gebiet gesäubert und darauf
gewartet, dass du kommst. Du wirst keine Helfer bekommen, egal wie
viel du auch spielst. Das hier ist der Friedhof, den wir nur für
dich vorbereitet haben!“
Wei WuXian lachte kalt:
„Du suchst nur deinen eigenen Tod!“
Als er fertig war, hob
Wen Ning seine Hand und riss die rote Schnur ab, die einen Talisman
an seinem Hals befestigt hatte.
Nachdem die Schnur
gerissen war, schwankte sein Körper, und die Muskeln auf seinem
Gesicht begannen sich zu drehen. Markierungen, die wie schwarze Risse
aussahen, krochen seinen Hals bis zu seinen Wangen hinauf. Plötzlich
hob er den Kopf und ließ ein langes, unmenschliches Gebrüll los!
Unter den dreihundert
Menschen, die an diesem Hinterhalt teilnahmen, waren viele
Kultivierende, die auch schon an Nachtjagden teilgenommen hatten.
Keiner von ihnen hatte jemals eine wilde Leiche getroffen, die so
einen schrecklichen Lärm machen konnte. Sie alle spürten, wie ihre
Knie zitterten. Jin ZiXun konnte es auch auf seiner Kopfhaut kribbeln
spüren. Er hob seinen Arm und befahl: „Angriff!“
Die Pfeile regneten nach
unten!
Wen Ning brach einen
Felsbrocken mit bloßen Händen auseinander und hob ihn hoch in die
Luft und blockierte so viele Pfeile wie möglich. Nachdem der
Pfeilregen zu Ende war, sprangen etwa hundert Kultivierende die Wände
hinunter und stürzten sich auf die beiden im Gelände Stehenden.
Wei WuXian ging ein paar
Schritte zurück. Mit einem Seitenschritt wich er dem tückischen
Angriff einer Schwertklinge aus.
Während Wen Ning mit den
hundert Leuten zu tun hatte, nutzte Jin ZiXun die Chance zum Angriff.
Als er sah, dass Wei WuXian kein Schwert dabei hatte und nur eine
Flöte trug, die vorübergehend nutzlos war, lachte er: „Das ist
der Preis, den du für deine Arroganz zahlen wirst. Dann lass uns mal
sehen, wie du dich ohne Schwert wehrst.“
Mit einem Handgriff warf
Wei WuXian eine Reihe von Talismanen aus, die in grünen Flammen
aufgingen, und verminderte so den Blick von Jin ZiXun auf sein
Schwert, während sie kollidierten. Mit einem solchen Angriff direkt
nach dem Lachen konzentrierte sich Jin ZiXun sofort wieder auf den
Kampf. Die beiden kämpften schon lange miteinander, als Wei WuXian
plötzlich etwas aus dem Ärmel fiel. Sein Blick erstarrte, als er
erkannte, was passiert war.
Es war das Geschenk, das
er für Jin Ling vorbereitet hatte. Da er Angst gehabt hatte, dass er
es versehentlich zerbrechen würde, während er es immer wieder
herausnehmen und von Zeit zu Zeit bewundern wollte, hatte er es nur
oberflächlich in seinem Ärmel deponiert. Während des Kampfes war
es jedoch versehentlich herausgerutscht und nun Jin ZiXun direkt vor
die Füße gefallen. Jin ZiXun dachte zunächst, dass es eine Art
versteckte Waffe oder ein obskures Gift sein könnte. Er wollte
ausweichen, als er plötzlich die Veränderung im Ausdruck auf Wei
WuXians Gesicht sah. Er änderte seine Meinung und hob es sofort auf.
Es handelte sich um eine zierliche kleine Holzkiste mit einer Reihe
von kleinen Buchstaben darauf geschnitzt - Jin Lings Name und sein
Geburtsdatum. Jin ZiXun hielt überrascht inne, bevor er zu einer
Erkenntnis kam und laut lachte.
Wei WuXians Gesicht
verdunkelte sich und er sprach ein Wort nach dem anderen: „Gib es
zurück.“
Jin ZiXun hob die
Holzkiste hoch und spottete: „Ein Geschenk für A-Ling?“
Wen Ning stand nicht weit
von ihnen weg. Allein und mit der Stärke von mehr als hundert
Soldaten kämpfte er im Chaos. Jin ZiXun, „Du hast doch nicht
wirklich geglaubt, dass du an der ganzmonatigen Feier von A-Ling
teilnehmen könntest, oder?“
Der Satz ließ Wei
WuXians Hände leicht zittern.
An diesem Punkt rief eine
Stimme: „Halt!“
Eine weißgekleidete
Gestalt sprang behände ins Tal und positionierte sich zwischen Wei
WuXian und Jin ZiXun.
Als Jin ZiXun sah, wer
gekommen war, rief er aus: „ZiXuan? Warum bist du hier?!“
Jin ZiXuan legte eine
Hand auf den Griff seines Schwertes, und antwortete wütend: „Warum
glaubst du, bin ich hier?!“
Jin ZiXun, „Wo ist
A-Yao?“
Jin GuangYao war als
Unterstützung vorgesehen gewesen, der hier sein sollte, um ihm zu
helfen. Erst letztes Jahr hatte er Jin GuangYao noch viel Verachtung
entgegengebracht. Nun, da die Beziehung zwischen den beiden jedoch
besser geworden war, begann er, ihn auf eine intimere Weise zu
benennen. Jin ZiXuan, „Ich habe ihn am Karpfenturm aufgehalten.
Hätte er sich nicht so seltsam benommen und ich ihn entlarvt, und
wäre er an meiner statt hier aufgetaucht, hättet ihr beiden dann
hier einfach so weitergemacht? Warum hast du mir nicht gesagt, dass
du mit ‚Hundert Löchern‘ verflucht wurdest und bist stattdessen
hierher gekommen, um das hier zu tun, ohne mir etwas davon zu sagen?“
Die Tatsache, dass Jin
ZiXun mit ‚Hundert Löchern‘ verflucht war, war in der Tat eine
unsägliche Angelegenheit. Zunächst einmal hatte er sowohl ein gutes
Aussehen als auch einen guten Körperbau. Er hatte sich immer als
gutaussehend angesehen und konnte es nicht ertragen, dass andere
wussten, dass er unter einem so unschönen, abstoßenden Fluch stand.
Zweitens bedeutete das Verfluchen, dass sein Kultivierungsgrad nicht
hoch genug war, da seine spirituelle Energie zu schwach war, um sich
gegen den Fluch wehren zu können. Das machte es noch unangenehmer,
anderen zu erklären. Und so war Jin GuangShan der Einzige, dem er
von dem Fluch erzählt hatte und der Jin GuangYao darum bat, ihm
Ärzte und Fluchspezialisten zu suchen. Doch keiner der beiden konnte
etwas tun.
Zufällig war nun die
ganzmonatige Feier von Jin Ling, zu der Jin ZiXuan tatsächlich Wei
WuXian eingeladen hatte. Jin GuangShan war von Anfang an nicht allzu
begeistert von dieser Idee gewesen, und so schlug er vor, dass Jin
ZiXun dies als Gelegenheit nutzen und Wei WuXian auf dem Weg zum
Bankett töten sollte. Auf diese Weise würde er auch nicht zum
Karpfenturm kommen können.
Wei WuXian war Jiang
YanLis Shidi, und das Paar war sehr liebevoll zueinander. Jin ZiXuan
erzählte seiner Frau alles, egal was für eine triviale
Angelegenheit es war. Einige Leute waren besorgt, dass er den Plan
verraten könnte, was dazu führte, dass Wei WuXian nicht kommen
würde, und so hatten sie Jin ZiXuan im Dunkeln über alles gelassen.
Das war in der Tat ein wenig unfair.
Als Jin ZiXun sah, dass
nun alles aufgeflogen war, konnte er nicht anders, als sich etwas
schuldig zu fühlen. Aber, egal was auch passierte, sein Leben war
hier das wichtigste: „ZiXuan, bewahre der Schwägerin gegenüber
darüber Stillschweigen. Ich gebe euch beiden eine formelle
Entschuldigung, nachdem ich diese Dinger an meinem Körper
losgeworden bin!“
Als Wei WuXian das letzte
Mal Jin ZiXuan gesehen hatte, hatte dieser noch einen jugendlichen
Stolz an sich haften gehabt. Jetzt, da er verheiratet war, schien er
viel reifer zu sein. Auch seine Stimme war ruhig, obwohl sich sein
Gesicht verfinstert hatte: „Es ist immer noch möglich, die Sache
hier aufzuklären. Ihr alle, hört vorerst auf damit.“
Jin ZiXun war sowohl
wütend als auch ungeduldig: „Was gibt es da noch aufzuklären,
jetzt, wo es schon so ist? Hast du diese Dinger nicht an mir
gesehen?“
Er schien, als wolle er
sein Hemd wieder öffnen, um seine Brust voller Löcher zu enthüllen.
Jin ZiXuan hielt ihn schnell auf: „Das ist nicht nötig! Ich habe
davon schon von Jin GuangYao gehört!“
Jin ZiXun, „Da du es
schon von ihm gehört hast, solltest du wissen, dass ich es kaum noch
erwarten kann. Sag mir nicht, dass du das Leben deines Bruders
missachtest, um der Schwägerin willen, weil er ihr Shidi ist?!“
Jin ZiXuan, „Du weißt
ganz klar, dass ich nicht so eine Art von Mensch bin! Er ist
vielleicht auch nicht unbedingt derjenige, der dich mit ‚Hundert
Löchern‘ verflucht hat. Warum bist du nur so voreilig? Ich war
derjenige, der Wei WuXian zu A-Lings ganzmonatiger Feier eingeladen
hat. Wenn das die Art ist, wie du die Dinge angehst, in welchem Licht
lässt mich das bitte stehen? Und in welchem Licht meine Frau?“
Jin ZiXun erhob seine
Stimme: „Es wäre das Beste, wenn er nicht teilnimmt! Was denkt Wei
WuXian, wer er ist - verdient er es, am Bankett unserer Sekte
teilzunehmen? Wer ihn anfasst, bekommt nichts als einen Spritzer
Dunkelheit ab! ZiXuan, als du ihn eingeladen hast, hast du dir da
keine Sorgen gemacht, dass du, die Schwägerin und A-Ling, für den
Rest eures Lebens einen unlösbaren Fleck abbekommen würdet?!“
Jin ZiXuan rief: „Halt
sofort die Klappe!“
Zutiefst wütend ballte
Jin ZiXun seine Fäuste zusammen. Die Holzkiste, in der sich die
Glocke und die Quaste aus Jade befanden, wurde sofort zu Staub
zusammengepresst!
Wei WuXian beobachtete
mit seinen eigenen Augen, wie das Objekt zerbrach. Seine Pupillen
schrumpften zusammen und er stürzte sich auf Jin ZiXun. Jin ZiXuan
wusste jedoch nicht, was sich in der Box befunden hatte. Er hob die
Hand und blockierte den Angriff und rief: „Wei WuXian! Hast du noch
nicht genug gehabt?!“
Wei WuXians Brust hob und
senkte sich hastig. Seine Augen waren rot. Jin ZiXuan und Jin ZiXun
waren Cousins, die sich seit ihrer Jugend gut kannten. Mit fast
zwanzig Jahren, die sie sich inzwischen kannten, war es für ihn zu
diesem Zeitpunkt tatsächlich schwierig, einen Außenseiter zu
verteidigen. Und in Wahrheit mochte er Wei WuXian auch nicht als
Person.
Er sammelte sich und
sprach: „Sag Wen Ning, er soll zuerst anhalten. Lass ihn nicht noch
weiter wüten und die Situation schlimmer machen, als sie es bereits
ist.“
Wei WuXians Stimme war
rau, „.... Warum lässt du sie nicht zuerst aufhören?“
Unerbittliche Schreie und
Brüllen kamen von überall her. Jin ZiXuan wurde wütend: „Warum
bist du in diesem Augenblick immer noch so stur? Wenn sich alle hier
beruhigt haben, kannst du mir zum Karpfenturm folgen, um die Dinge zu
erklären und einige Fragen zu beantworten. Wenn du nicht derjenige
warst, der es getan hat, dann wird dir nichts passieren!“
Wei WuXian, „Ich soll
ihm sagen, dass er aufhören soll? Sobald ich Wen Ning sage, dass er
jetzt aufhören soll, würden die Pfeile direkt auf mein Herz fliegen
und ich würde nicht einmal als eine ganze Leiche sterben! Und du
denkst, ich könnte die Dinge im Karpfenturm erklären?“
Jin ZiXuan, „Sie werden
dir nichts tun!“
Wei WuXian lachte:
„Werden sie nicht? Wie kannst du das sicherstellen? Jin ZiXuan, ich
habe eine Frage - als du mich zuerst eingeladen hast, wusstest du
wirklich nichts von ihrem Plan, mich zu töten?!“
Jin ZiXuan hielt eine
Sekunde inne, bevor er wütete: „Du! Wei WuXian, bist du.... bist
du verrückt geworden?!“
Wei WuXian unterdrückte
die lodernde Flamme des Hasses. Seine Stimme war kalt: „Jin ZiXuan,
verschwinde sofort von hier. Ich werde dich nicht anfassen, aber du
wirst mich nun auch nicht provozieren.“
Als Jin ZiXuan sah, dass
er sich immer noch weigerte, nachzugeben, stürzte er sich plötzlich
nach vorne, als würde er versuchen, ihn festzuhalten: „Warum
kannst du dich nicht einfach einmal zurückhalten? A-Li wartet immer
noch....“
Gerade als er nach Wei
WuXian griff, hörte er ein seltsames, krachendes Geräusch.
Das Geräusch war fast
ein bisschen zu dicht an ihm dran. Jin ZiXuan hielt überrascht inne.
Er blickte nach unten und sah schließlich die Hand, die seine Brust
durchbohrt hatte.
Ohne dass es jemand
bemerkt hatte, hatte sich Wen Ning ihnen bereits angeschlossen. Auf
der einen Hälfte seines ausdruckslosen Gesichts waren ein paar
gesprenkelte, grelle Blutstropfen verteilt.
Jin ZiXuans Lippen
bewegten sich. Sein Ausdruck war leer. Dennoch gelang es ihm, den
Satz fortzusetzen, den er nicht hatte beenden können: „....wartet
immer noch darauf, dass du zum Karpfenturm kommst und an der
ganzmonatigen Feier von A-Ling teilnimmst....“
Die gleiche Leere war auf
Wei WuXians Gesicht zu sehen. In dieser kurzen Zeit hatte Wei WuXian
immer noch nicht realisiert, was passiert war.
Was war passiert?
Warum hatten sich die
Dinge in wenigen Sekunden so entwickelt?
Nein.
Das sollte so nicht sein.
Irgendwas musste irgendwo
schief gelaufen sein.
Wen Ning zog die Hand
heraus, mit der er Jin ZiXuans Brust durchbohrt hatte und hinterließ
ein klaffendes Loch.
Jin ZiXuans Gesicht
zuckte vor Schmerz, als ob er das Gefühl hätte, dass die Wunde
nichts Großes wäre, und das er noch aufstehen könnte. Doch
schließlich gaben seine Beine nach, während er auf dem Boden
kniete.
Panische Schreie ertönten
von überall um sie herum.
„Der... Der
Geistergeneral ist verrückt geworden!“
„Er hat ihn getötet,
er hat ihn getötet. Wei WuXian hat den Geistergeneral Jin ZiXuan
töten lassen!“
Jin ZiXun schrie:
„Schießt! Worauf wartet ihr noch?! Schießt mit allem, was ihr
habt!“
Als er sich jedoch
herumdrehte, näherte sich ihm eine schwarze, unmenschlich wirkende
Gestalt. Er fühlte, wie sich seine Kehle verkrampfte, während sich
eine große, blasse Hand, die von blauen Adern durchzogen war, um
seinen Hals schloss.
„Ahhhhhhhhhhh....!!!!!!“
Wei WuXian stand hilflos
da, wo er war, unbeweglich.
Nein.
Das war es nicht.
Er kontrollierte Wen Ning
eindeutig richtig.
Obwohl er Wen Nings
Wutmodus aktiviert hatte, sollte er ihn doch trotzdem noch
kontrollieren können. Er war doch sonst immer in der Lage gewesen,
ihn perfekt kontrollieren zu können. Er hatte Jin ZiXuan überhaupt
nicht töten wollen. Er hatte nie die Absicht gehabt, Jin ZiXuan zu
töten! Es war genau in diesem Moment. Er wusste nicht, warum, aber
plötzlich war er nicht mehr in der Lage, es zu kontrollieren.... Er
hatte ganz plötzlich die Kontrolle verloren!
Jin ZiXuans Körper
konnte sich schlussendlich nicht mehr halten und fiel nach vorne. Mit
einem Schlag brach er auf dem Boden zusammen. Er war sein ganzes
Leben lang arrogant und selbstzufrieden gewesen, was sein Aussehen
und seine Manieren betraf. Er mochte es, sauber zu sein, bis zu dem
Punkt, der fast schon an Mysophobie grenzte. Doch in diesem
Augenblick, wo eine Seite seines Gesichtes in den Dreck gefallen war,
lag er auf höchst unwürdige Weise da. Die Blutflecken auf seinem
Gesicht und das Zeichen von Zinnoberrot zwischen seinen Augenbrauen
waren von derselben Farbe.
Wei WuXian starrte auf
das Licht, das langsam aus seinen Augen verblasste. Sein Geist war in
einem völligen Chaos. Alles drehte sich. Alles um ihn herum war zu
einem Meer aus Blut und Schreien geworden, aber er konnte nichts mehr
davon hören.
Das Einzige, was er hören
konnte, war eine Stimme in ihm, die ihn immer und immer wieder
befragte:
Hast du nicht gesagt,
du weißt, was du tun sollst und was nicht?
Hast du nicht gesagt,
dass du es kontrollieren kannst?
Hast du nicht gesagt,
dass es kein Problem geben wird, dass nichts passieren kann?!!!
Wei WuXians Kopf war
leer. Er wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis sich seine
Augen endlich wieder öffneten.
Was er sah, war die
dunkle Decke der Dämonenschlachthöhle.
Sowohl Wen Qing als auch
Wen Ning waren mit ihm hier drinnen. Wen Nings Pupillen waren wieder
in das Weiß seiner Augen zurückgekehrt. Er hatte seinen Wutanfall
beendet und schien sich mit leiser Stimme mit Wen Qing zu
unterhalten. Als er sah, dass Wei WuXian die Augen geöffnet hatte,
kniete er sich schweigend auf den Boden. Wen Qing, mit roten Augen,
hingegen sagte nichts. Wei WuXian setzte sich auf.
Nach einer Weile der
Stille wirbelten plötzlich Wellen des Hasses in seinem Herzen. Er
trat auf Wen Nings Brust ein und trat ihn somit zu Boden. Wen Qing
erbebte. Sie drückte ihre Hände zusammen, aber sie sah immer noch
nach unten, ihr Mund war fest geschlossen.
Wei WuXian brüllte: „Wen
hast du getötet? Weißt du, wen du getötet hast?!“
An diesem Punkt, mit
einem Grasschmetterling auf dem Kopf, rannte Wen Yuan von außen
herein und strahlte, „Bruder Xian....“
Ursprünglich wollte er
Wei WuXian den Schmetterling zeigen, den er in neuen Farben angemalt
hatte. Doch als er hereingekommen war, erblickte er nur einen Dämonen
in der Gestalt von Wei WuXian, und Wen Ning, der sich auf dem Boden
zusammengerollt hatte. Sofort war er sprachlos schockiert. Wei WuXian
drehte sich um. Er hatte seine Emotionen noch nicht im Griff, seine
Augen wirkten fast beängstigend. Wen Yuan hatte solche Angst, dass
seine ganze Gestalt zusammenzuckte. Der Schmetterling fiel von oben
auf seinen Kopf herunter und landete auf dem Boden. Er begann sofort
zu weinen. Vierter Onkel eilte herein, hob ihn hoch und trug ihn weg.
Nachdem Wen Ning
umgestoßen worden war, setzte er sich wieder auf, kniete sich
richtig nieder und sagte nichts. Wei WuXian packte ihn am Kragen, hob
ihn hoch und schrie: „Du hättest jeden töten können - warum
musstest du Jin ZiXuan töten?!“
Wen Qing sah von der
Seite zu. Sie schien, als wollte sie herübereilen, um ihren Bruder
zu beschützen, zwang sich aber, sich zurückzuhalten. Tränen der
Trauer und der Angst rollten über ihre Wangen.
Wei WuXian, „Was soll
Shijie jetzt tun, jetzt, wo er tot ist? Was soll aus Shijies Sohn
werden?! Was soll ich jetzt machen?! Was ist mit mir?!“
Sein Geschrei hallte
durch die Höhle und breitete sich nach außen aus. Wen Yuan weinte
noch mehr.
Mit den Schreien des
Kindes aus der Ferne und den verängstigten Geschwistern, die völlig
ratlos waren, was sie nun in seinen Augen tun sollten, fühlte Wei
WuXian, wie sein Herz tiefer in die Dunkelheit versank. Er fragte
sich: Warum habe ich mich all die Jahre hier auf dem Grabhügel
verschanzt? Warum musste ich das alles durchmachen? Warum habe ich
mich am Anfang dafür entschieden, diesen Weg zu gehen? Warum habe
ich das nur aus mir gemacht? Als was sehen mich die anderen
eigentlich? Habe ich irgendetwas bei all dem gewonnen? Bin ich nun
wahnsinnig geworden? Bin ich wahnsinnig geworden? Bin ich
wahnsinnig?!
Wenn er nur von Anfang an
nicht diesen Weg gewählt hätte.
Plötzlich flüsterte Wen
Ning, „.... es tut mir leid....“
Das hier war eine Leiche,
ausdruckslos, mit Augen, die keine Wärme mehr spüren konnten;
Tränen, die nicht mehr fallen konnten. Doch in diesem Moment war auf
dem Gesicht dieser Leiche echter Schmerz zu sehen.
Er wiederholte: „Es tut
mir leid... Es war alles meine Schuld... Es tut mir leid...“
Als er ihm zuhörte, wie
er sich immer und immer wieder entschuldigte, fühlte sich Wei WuXian
plötzlich extrem lächerlich.
Es war überhaupt nicht
Wen Nings Schuld.
Das alles war seine
eigene Schuld.
In dem Moment, wo Wen
Ning wütend geworden war, war er nichts anderes gewesen als eine
Waffe. Die Person, die die Waffe erschaffen hatte, war er gewesen.
Die Dinge, auf die diese Waffe hörte, waren auch seine Befehle
gewesen.
Dort, mit all der
Spannung und den tödlichen Absichten, hatte Wei WuXian nie gezögert,
vor Wen Ning Feindschaft gegenüber Jin ZiXuan zu zeigen, und während
er ohne Bewusstsein war, hatte Wen Ning Jin ZiXuan als 'Feind'
erkannt, der ihn gerade angriff, und nur den Befehl der 'Vernichtung'
ohne einen weiteren Gedanken ausgeführt.
Er war derjenige, der
eine solche Waffe nicht kontrollieren konnte. Er war derjenige, der
sich seinen eigenen Fähigkeiten zu sicher gewesen war. Er war auch
derjenige, der alle bisherigen ominösen Hinweise ignoriert hatte, in
dem Glauben, dass er jeden Kontrollverlust unterdrücken könnte.
Wen Ning war eine Waffe,
aber war er auch aus seinem eigenem Antrieb heraus zu einer Waffe
geworden?
Könnte eine so
schüchterne, stotternde Person jemals glücklich damit sein, all
diese Menschen unter Wei WuXians Befehl getötet zu haben?
Damals hatte er eine
Schale mit Lotuswurzelsuppe, die Jiang YanLi ihm gegeben hatte,
gehalten. Er hatte sie den ganzen Weg bis zum Grabhügel hinauf
getragen und keinen einzigen Tropfen davon verschüttet. Obwohl er
sie selbst nicht hatte trinken können, hatte er zugesehen, wie
jemand anderes den Inhalt geleert hatte und diesen dann sogar
gefragt, wie es schmeckte, während er versuchte, es sich in seinem
Kopf vorzustellen. Wie könnte es ihm da gut gehen, nachdem er Jiang
YanLis Mann mit eigenen Händen getötet hatte?
Er nahm nicht nur alle
Fehler als seine eigenen auf sich, sondern entschuldigte sich auch
noch bei ihm.
Wei WuXian, der immer
noch Wen Nings Kragen hielt, sah in sein blasses, lebloses Gesicht.
Vor seinen Augen erschien plötzlich Jin ZiXuans verschmiertes
Gesicht, bedeckt mit Schmutz und Blut. Sie hatten die gleiche Blässe,
die gleiche Leblosigkeit.
Er erinnerte sich auch an
Jiang YanLi, die schließlich die Person geheiratet hatte, die sie
liebte, nachdem sie so viele Schwierigkeiten überwunden hatte. Er
erinnerte sich an den Sohn von Jin ZiXuan und Jiang YanLi, A-Ling,
das Kind, das seinen Höflichkeitsnamen von ihm erhalten hatte.
Er war noch so jung. Nur
sieben Tage nach seiner Geburt wusste er zu lachen, wenn er das
Schwert seines Vaters ansah. Seine beiden Eltern waren so stolz.
Seine ganzmonatige Feier fand in nur wenigen Tagen statt.
Während ihm all diese
Gedanken immer und immer wieder durch den Kopf gingen, brach Wei
WuXian plötzlich in Tränen aus.
Seine Stimme
war in eine tiefe Hilflosigkeit getaucht, „.... Kann mir jemand
sagen... was ich jetzt tun soll?“
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