Kapitel
71: Belohnung – Teil Drei
Blumen
werfen vom Balkon
Zwei Monate
später in Yunmeng.
Nach dem
Zusammenbruch der QishanWen-Sekte verschwand die Stadt, die einst die
blühendste aller Städte war, in nur einer Nacht wie Rauch und
zerfiel in Trümmern. Eine große Anzahl von Kultivierenden suchte
nach neuen Aktivitätsorten und siedelte sich in mehreren neuen
Städten an.
Unter ihnen
erhielten Lanling, Yunmeng, Gusu und Qinghe den größten Zustrom von
Kultivierenden. Auf den Straßen eilten die Leute hin und her. Alle
Jünger trugen Schwerter an ihren Taillen und redeten erhaben über
das Schicksal der gegenwärtigen Welt. Alle waren in bester Stimmung.
Plötzlich
senkten die Leute auf der Straße ihre Stimmen etwas. Gemeinsam
schauten sie ans Ende der Straße. Von dort näherte sich langsam ein
weiß gekleideter Mann mit Stirnband, Schwert und Zither.
Die Züge
des Mannes waren von unvergleichlicher Anmut, aber als schien, als
würden Frost und Schnee seine Figur umgeben. Noch bevor er näher
kam, beruhigten sich die Kultivierenden und blickten respektvoll in
seine Richtung. Die bekannteren unter ihnen machten sich tapfer auf
und gingen ihm entgegen, um ihn zu grüßen: „HanGuang-Jun.“
Lan WangJi
nickte leicht, erwiderte die Anrede ohne Zögern und hielt in seinem
Schritt nicht inne. Die anderen Kultivierenden wagten es nicht, ihn
zu sehr zu belästigen.
Plötzlich
kam jedoch ein junges, lächelndes Mädchen gekleidet in leuchtenden
Farben. Eilig streifte sie seine Schultern, warf ihm jedoch plötzlich
etwas auf seinen Körper. Schnell erwischte Lan WangJi das Objekt. Er
schaute in seine Hand und sah dort die Knospe einer Blume, die weiß
wie Schnee war.
Die Knospe
war zart und frisch und es haftete noch etwas Tau an ihr. Als Lan
WangJi sein Schweigen beibehielt, kam eine weitere schlanke Gestalt
zu ihm. Mit einer Handbewegung wurde eine kleine blaue Blume auf ihn
geworfen. Sie zielte auf seine Brust, aber landete dennoch auf seiner
Schulter. Lan WangJi fing auch diese auf. Als er sich umdrehte, um zu
ihr zu sehen, kicherte die Frau, bevor sie sich ohne ein bisschen
Verlegenheit davon machte.
Beim dritten
Mal war es ein jüngeres Mädchen, das ihre Haare zu zwei Haarknoten
zusammengebunden trug. Sie hüpfte zu ihm hinüber und hielt in ihren
Armen einen Zweig mit roten Knospen. Sie floh, sobald sie diesen in
Richtung seiner Brust geworfen hatte.
Nach und
nach hatte Lan WangJi so bereits ein Bündel bunter Blumen gesammelt,
obwohl er immer noch ausdruckslos mitten auf der Straße stand. Alle
Kultivierenden, die HanGuang-Jun erkannt hatten, wagten nicht zu
lachen, selbst wenn sie wollten. Sie gaben vor, ernst zu sein, aber
ihre Augen ruhten weiterhin amüsiert auf ihm. Die einfachen Leute,
die ihn nicht erkannten, wiesen jedoch bereits auf ihn hin. Als Lan
WangJi mit gesenktem Blick nachdachte, spürte er plötzlich etwas
auf seinem Kopf.
Er hob die
Hand. Eine rosafarbene Pfingstrose auf dem Höhepunkt ihrer Blüte
war ihm fehlerlos mitten auf seinem Kopf gelandet.
Von einem
der Gebäude kam eine lachende Stimme: „Lan Zhan - ach, nein,
HanGuang-Jun - was für ein Zufall!“
Lan WangJi
sah auf und erblickte einen luftig geschnittenen Pavillon, der mit
vielen Schichten von Gazevorhängen ausgekleidet war. Ein schwarz
gekleideter Mann lag seitlich auf einem dunkelroten Diwan. Eine Hand
seines schlanken Körpers baumelte herab und hielt einen Krug aus
schwarzem Ton mit feinstem Schnaps. Die Hälfte der purpurroten
Quaste des Kruges war um den Arm gewickelt, während die andere
Hälfte in der Luft hin und her schwankte.
Als sie das
Gesicht von Wei WuXian sahen, wurde es den Jüngern, die die Szene
beobachtet hatten, unangenehm. Jeder wusste, dass der YiLing
Patriarch und HanGuang-Jun keine gute Beziehung miteinander hatten.
Wenn sie während der Sunshot-Kampagne zusammen gekämpft hatten,
hatten sie oft begonnen, miteinander zu streiten. Niemand wusste, was
diesmal passieren könnte. Im Moment bemühten sie sich nicht einmal
mehr, einen höflichen Anschein zu wahren und sie starrten die beiden
so intensiv an, wie sie nur konnten.
Lan WangJi
ging, entgegen ihrer Vermutung, nicht mit einem verächtlichen
Gesicht fort. Er sagte nur: „Du bist es.“
Wei WuXian,
„Ja, ich bin es! Jemand, der so etwas Lächerliches macht, kann
doch nur ich sein. Wo hast du die Zeit gefunden, nach Yunmeng zu
kommen? Wenn du nicht zu beschäftigt bist, dann komm doch zu mir
herauf und trink etwas mit mir.“
Ein paar
Mädchen umringten ihn, alle versuchten ebenfalls Platz zu finden auf
diesem Diwan, und lachten nach unten. „Ja, junger Meister, komm her
und trink etwas!“
Die Mädchen
waren es, die ihn zuvor mit Blumen beworfen hatten. Es war nicht
nötig zu sagen, wer die Person war, die ihnen gesagt hatte, dass sie
so etwas tun sollten.
Lan WangJi
senkte den Kopf, drehte sich um und ging weiter. Als Wei WuXian keine
Reaktion sah, war er überhaupt nicht überrascht. Mit einem
Schnalzen seiner Zunge rollte er vom Diwan herunter und trank noch
einen Schluck Alkohol aus seinem Krug. Ein paar Augenblicke später
erklangen eine Reihe von Schritten, mehr leicht als schwer, mehr
ruhig als gehetzt.
Mit festen
Schritten ging Lan WangJi die Treppe hinauf und öffnete die
Vorhänge, während er eintrat. Die eingearbeiteten Perlenstränge
darin schlugen sachte aneinander, fast melodisch.
Er legte das
Blumenbündel, das ihn getroffen hatte, auf einen kleinen Tisch,
„Deine Blumen.“
Wei WuXian
neigte seinen Körper, bis er den Tisch erreichen konnte: „Gern
geschehen. Ich werde sie dir geben. Das sind jetzt deine Blumen.“
Lan WangJi,
„Warum?“
Wei WuXian:
„Warum nicht? Ich wollte nur sehen, wie du auf so etwas reagierst.“
Lan WangJi,
„Lächerlich.“
Wei WuXian:
„Lächerlich ist genau das, was ich bin. Sonst wäre ich nicht so
gelangweilt gewesen, dich hier hochzubringen ... Hey, hey, geh nicht.
Du bist doch schon mal hier… möchtest du da nicht ein paar
Schlucke haben?“
Lan WangJi,
„Alkohol ist verboten.“
Wei WuXian:
„Ich weiß, dass Alkohol in deiner Sekte verboten ist, aber es ist
ja nicht so, als wären wir hier in den Wolken-Schluchten. Es ist in
Ordnung, wenn du welchen haben möchtest.“
Die Mädchen
holten sofort eine weitere Schale heraus. Nachdem sie sie voll
eingegossen hatten, stellten sie sie neben dem Blumenbündel ab. Lan
WangJi schien immer noch keine Anstalten zu machen, sich hinzusetzen,
aber er schien auch nicht gehen zu wollen.
Wei WuXian:
„Da bist du endlich einmal nach Yunmeng gekommen und hast nicht
einmal den köstlichen Alkohol hier probiert? Auch wenn der Alkohol
köstlich ist, wird er niemals mit dem ‚Lächeln des Kaisers‘ in
Gusu, wo du lebst, verglichen werden können. Das ist wirklich der
beste Alkohol. Wenn ich in Zukunft wieder die Möglichkeit habe, nach
Gusu zu reisen, dann werde ich auf jeden Fall ein halbes oder gar ein
Dutzend kaufen und alle gleichzeitig trinken. Sieh dich nur an - was
ist los mit dir? Die Sitze sind gleich da und du stehst noch. Magst
du dich nicht setzen?“
Die Mädchen
drängten ihn weiter: „Setzt euch, ja?“ „Setzt euch.“
Lan WangJis
helle Augen betrachteten die sinnlichen Mädchen kalt. Gleich darauf
landete sein Blick auf der kohlschwarzen Flöte, an der eine rote
Quaste baumelte, neben Wei WuXians Taille. Seine Augen schauten nach
unten, als überlegte er sich gerade die beste Formulierung. Als Wei
WuXian dies sah, hob er eine Braue und konnte bereits schon erraten,
was er als nächstes sagen würde.
Wie er es
erwartet hatte, sagte Lan WangJi langsam: „Du solltest dich nicht
zu lange der Gesellschaft von unmenschlichen Wesen aussetzen.“
Das Lächeln
der Mädchen, die in der näheren Umgebung von Wei WuXian kicherten,
verschwand sofort.
Die
Gazevorhänge schwankten im Wind und blockierten zeitweise das
Sonnenlicht. Die Schatten im Pavillon bewegten sich zwischen hell und
dunkel. Ihre schneeweißen Wangen wirkten jetzt etwas zu blass und
blutleer, so dass sie fast aschfahl erschienen. Ihre Blicke klebten
ebenfalls an Lan WangJi. Aus heiterem Himmel war eine schauerliche
Unheimlichkeit aufgekommen.
Wei WuXian
hob die Hand und bedeutete ihnen, sich zur Seite zu bewegen. Er
schüttelte den Kopf, während er sprach: „Lan Zhan, du wirst immer
langweiliger, je älter du wirst. Du bist doch noch so jung. Es ist
ja nicht so, dass du schon ein Greis von Siebzig bist. Hör also
einmal auf, deinen Onkel die ganze Zeit zu kopieren und nichts
anderes zu tun, als andere zu beschimpfen.“
Lan WangJi
drehte sich um und ging einen Schritt näher an ihn heran. „Wei
Ying, es wäre immer noch am besten, wenn du mit mir nach Gusu
zurückkehren würdest.“
„…“
Wei WuXian:
„Ich habe das schon lange nicht mehr gehört. Die Sunshot-Kampagne
ist bereits vorbei. Ich dachte, du hättest längst aufgegeben.“
Lan WangJi,
„Hast du beim letzten Mal, während der Jagd auf dem Phoenix Berg
bestimmte Anzeichen bemerkt?“
Wei WuXian,
„Was für Anzeichen?“
Lan WangJi,
„Kontrollverlust.“
Wei WuXian,
„Du meinst, dass ich mich fast mit Jin ZiXuan geschlagen hätte?
Ich glaube, du hast da etwas falsch verstanden. Ich möchte Jin
ZiXuan immer schlagen, sobald ich ihn sehe.“
Lan WangJi:
„Und die Dinge, die du danach gesagt hast?“
Wei WuXian,
„Was für Dinge? Ich sage jeden Tag so viele Dinge. Ich habe die
Dinge, die ich vor zwei Monaten gesagt habe, längst wieder
vergessen.“
Lan WangJi
sah ihn an, als könnte er sofort sagen, dass er dieses Thema nicht
ernst nahm. Er atmete tief ein, „Wei Ying.“
Hartnäckig
fuhr er fort: „Der Geisterpfad schadet dem Körper und dem Herzen.“
Wei WuXian
schien, als würde sein Kopf anfangen zu schmerzen: „Lan Zhan, du…
Ich habe mehr als genug von diesen Worten gehört, die du ständig
sagst, und du hast anscheinend immer noch das Gefühl, dass du sie
noch nicht oft genug gesagt hast?! Du sagst, es schadet dem Körper,
aber es geht mir jetzt gut. Du sagst, dass es dem Herzen schadet,
aber ich bin nicht rasend geworden, oder?“
Lan WangJi:
„Es ist noch nicht zu spät. In der Zukunft, könntest du es
bereuen...“
Ohne auf das
Ende seines Satzes zu warten, änderte sich der Ausdruck von Wei
WuXian. Plötzlich stand er auf: „Lan Zhan!“
Hinter ihm
begannen die Augen der Mädchen in einem roten Licht zu leuchten. Wei
WuXian, „Hört auf damit.“
So senkten
die Mädchen den Kopf und zogen sich zurück, aber sie starrten Lan
WangJi unbeirrt an. Wei WuXian wandte sich an ihn: „Was kann ich
sagen? Auch wenn ich nicht denke, dass ich es bereuen werde, mag ich
es nicht, wenn die Leute mir sagen, wie es mir in der Zukunft gehen
wird.“
Nach einer
Weile des Schweigens antwortete Lan WangJi: „Ich bin derjenige, der
über das Ziel hinausgeschossen ist.“
Wei WuXian:
„Eigentlich nicht. Aber in der Tat sieht es so aus, als hätte ich
dich nicht hierher eingeladen sollen. Heute war es wegen meiner
Vermessenheit.“
Lan WangJi,
„War es nicht.“
Wei WuXian
lächelte, seine Worte waren höflich: „Wirklich? Das ist gut so.“
Mit einem
Zug leerte er eine halbe Schale Schnaps, die noch übrig war: „Aber
egal, ich sollte dir trotzdem danken. Ich nehme an, dass es nur daran
liegt, dass du um mich besorgt bist.“
Wei WuXian
winkte mit der Hand ab: „Dann werde ich HanGuang-Jun nicht mehr
länger aufhalten. Man trifft sich wieder, wenn sich einmal die
Chance dazu ergibt.“
Als Wei
WuXian zum Lotus Pier zurückkehrte, polierte Jiang Cheng gerade sein
Schwert. Er hob seinen Blick: „Du bist schon zurück?“
Wei WuXian,
„Ich bin zurück.“
Jiang Cheng:
„Dein Miene sieht schrecklich aus. Sag mir nicht, dass du Jin
ZiXuan getroffen hast?!“
Wei WuXian,
„Schlimmer als Jin ZiXuan. Rate wer.“
Jiang Cheng,
„Gib mir einen Hinweis.“
Wei WuXian,
„Will mich einsperren.“
Jiang Cheng
runzelte die Stirn. „Lan Zhan? Warum ist er in Yunmeng?“
Wei WuXian,
„Keine Ahnung. Er ist da draußen auf der Straße unterwegs und
sucht wahrscheinlich jemanden. Nach der Sunshot-Kampagne hat er
dieses Thema so lange nicht mehr angesprochen gehabt. Jetzt fängt er
schon wieder damit an.“
Jiang Cheng,
„Es ist deine Schuld, weil du ihn zu dir gerufen hast.“
Wei WuXian,
„Woher willst du wissen, dass ich ihn zuerst gerufen habe?“
Jiang Cheng:
„Müssen wir uns das überhaupt fragen? Wann bist du es denn jemals
nicht gewesen? Zudem bist du auch merkwürdig. Jedes Mal, wenn du
dich von ihm im Streit getrennt hast, versuchst du anschließend
immer noch, ihn weiterhin zu ärgern. Warum tust du das?“
Wei WuXian
dachte darüber nach: „Mach ich mich lächerlich?“
Jiang Cheng
verdrehte die Augen und dachte bei sich selbst: Du weißt es doch
selbst.
Sein Blick
richtete sich wieder auf sein Schwert. Wei WuXian, „Wie oft musst
du eigentlich am Tag dein Schwert polieren?“
Jiang Cheng,
„Dreimal. Und dein Schwert? Wie lange ist es her, seit dem du es
das letzte Mal poliert hast?“
Wei WuXian
nahm eine Birne und biss hinein: „Es liegt auf meinem Zimmer.
Einmal im Monat ist vollkommen ausreichend.“
Jiang Cheng,
„Trage dein Schwert bitte ab jetzt bei wichtigen Ereignissen wie
Jagden oder Diskussionskonferenzen. Das ist ein schlechtes Beispiel
für mangelnde Disziplin, über das die anderen lachen.“
Wei WuXian:
„Es ist ja nicht so, als ob du es nicht wüsstest. Ich hasse es am
meisten, wenn mich andere zwingen, Dinge zu tun. Je mehr sie mich
zwingen, etwas zu tun, desto weniger möchte ich es tun. Ich werde
mein Schwert nicht tragen - was willst du nun schon dagegen machen?“
Jiang Cheng
funkelte ihn an. Wei WuXian fügte hinzu: „Und ich möchte nicht
von Leuten in einen Schwertkampf hineingezogen werden, die ich nicht
einmal kenne. Immer wenn ich mein Schwert ziehen muss, fließt Blut.
Wenn sie mir daher also nicht ein paar Leute zum Töten dazugeben,
kann‘s doch niemanden stören. Also werde ich es einfach nicht
mitnehmen. Das löst alle Probleme und es ist besser so.“
Jiang Cheng,
„Hast du es früher nicht geliebt, deine Schwertkünste vor anderen
zu zeigen?“
Wei WuXian,
„Ich war früher ein Kind. Ich kann ja nicht für immer ein Kind
bleiben, oder?“
Jiang Cheng
grinste: „Dann trag dein Schwert nicht. Es spielt keine Rolle Aber
provoziere Jin ZiXuan von jetzt an nicht mehr. Schließlich ist er
Jin GuangShans einzig anerkannter Sohn. Er wird der zukünftige
Anführer der LanlingJin-Sekte sein. Wenn du ihn verprügelst, was
soll dann ich, der Sektenführer, tun? Ihn mit dir zusammen
verprügeln? Oder dich bestrafen?“
Wei WuXian:
„Ist Jin GuangYao denn jetzt nicht hier? Jin GuangYao scheint mir
so viel besser als er zu sein.“
Jiang Cheng
wischte sein Schwert ab. Nachdem er es eine Weile unter die Lupe
genommen hatte, steckte er Sandu schließlich wieder in die Scheide.
„Und was ist schon dabei, wenn er besser wäre? Egal wie viel
besser er ist, egal wie klug er ist, er kann immer nur ein Diener
sein, der die Gäste begrüßt. Das ist alles was ihm in seinem Leben
bleibt. Er kann sich nicht mit Jin ZiXuan vergleichen.“
Wei WuXian
fand, dass das Gesagte über Jin ZiXuan sogar ein wenig wie eine
Belobigung klang: „Jiang Cheng, sei ehrlich zu mir - was meinst du
damit? Letztes Mal hast du dir alle Mühe gegeben, um Shijie dorthin
mitnehmen zu können. Du kannst doch nicht wollen, dass Shijie…?“
Jiang Cheng:
„Es ist nicht unmöglich.“
Wei WuXian:
„Es ist nicht unmöglich? Hast du vergessen, was er in Langya
gemacht hat? Und du sagst mir, dass es nicht unmöglich ist?“
Jiang Cheng,
„Er bereut es wahrscheinlich.“
Wei WuXian,
„Wen kümmert es, ob er es bereut. Müssen wir ihm vergeben, nur
weil er sich entschuldigt hat? Schau dir an, wie sein Vater ist.
Vielleicht wird er in der Zukunft auch so ein gottverdammter Mann
sein, der seine Zeit damit verbringt jeder Frau hinterherzujagen. Und
dann wäre Shijie bei ihm? Könntest du das in Kauf nehmen?“
Jiang Chengs
Stimme war eiskalt: „Mal sehen, ob er sich so etwas traut!“
Nach einer
Pause sah Jiang Cheng ihn an, bevor er fortfuhr: „Aber es ist nicht
so, dass du ein Mitspracherecht hättest, ob ihm vergeben wird oder
nicht. Schwester mag ihn, also was können wir da schon tun?“
Sofort war
Wei WuXian sprachlos. Eine Weile später quälte er sich ein paar
Worte heraus: „Warum muss sie so etwas wie ihn mögen …“
Er warf die
Birne weg: „Wo ist Shijie?“
Jiang Cheng:
„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich an einem der herkömmlichen
Orte - entweder in der Küche oder im Schlafzimmer oder in der
Ahnenhalle. Wo könnte sie sonst auch schon hingehen?“
Wei WuXian
verließ die Trainingshalle. Zuerst ging er in die Küche. Ein halber
Krug dampfende Suppe kochte auf dem Feuer. Sie war nicht da. Dann
ging er zu Jiang YanLis Schlafzimmer. Sie war auch nicht da. Zuletzt
ging er in die Ahnenhalle. Da war sie.
Jiang YanLi
kniete in der Ahnenhalle. Sie reinigte die Gedenktafeln ihrer Eltern,
während sie flüsterte. Wei WuXian steckte seinen Kopf hinein:
„Shijie? Sprichst du wieder mit Onkel Jiang und Herrin Yu?“
Jiang YanLis
Stimme war leise: „Da keiner von euch beiden herkommt, muss ich das
natürlich tun.“
Wei WuXian
ging hinein. Er setzte sich neben sie und reinigte die Ablageflächen
mit ihr. Jiang YanLi sah ihn an: „A-Xian, warum siehst du mich so
an? Gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?“
Wei WuXian
grinste: „Nichts. Ich wollte hier nur ein bisschen rumrollen.“
Während er
sprach, rollte er sich wirklich auf dem Boden hin und her. Jiang
YanLi fragte: „XianXian, wie alt bist du noch einmal?“
Wei WuXian:
„Ich bin schon drei Jahre alt.“
Als er Jiang
YanLi zum Lachen brachte, setzte er sich endlich wieder auf. Nachdem
er eine Weile nachgedacht hatte, beschloss er immer noch, das Thema
anzusprechen: „Shijie, ich möchte dich etwas fragen.“
Jiang YanLi,
„Schieß los.“
Wei WuXian:
„Warum sollte jemand eine andere Person mögen? Ich meine diese
eine bestimmte Art von mögen.“
Jiang YanLi
machte eine kurze Pause und überlegte: „Warum fragst du mich
danach? Magst du jemanden? Was für ein Mädchen ist sie so?“
Wei WuXian,
„Nein. Ich mag niemanden. Zumindest nicht zu sehr. Wäre das nicht
das Gleiche, als würde man mir ein Halsband und eine Leine anlegen?“
Jiang YanLi,
„Drei Jahre scheint etwas zu alt zu sein. Wie wäre es mit einem?“
Wei WuXian,
„Nein, ich bin drei! Der dreijährige XianXian hat Hunger! Was soll
er nur tun?“
Jiang YanLi
kicherte: „In der Küche gibt es Suppe. Du könntest etwas davon
haben. Ist denn XianXian überhaupt schon dazu in der Lage, den Herd
zu erreichen?“
„Wenn ich
es nicht kann, dann kann Shijie mich einfach hochheben und dann werde
ich ihn schon erreichen können ...“
Während Wei
WuXian diesen Unsinn aussprach, trat Jiang Cheng zufällig in die
Ahnenhalle ein.
Als er das
hörte, spuckte er aus: „Wieder herumalbern! Dein Sektenführer,
das bin übrigens ich, hat dir bereits eine Schüssel eingegossen und
nach draußen gestellt. Knie vor mir nieder, um deine Dankbarkeit
auszudrücken und gehe dann deine Suppe draußen trinken.“
Wei WuXian
sprang nach draußen, bevor er sich wieder umdrehte und zurückkehrte:
„Was meinst du mit trinken, Jiang Cheng? Wo ist das Fleisch?“
Jiang Cheng,
„Hab ich aufgegessen. Es gibt nur noch Lotuswurzeln. Wenn du es
nicht willst, dann musst du es ja nicht essen.“
Wei WuXian
griff mit seinem Ellbogen an: „Spuck sofort das Fleisch aus!“
Jiang Cheng:
„Kein Problem. Ich werde es ausspucken und dann wollen wir doch mal
sehen, ob du es dann noch essen wirst!“
Als sie
bemerkte, dass sie wieder angefangen hatten zu streiten, unterbrach
Jiang YanLi schnell: „Okay, okay. Wie alt seit ihr zwei, dass ihr
euch um Fleisch streiten müsst? Ich mache einfach noch einen Topf….“
Die
Schweinerippensuppe, die Jiang YanLi zubereitet hatte, war das
Lieblingsessen von Wei WuXian. Abgesehen davon, dass sie wirklich
lecker war, lag es auch daran, dass er sich immer daran erinnerte,
was passiert war, als er sie zum ersten Mal gegessen hatte.
Es war nicht
lange nachdem Wei WuXian von Jiang FengMian aus Yiling zurückgebracht
worden war. Sobald er den Lotus Pier betreten hatte, sah er einen
stolzen jungen Meister, der auf dem Trainingsgelände herumlief und
ein paar angeleinte Welpen mit sich führte. Sofort bedeckte er mit
seinen Händen sein Gesicht, und er jammerte und brüllte sich bald
darauf seine Augen aus dem Kopf. Er saß den ganzen Tag auf Jiang
FengMians Arm und kam nicht herunter, egal, was sie auch versuchten.
Am zweiten Tag wurden die Welpen von Jiang Cheng an eine andere
Person weitergegeben.
Dies ärgerte
Jiang Cheng so sehr, dass er einen großen Wutanfall bekam. Egal, wie
sehr Jiang FengMian ihn sanft tröstete und ihm sagte, dass sie doch
‚gute Freunde sein sollten‘, weigerte er sich, mit Wei WuXian zu
sprechen. Einige Tage später wurde die Haltung von Jiang Cheng etwas
besser. Jiang FengMian wollte das Eisen schmieden, solange es noch
heiß war, und er wies Wei WuXian an, im selben Raum wie er zu
schlafen, in der Hoffnung, dass sie einander näher kommen würden.
Am Anfang,
obwohl er immer noch schmollte, stand Jiang Cheng kurz davor, dem
zuzustimmen. Aber das Schlimme war, das Jiang FengMian sich darüber
so freute, dass er Wei WuXian hochhob und ihn auf seinem Arm sitzen
ließ. Als Jiang Cheng das sah, war er sprachlos geschockt darüber.
Sofort hatte Herrin Yu bitter darüber gelacht und war aus dem Raum
gegangen. Nur weil das Ehepaar wichtige Dinge zu erledigen hatte und
deshalb eilig abreisen musste, war es zu keinem weiteren Streit
gekommen.
In dieser
Nacht sperrte Jiang Cheng Wei WuXian aus seinem Zimmer aus und
weigerte sich, ihn hereinzulassen.
Wei WuXian
klopfte an die Tür. „Shidi, Shidi, lass mich rein. Ich möchte
schlafen.“
Aus dem
Inneren des Zimmers rief Jiang Cheng mit dem Rücken zur Tür: „Wer
ist hier dein Shidi?! Gib mir Prinzessin zurück, gib mir Jasmin
zurück, gib mir Liebe zurück!“
Prinzessin,
Jasmin und Liebe waren alles die Welpen gewesen, die er früher
besessen hatte. Wei WuXian wusste, dass Jiang FengMian sie wegen ihm
weggeschickt hatte. Er flüsterte: „Es tut mir leid. Aber… Aber
ich habe wirklich Angst vor ihnen…“
In Jiang
Chengs Erinnerungen würde die gesamte Anzahl, wann er einmal auf den
Arm von Jiang FengMian gehoben worden war, nicht einmal fünf
betragen. Jedes einzelne Mal hatte ausgereicht, um ihn für Monate
glücklich zu machen. In ihm brannte ein Feuer, das ihn nicht mehr
loslassen wollte. Alles, was er sich fragte, war immer wieder ‚warum,
warum, warum‘.
Plötzlich
sah er, dass sich in seinem Zimmer noch eine andere Bettwäsche
befand, die nicht seine eigene war. Der Zorn und die Empörung
darüber legten sich über ihn und er zwang sich, Wei WuXians Laken
und Decken aufzuheben. Wei WuXian wartete sehr lange draußen. Als
sich die Tür öffnete, und noch bevor sich darüber Freude auf
seinem Gesicht ausbreiten konnte, wurde er mit einem Haufen von
Sachen bombardiert, die allesamt herausgeworfen wurden. Die Tür
schlug wieder zu.
Jiang Cheng
sagte ihm von innen: „Schlaf woanders! Das ist mein Zimmer! Willst
du mir jetzt sogar auch noch mein Zimmer stehlen?!“
Zu dieser
Zeit wusste Wei WuXian nicht, warum Jiang Cheng gerade so wütend
war. Nach einer Pause antwortete er: „Ich habe nichts gestohlen. Es
war Onkel Jiang, der mir gesagt hat, ich soll bei dir schlafen.“
Als er
hörte, dass er nun auch noch seinen Vater bei dieser Angelegenheit
erwähnte, als würde er hier absichtlich etwas vorspielen, röteten
sich Jiang Chengs Augen, während er rief: „Geh weg! Wenn ich dich
wieder sehe, rufe ich ein paar Hunde her, um dich zu beißen!“
Während er
draußen stand, hörte Wei WuXian, dass nun Hunde kommen würden, um
ihn zu beißen, und daher packte ihn eine unglaubliche Angst. Nervös
knetete er seine Finger und sagte schnell: „Ich gehe, ich gehe. Ruf
nicht die Hunde her!“
Die Laken
und die Decke, die nach draußen geworfen worden waren, mit sich
mitschleppend rannte er durch den Flur. Nachdem er erst vor kurzer
Zeit an den Lotus Pier gekommen war, wagte er es sich noch nicht,
hier einfach so herum zu streunen.
Jeden Tag
war er gehorsam an den Orten geblieben, an denen Jiang FengMian ihn
gebeten hatte, zu bleiben. Er wusste nicht einmal, wo sich sein
Zimmer befand, und hatte noch weniger den Mut, an den Türen anderer
Leute zu klopfen. Er hatte Angst, dass er die Träume der Menschen
stören würde.
Nachdem er
eine Weile nachgedacht hatte, ging er zu einer Ecke des Flurs, in der
es nicht zu zugig war, legte seine Laken nieder und legte sich genau
dort hin. Aber je länger er dort lag, desto lauter hallte Jiang
Chengs ‚Rufe ich ein paar Hunde her, um dich zu beißen!‘ in
seinem Kopf wider. Wei WuXian wurde immer ängstlicher, je mehr er
darüber nachdachte. Er krabbelte unter die Decke und warf sich hin
und her. Er hatte das Gefühl, dass ein Haufen Hunde ihn umzingelten,
wann immer er ein einzelnes Geräusch hörte. Nach einer Weile der
Qual fühlte er, dass er nicht länger dort bleiben konnte. Er sprang
auf, rollte die Laken zusammen, faltete die Decke zusammen und
flüchtete aus dem Lotus Pier.
Keuchend und
schnaufend rannte er einige Zeit durch den Nachtwind. Als er einen
Baum sah, kletterte er ohne Bedenken daran hoch. Er hielt sich mit
allen vier Gliedmaßen am Stamm fest und kletterte, und beruhigte
sich erst ein wenig, nachdem er das Gefühl hatte, dass er hoch genug
oben war. Er wusste nicht, wie lange er den Baum klammernd umarmt
hatte, als plötzlich eine sanfte Stimme seinen Namen aus der Ferne
rief. Die Stimme kam näher und näher. Nicht viel später erschien
ein weiß gekleidetes Mädchen mit einer Laterne in der Hand unter
dem Baum.
Wei WuXian
erkannte, dass dies die Schwester von Jiang Cheng war. Er blieb still
und hoffte, dass sie ihn nicht finden würde. Trotzdem rief Jiang
YanLi noch immer: „Bist du das, A-Ying? Was machst du dort oben?“
Wei WuXian
blieb stumm. Jiang YanLi hob die Laterne etwas höher: „Ich habe
dich gesehen. Du hast deinen Schuh unter dem Baum gelassen.“
Wei WuXian
warf einen Blick auf seinen linken Fuß und rief schließlich: „Mein
Schuh!“
Jiang YanLi:
„Du könntest herunterkommen. Lass uns zurückgehen.“
Wei WuXian:
„Ich… ich komme nicht runter. Da gibt es Hunde.“
Jiang YanLi:
„A-Cheng hat sich das alles nur ausgedacht. Es gibt keine Hunde. Du
brauchst dort nicht zu sitzen. Deine Arme werden bald zu schmerzen
anfangen, und dann fällst du noch herunter.“
Egal was sie
sagte, Wei WuXian klammerte sich weiterhin an den Baum und weigerte
sich, herunterzukommen. Aus Angst, dass er sich selbst verletzen
würde, und zu besorgt, um einfach gehen zu können, stellte Jiang
YanLi die Laterne unter den Baum und streckte die Arme aus, um ihn
auffangen zu können. Dreißig Minuten später schmerzten Wei WuXians
Hände. Er ließ den Baumstamm los und fiel herunter. Jiang YanLi
beeilte sich, ihn noch zu erwischen, doch Wei WuXian landete mit
einem lauten Plumps auf dem Boden. Er rollte ein paar Mal hin und
her, umklammerte dabei sein Bein und jammerte: „Mein Bein ist
gebrochen!“
Jiang YanLi
tröstete ihn: „Es ist nicht gebrochen. Es sollte nicht einmal
angeknackst sein.. Tut es sehr weh? Es ist alles in Ordnung. Beweg
dich nicht. Ich werde dich zurücktragen.“
Wei WuXian
dachte immer noch an die Hunde und schluchzte: „Sind ... Sind die
Hunde da ...“
Jiang YanLi
versprach immer wieder: „Nein. Wenn Hunde kommen, werde ich sie für
dich verjagen.“
Sie hob den
Schuh auf, den Wei WuXian unter dem Baum gelassen hatte, „Warum
hast du denn deinen Schuh verloren? Passt er nicht?“
Wei WuXian
zwang die Tränen des Schmerzes zurück, „Nein. Sie passen.“
In Wahrheit
passten sie nicht. Sie waren einige Größen zu groß. Dies war
jedoch das erste Paar Schuhe, das Jiang FengMian ihm gekauft hatte.
Wei WuXian war es zu peinlich, ihn darum zu bitten, ihm ein anderes
Paar zu kaufen, und er sagte, dass sie nicht zu groß seien. Jiang
YanLi half ihm in seinen Schuh und drückte auf die hohle Spitze:
„Sie sind ein bisschen zu groß. Ich werde sie für dich richten,
wenn wir zurückgekommen sind.“
Als Wei
WuXian dies hörte, fühlte er sich etwas unbehaglich, als würde er
wieder etwas falsch machen. Wenn man schon in den Häusern anderer
Leute war, war es das Schlimmste, wenn man dem Gastgeber Ärger
bereitete.
Jiang YanLi
legte ihn auf ihren Rücken und ging zurück. Sie taumelte in ihren
Schritten, während sie sagte: „A-Ying, egal was A-Cheng zu dir
gesagt hat, kümmere dich nicht um ihn. Er hat nicht die besten
Charaktereigenschaften, also spielt er immer alleine zu Hause. Diese
Welpen waren sein liebstes Spielzeug. Papa hat sie nun weggeschickt,
und er regt sich deswegen auf. Doch in Wahrheit ist er wirklich froh,
dass jemand hier ist, um mit ihm zusammen zu sein. Du bist hier nach
draußen gelaufen und lange nicht mehr zurückgekommen. Er hat mich
geweckt und ich bin nur gekommen, um dich zu suchen, weil er sich
Sorgen gemacht hat, dass dir etwas zugestoßen sein könnte.“
In
Wirklichkeit war Jiang YanLi nur zwei oder drei Jahre älter als er.
Sie war damals erst zwölf oder dreizehn gewesen. Obwohl sie selbst
auch nur ein Kind war, sprach sie natürlich wie eine erwachsene
Person und versuchte so, dass er sich besser fühlte. Ihr Körperbau
war ziemlich klein, ziemlich schlank und sie hatte auch nicht viel
Kraft. Sie taumelte gelegentlich und musste anhalten, um Wei WuXians
Oberschenkel wieder hochzuschieben, damit er nicht herunterrutschte.
Doch als Wei WuXian sich auf ihrem Rücken befand, fühlte er sich
unvergleichlich sicher, fast sicherer, als wenn er auf Jiang
FengMians Arm saß.
Plötzlich
trug der Nachtwind eine Reihe von Schluchzern mit sich. Jiang YanLi
erzitterte vor Angst: „Was war das für ein Geräusch? Hast du es
auch gehört?“
Wei WuXian
sagte: „Ich habe es gehört. Es kam aus dieser Grube!“
Die beiden
gingen zu der Grube und schauten vorsichtig hinein. Eine kleine
Silhouette lag verdeckt darin. Als er seinen Kopf hob, konnten sie
zwei Streifen auf seinem schmutzigen Gesicht sehen, die von seinen
Tränen sauber gewaschen worden waren.
Er würgte:
„... Schwester!“
Jiang YanLi
seufzte erleichtert: „A-Cheng, habe ich dir nicht gesagt, dass du
andere holen und mit ihnen zusammen nach ihm suchen sollst?“
Jiang Cheng
schüttelte nur den Kopf. Nachdem Jiang YanLi gegangen war, hatte er
eine Weile gewartet. Er hatte das Gefühl gehabt, auf einem
Nadelkissen zu sitzen, und daher beschlossen, ihnen nachzulaufen.
Während er jedoch viel zu schnell rannte und zudem vergessen hatte,
eine Laterne mitzunehmen, stolperte er etwa auf halber Strecke und
fiel in eine Grube. Er hatte auch eine Schramme am Kopf.
Jiang YanLi
streckte ihren Arm aus und zog ihren jüngeren Bruder aus der Grube.
Sie zog ein Taschentuch hervor und legte es gegen seine blutende
Stirn. Jiang Cheng schien in einem schlechten Zustand zu sein. Seine
schwarzen Pupillen richteten sich auf Wei WuXian. Jiang YanLi, „Gibt
es da etwas, was du A-Ying noch nicht erzählt hast?“
Jiang Cheng
drückte das Taschentuch auf die Stirn und murmelte mit leiser
Stimme: „… Es tut mir leid.“
Jiang YanLi,
„Hilfst du A-Ying, später die Bettwäsche und die Decke
zurückzubringen, ja?“
Jiang Cheng
schmollte: „Ich habe sie schon zurückgebracht ...“
Beide hatten
sich die Beine verletzt und konnten nicht gehen. Sie waren immer noch
ein ganzes Stück von Lotus Pier entfernt, so dass Jiang YanLi nun
einen auf dem Rücken und den anderen in den Armen tragen musste.
Sowohl Wei WuXian als auch Jiang Cheng schlangen ihre Arme um ihren
Hals. Nach wenigen Schritten musste sie innehalten und Luft holen,
„Was soll ich nur mit euch beiden machen?“
Ihrer beider
Augen waren immer noch voller Tränen. Mitleidig umarmten sie ihren
Hals noch fester.
Endlich,
Schritt für Schritt, gelang es ihr schließlich, ihre beiden Brüder
zurück zum Lotus Pier zu tragen. Mit leiser Stimme weckte sie den
Arzt und bat ihn, die Wunden von Wei WuXian und Jiang Cheng zu
verbinden. Danach wiederholte sie unzählige Male „Entschuldigung“
und „Danke“, bevor sie vom Arzt zurückgingen.
Jiang Cheng
sah auf Wei WuXians Beine und war deswegen ziemlich nervös. Wenn ein
anderer Jünger oder ein anderer Diener davon erfuhr und es Jiang
FengMian erzählte, und nachdem Jiang FengMian dann erfahren würde,
wie er Wei WuXians Bettwäsche weggeworfen und er deswegen an seiner
Beinverletzung Schuld hatte, dann würde ihn Jiang FengMian definitiv
noch weniger mögen.
Dies war
auch der Grund, warum er niemanden holen gegangen und ihnen alleine
nachgelaufen war. Als er sah, wie besorgt er schien, ergriff Wei
WuXian die Initiative: „Entspann dich. Ich werde es Onkel Jiang
nicht erzählen. Ich habe mich nur verletzt, weil ich letzte Nacht
plötzlich auf einen Baum klettern wollte.“
Als Jiang
Cheng dies hörte, seufzte er erleichtert. Er schwor: „Du kannst
dich von jetzt an auch entspannen. Immer wenn ich einen Hund sehe,
werde ich ihn für dich verjagen!“
Jiang YanLi
sah, wie die beiden sich endlich versöhnten. „Das ist die richtige
Einstellung.“
Die beiden
waren fast die halbe Nacht wach gewesen und hungrig geworden. So ging
Jiang YanLi in die Küche und beschäftigte sich dort eine Weile,
lief dabei auf Zehenspitzen herum. Sie wärmte eine Schüssel mit
Lotus-Schweinerippensuppe für jeden von ihnen auf.
Das Aroma
schien sich um sein Herz zu wickeln und verweilte.
Wei WuXian
setzte sich in den Hof und stellte die leere Schüssel auf den Boden.
Er starrte hoch zu den Sternen, die über den Himmel verstreut waren,
und lächelte dann.
Als er Lan
WangJi auf der Straße begegnet war, hatte er sich an die vielen
Dinge erinnert, während er noch in den Wolken-Schluchten studiert
hatte.
Aus einer
Laune heraus hatte er Lan WangJi angehalten und hatte auch ihre
Unterhaltung auf diese Tage richten wollen. Aber Lan WangJi erinnerte
ihn daran, dass nun alles anders war als damals.
Während er
jedoch zu den Jiang-Geschwistern auf den Lotus Pier zurückkehrt war,
hatte er die Illusion, dass sich überhaupt nichts geändert hatte.
Wei WuXian
wollte plötzlich den Baum finden, den er einmal mitten in der Nacht
so umarmt hatte.
Er stand auf
und verließ das Trainingsgelände. Die Jünger auf seinem Weg
nickten ihm respektvoll zu. Alle sahen für ihn fremd aus. Der Shidi,
der Affen mochte und sich weigerte, richtig zu gehen; die Diener, die
Gesichter machten und nicht richtig grüßten - sie waren alle längst
verschwunden.
Auf dem
Trainingsgelände und vor den Toren des Lotus Piers befand sich ein
breiter Pier. Egal, ob Tag oder Nacht, am Pier gab es immer Händler,
die Lebensmittel verkaufen. Aus einem Topf mit brutzelndem Öl
entstieg ein wunderbares Aroma.
Wei WuXian
konnte nicht anders, als dorthin zu gehen und grinste: „Heute
kochst du wohl besonders große Portionen, nicht wahr?“
Der
Verkäufer grinste auch: „Junger Meister Wei, willst du eine
Schale? Ich werde es dir kostenlos geben. Du solltest mehr essen!“
Wei WuXian:
„Ich habe schon gegessen. Aber du kannst mir gerne dennoch etwas
geben.“
Neben dem
Verkäufer saß jemand, dessen gesamter Körper schmutzig wirkte.
Bevor Wei WuXian näher herankam, umklammerte diese Person ihre Knie,
während sie zitterte , als ob ihr kalt wäre und sie müde war.
Nachdem sie Wei WuXian sprechen gehört hatte, schoss ihr Kopf in die
Höhe.
Wei
WuXians Augen weiteten sich: „Du?!“
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