Mittwoch, 21. August 2019

Kapitel 71

Kapitel 71

Kapitel 71: Belohnung – Teil Drei
Blumen werfen vom Balkon

Zwei Monate später in Yunmeng.

Nach dem Zusammenbruch der QishanWen-Sekte verschwand die Stadt, die einst die blühendste aller Städte war, in nur einer Nacht wie Rauch und zerfiel in Trümmern. Eine große Anzahl von Kultivierenden suchte nach neuen Aktivitätsorten und siedelte sich in mehreren neuen Städten an.

Unter ihnen erhielten Lanling, Yunmeng, Gusu und Qinghe den größten Zustrom von Kultivierenden. Auf den Straßen eilten die Leute hin und her. Alle Jünger trugen Schwerter an ihren Taillen und redeten erhaben über das Schicksal der gegenwärtigen Welt. Alle waren in bester Stimmung.

Plötzlich senkten die Leute auf der Straße ihre Stimmen etwas. Gemeinsam schauten sie ans Ende der Straße. Von dort näherte sich langsam ein weiß gekleideter Mann mit Stirnband, Schwert und Zither.

Die Züge des Mannes waren von unvergleichlicher Anmut, aber als schien, als würden Frost und Schnee seine Figur umgeben. Noch bevor er näher kam, beruhigten sich die Kultivierenden und blickten respektvoll in seine Richtung. Die bekannteren unter ihnen machten sich tapfer auf und gingen ihm entgegen, um ihn zu grüßen: „HanGuang-Jun.“

Lan WangJi nickte leicht, erwiderte die Anrede ohne Zögern und hielt in seinem Schritt nicht inne. Die anderen Kultivierenden wagten es nicht, ihn zu sehr zu belästigen.

Plötzlich kam jedoch ein junges, lächelndes Mädchen gekleidet in leuchtenden Farben. Eilig streifte sie seine Schultern, warf ihm jedoch plötzlich etwas auf seinen Körper. Schnell erwischte Lan WangJi das Objekt. Er schaute in seine Hand und sah dort die Knospe einer Blume, die weiß wie Schnee war.

Die Knospe war zart und frisch und es haftete noch etwas Tau an ihr. Als Lan WangJi sein Schweigen beibehielt, kam eine weitere schlanke Gestalt zu ihm. Mit einer Handbewegung wurde eine kleine blaue Blume auf ihn geworfen. Sie zielte auf seine Brust, aber landete dennoch auf seiner Schulter. Lan WangJi fing auch diese auf. Als er sich umdrehte, um zu ihr zu sehen, kicherte die Frau, bevor sie sich ohne ein bisschen Verlegenheit davon machte.

Beim dritten Mal war es ein jüngeres Mädchen, das ihre Haare zu zwei Haarknoten zusammengebunden trug. Sie hüpfte zu ihm hinüber und hielt in ihren Armen einen Zweig mit roten Knospen. Sie floh, sobald sie diesen in Richtung seiner Brust geworfen hatte.

Nach und nach hatte Lan WangJi so bereits ein Bündel bunter Blumen gesammelt, obwohl er immer noch ausdruckslos mitten auf der Straße stand. Alle Kultivierenden, die HanGuang-Jun erkannt hatten, wagten nicht zu lachen, selbst wenn sie wollten. Sie gaben vor, ernst zu sein, aber ihre Augen ruhten weiterhin amüsiert auf ihm. Die einfachen Leute, die ihn nicht erkannten, wiesen jedoch bereits auf ihn hin. Als Lan WangJi mit gesenktem Blick nachdachte, spürte er plötzlich etwas auf seinem Kopf.
Er hob die Hand. Eine rosafarbene Pfingstrose auf dem Höhepunkt ihrer Blüte war ihm fehlerlos mitten auf seinem Kopf gelandet.

Von einem der Gebäude kam eine lachende Stimme: „Lan Zhan - ach, nein, HanGuang-Jun - was für ein Zufall!“

Lan WangJi sah auf und erblickte einen luftig geschnittenen Pavillon, der mit vielen Schichten von Gazevorhängen ausgekleidet war. Ein schwarz gekleideter Mann lag seitlich auf einem dunkelroten Diwan. Eine Hand seines schlanken Körpers baumelte herab und hielt einen Krug aus schwarzem Ton mit feinstem Schnaps. Die Hälfte der purpurroten Quaste des Kruges war um den Arm gewickelt, während die andere Hälfte in der Luft hin und her schwankte.

Als sie das Gesicht von Wei WuXian sahen, wurde es den Jüngern, die die Szene beobachtet hatten, unangenehm. Jeder wusste, dass der YiLing Patriarch und HanGuang-Jun keine gute Beziehung miteinander hatten. Wenn sie während der Sunshot-Kampagne zusammen gekämpft hatten, hatten sie oft begonnen, miteinander zu streiten. Niemand wusste, was diesmal passieren könnte. Im Moment bemühten sie sich nicht einmal mehr, einen höflichen Anschein zu wahren und sie starrten die beiden so intensiv an, wie sie nur konnten.

Lan WangJi ging, entgegen ihrer Vermutung, nicht mit einem verächtlichen Gesicht fort. Er sagte nur: „Du bist es.“


Wei WuXian, „Ja, ich bin es! Jemand, der so etwas Lächerliches macht, kann doch nur ich sein. Wo hast du die Zeit gefunden, nach Yunmeng zu kommen? Wenn du nicht zu beschäftigt bist, dann komm doch zu mir herauf und trink etwas mit mir.“

Ein paar Mädchen umringten ihn, alle versuchten ebenfalls Platz zu finden auf diesem Diwan, und lachten nach unten. „Ja, junger Meister, komm her und trink etwas!“

Die Mädchen waren es, die ihn zuvor mit Blumen beworfen hatten. Es war nicht nötig zu sagen, wer die Person war, die ihnen gesagt hatte, dass sie so etwas tun sollten.

Lan WangJi senkte den Kopf, drehte sich um und ging weiter. Als Wei WuXian keine Reaktion sah, war er überhaupt nicht überrascht. Mit einem Schnalzen seiner Zunge rollte er vom Diwan herunter und trank noch einen Schluck Alkohol aus seinem Krug. Ein paar Augenblicke später erklangen eine Reihe von Schritten, mehr leicht als schwer, mehr ruhig als gehetzt.

Mit festen Schritten ging Lan WangJi die Treppe hinauf und öffnete die Vorhänge, während er eintrat. Die eingearbeiteten Perlenstränge darin schlugen sachte aneinander, fast melodisch.

Er legte das Blumenbündel, das ihn getroffen hatte, auf einen kleinen Tisch, „Deine Blumen.“

Wei WuXian neigte seinen Körper, bis er den Tisch erreichen konnte: „Gern geschehen. Ich werde sie dir geben. Das sind jetzt deine Blumen.“

Lan WangJi, „Warum?“

Wei WuXian: „Warum nicht? Ich wollte nur sehen, wie du auf so etwas reagierst.“

Lan WangJi, „Lächerlich.“

Wei WuXian: „Lächerlich ist genau das, was ich bin. Sonst wäre ich nicht so gelangweilt gewesen, dich hier hochzubringen ... Hey, hey, geh nicht. Du bist doch schon mal hier… möchtest du da nicht ein paar Schlucke haben?“

Lan WangJi, „Alkohol ist verboten.“

Wei WuXian: „Ich weiß, dass Alkohol in deiner Sekte verboten ist, aber es ist ja nicht so, als wären wir hier in den Wolken-Schluchten. Es ist in Ordnung, wenn du welchen haben möchtest.“

Die Mädchen holten sofort eine weitere Schale heraus. Nachdem sie sie voll eingegossen hatten, stellten sie sie neben dem Blumenbündel ab. Lan WangJi schien immer noch keine Anstalten zu machen, sich hinzusetzen, aber er schien auch nicht gehen zu wollen.

Wei WuXian: „Da bist du endlich einmal nach Yunmeng gekommen und hast nicht einmal den köstlichen Alkohol hier probiert? Auch wenn der Alkohol köstlich ist, wird er niemals mit dem ‚Lächeln des Kaisers‘ in Gusu, wo du lebst, verglichen werden können. Das ist wirklich der beste Alkohol. Wenn ich in Zukunft wieder die Möglichkeit habe, nach Gusu zu reisen, dann werde ich auf jeden Fall ein halbes oder gar ein Dutzend kaufen und alle gleichzeitig trinken. Sieh dich nur an - was ist los mit dir? Die Sitze sind gleich da und du stehst noch. Magst du dich nicht setzen?“

Die Mädchen drängten ihn weiter: „Setzt euch, ja?“ „Setzt euch.“

Lan WangJis helle Augen betrachteten die sinnlichen Mädchen kalt. Gleich darauf landete sein Blick auf der kohlschwarzen Flöte, an der eine rote Quaste baumelte, neben Wei WuXians Taille. Seine Augen schauten nach unten, als überlegte er sich gerade die beste Formulierung. Als Wei WuXian dies sah, hob er eine Braue und konnte bereits schon erraten, was er als nächstes sagen würde.

Wie er es erwartet hatte, sagte Lan WangJi langsam: „Du solltest dich nicht zu lange der Gesellschaft von unmenschlichen Wesen aussetzen.“

Das Lächeln der Mädchen, die in der näheren Umgebung von Wei WuXian kicherten, verschwand sofort.

Die Gazevorhänge schwankten im Wind und blockierten zeitweise das Sonnenlicht. Die Schatten im Pavillon bewegten sich zwischen hell und dunkel. Ihre schneeweißen Wangen wirkten jetzt etwas zu blass und blutleer, so dass sie fast aschfahl erschienen. Ihre Blicke klebten ebenfalls an Lan WangJi. Aus heiterem Himmel war eine schauerliche Unheimlichkeit aufgekommen.

Wei WuXian hob die Hand und bedeutete ihnen, sich zur Seite zu bewegen. Er schüttelte den Kopf, während er sprach: „Lan Zhan, du wirst immer langweiliger, je älter du wirst. Du bist doch noch so jung. Es ist ja nicht so, dass du schon ein Greis von Siebzig bist. Hör also einmal auf, deinen Onkel die ganze Zeit zu kopieren und nichts anderes zu tun, als andere zu beschimpfen.“

Lan WangJi drehte sich um und ging einen Schritt näher an ihn heran. „Wei Ying, es wäre immer noch am besten, wenn du mit mir nach Gusu zurückkehren würdest.“

„…“

Wei WuXian: „Ich habe das schon lange nicht mehr gehört. Die Sunshot-Kampagne ist bereits vorbei. Ich dachte, du hättest längst aufgegeben.“

Lan WangJi, „Hast du beim letzten Mal, während der Jagd auf dem Phoenix Berg bestimmte Anzeichen bemerkt?“

Wei WuXian, „Was für Anzeichen?“

Lan WangJi, „Kontrollverlust.“

Wei WuXian, „Du meinst, dass ich mich fast mit Jin ZiXuan geschlagen hätte? Ich glaube, du hast da etwas falsch verstanden. Ich möchte Jin ZiXuan immer schlagen, sobald ich ihn sehe.“

Lan WangJi: „Und die Dinge, die du danach gesagt hast?“

Wei WuXian, „Was für Dinge? Ich sage jeden Tag so viele Dinge. Ich habe die Dinge, die ich vor zwei Monaten gesagt habe, längst wieder vergessen.“

Lan WangJi sah ihn an, als könnte er sofort sagen, dass er dieses Thema nicht ernst nahm. Er atmete tief ein, „Wei Ying.“

Hartnäckig fuhr er fort: „Der Geisterpfad schadet dem Körper und dem Herzen.“

Wei WuXian schien, als würde sein Kopf anfangen zu schmerzen: „Lan Zhan, du… Ich habe mehr als genug von diesen Worten gehört, die du ständig sagst, und du hast anscheinend immer noch das Gefühl, dass du sie noch nicht oft genug gesagt hast?! Du sagst, es schadet dem Körper, aber es geht mir jetzt gut. Du sagst, dass es dem Herzen schadet, aber ich bin nicht rasend geworden, oder?“

Lan WangJi: „Es ist noch nicht zu spät. In der Zukunft, könntest du es bereuen...“

Ohne auf das Ende seines Satzes zu warten, änderte sich der Ausdruck von Wei WuXian. Plötzlich stand er auf: „Lan Zhan!“


Hinter ihm begannen die Augen der Mädchen in einem roten Licht zu leuchten. Wei WuXian, „Hört auf damit.“

So senkten die Mädchen den Kopf und zogen sich zurück, aber sie starrten Lan WangJi unbeirrt an. Wei WuXian wandte sich an ihn: „Was kann ich sagen? Auch wenn ich nicht denke, dass ich es bereuen werde, mag ich es nicht, wenn die Leute mir sagen, wie es mir in der Zukunft gehen wird.“

Nach einer Weile des Schweigens antwortete Lan WangJi: „Ich bin derjenige, der über das Ziel hinausgeschossen ist.“

Wei WuXian: „Eigentlich nicht. Aber in der Tat sieht es so aus, als hätte ich dich nicht hierher eingeladen sollen. Heute war es wegen meiner Vermessenheit.“

Lan WangJi, „War es nicht.“

Wei WuXian lächelte, seine Worte waren höflich: „Wirklich? Das ist gut so.“

Mit einem Zug leerte er eine halbe Schale Schnaps, die noch übrig war: „Aber egal, ich sollte dir trotzdem danken. Ich nehme an, dass es nur daran liegt, dass du um mich besorgt bist.“

Wei WuXian winkte mit der Hand ab: „Dann werde ich HanGuang-Jun nicht mehr länger aufhalten. Man trifft sich wieder, wenn sich einmal die Chance dazu ergibt.“

Als Wei WuXian zum Lotus Pier zurückkehrte, polierte Jiang Cheng gerade sein Schwert. Er hob seinen Blick: „Du bist schon zurück?“

Wei WuXian, „Ich bin zurück.“

Jiang Cheng: „Dein Miene sieht schrecklich aus. Sag mir nicht, dass du Jin ZiXuan getroffen hast?!“

Wei WuXian, „Schlimmer als Jin ZiXuan. Rate wer.“

Jiang Cheng, „Gib mir einen Hinweis.“

Wei WuXian, „Will mich einsperren.“

Jiang Cheng runzelte die Stirn. „Lan Zhan? Warum ist er in Yunmeng?“

Wei WuXian, „Keine Ahnung. Er ist da draußen auf der Straße unterwegs und sucht wahrscheinlich jemanden. Nach der Sunshot-Kampagne hat er dieses Thema so lange nicht mehr angesprochen gehabt. Jetzt fängt er schon wieder damit an.“

Jiang Cheng, „Es ist deine Schuld, weil du ihn zu dir gerufen hast.“

Wei WuXian, „Woher willst du wissen, dass ich ihn zuerst gerufen habe?“

Jiang Cheng: „Müssen wir uns das überhaupt fragen? Wann bist du es denn jemals nicht gewesen? Zudem bist du auch merkwürdig. Jedes Mal, wenn du dich von ihm im Streit getrennt hast, versuchst du anschließend immer noch, ihn weiterhin zu ärgern. Warum tust du das?“

Wei WuXian dachte darüber nach: „Mach ich mich lächerlich?“

Jiang Cheng verdrehte die Augen und dachte bei sich selbst: Du weißt es doch selbst.

Sein Blick richtete sich wieder auf sein Schwert. Wei WuXian, „Wie oft musst du eigentlich am Tag dein Schwert polieren?“

Jiang Cheng, „Dreimal. Und dein Schwert? Wie lange ist es her, seit dem du es das letzte Mal poliert hast?“

Wei WuXian nahm eine Birne und biss hinein: „Es liegt auf meinem Zimmer. Einmal im Monat ist vollkommen ausreichend.“

Jiang Cheng, „Trage dein Schwert bitte ab jetzt bei wichtigen Ereignissen wie Jagden oder Diskussionskonferenzen. Das ist ein schlechtes Beispiel für mangelnde Disziplin, über das die anderen lachen.“

Wei WuXian: „Es ist ja nicht so, als ob du es nicht wüsstest. Ich hasse es am meisten, wenn mich andere zwingen, Dinge zu tun. Je mehr sie mich zwingen, etwas zu tun, desto weniger möchte ich es tun. Ich werde mein Schwert nicht tragen - was willst du nun schon dagegen machen?“

Jiang Cheng funkelte ihn an. Wei WuXian fügte hinzu: „Und ich möchte nicht von Leuten in einen Schwertkampf hineingezogen werden, die ich nicht einmal kenne. Immer wenn ich mein Schwert ziehen muss, fließt Blut. Wenn sie mir daher also nicht ein paar Leute zum Töten dazugeben, kann‘s doch niemanden stören. Also werde ich es einfach nicht mitnehmen. Das löst alle Probleme und es ist besser so.“

Jiang Cheng, „Hast du es früher nicht geliebt, deine Schwertkünste vor anderen zu zeigen?“

Wei WuXian, „Ich war früher ein Kind. Ich kann ja nicht für immer ein Kind bleiben, oder?“

Jiang Cheng grinste: „Dann trag dein Schwert nicht. Es spielt keine Rolle Aber provoziere Jin ZiXuan von jetzt an nicht mehr. Schließlich ist er Jin GuangShans einzig anerkannter Sohn. Er wird der zukünftige Anführer der LanlingJin-Sekte sein. Wenn du ihn verprügelst, was soll dann ich, der Sektenführer, tun? Ihn mit dir zusammen verprügeln? Oder dich bestrafen?“

Wei WuXian: „Ist Jin GuangYao denn jetzt nicht hier? Jin GuangYao scheint mir so viel besser als er zu sein.“

Jiang Cheng wischte sein Schwert ab. Nachdem er es eine Weile unter die Lupe genommen hatte, steckte er Sandu schließlich wieder in die Scheide. „Und was ist schon dabei, wenn er besser wäre? Egal wie viel besser er ist, egal wie klug er ist, er kann immer nur ein Diener sein, der die Gäste begrüßt. Das ist alles was ihm in seinem Leben bleibt. Er kann sich nicht mit Jin ZiXuan vergleichen.“

Wei WuXian fand, dass das Gesagte über Jin ZiXuan sogar ein wenig wie eine Belobigung klang: „Jiang Cheng, sei ehrlich zu mir - was meinst du damit? Letztes Mal hast du dir alle Mühe gegeben, um Shijie dorthin mitnehmen zu können. Du kannst doch nicht wollen, dass Shijie…?“

Jiang Cheng: „Es ist nicht unmöglich.“

Wei WuXian: „Es ist nicht unmöglich? Hast du vergessen, was er in Langya gemacht hat? Und du sagst mir, dass es nicht unmöglich ist?“

Jiang Cheng, „Er bereut es wahrscheinlich.“

Wei WuXian, „Wen kümmert es, ob er es bereut. Müssen wir ihm vergeben, nur weil er sich entschuldigt hat? Schau dir an, wie sein Vater ist. Vielleicht wird er in der Zukunft auch so ein gottverdammter Mann sein, der seine Zeit damit verbringt jeder Frau hinterherzujagen. Und dann wäre Shijie bei ihm? Könntest du das in Kauf nehmen?“

Jiang Chengs Stimme war eiskalt: „Mal sehen, ob er sich so etwas traut!“

Nach einer Pause sah Jiang Cheng ihn an, bevor er fortfuhr: „Aber es ist nicht so, dass du ein Mitspracherecht hättest, ob ihm vergeben wird oder nicht. Schwester mag ihn, also was können wir da schon tun?“

Sofort war Wei WuXian sprachlos. Eine Weile später quälte er sich ein paar Worte heraus: „Warum muss sie so etwas wie ihn mögen …“

Er warf die Birne weg: „Wo ist Shijie?“

Jiang Cheng: „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich an einem der herkömmlichen Orte - entweder in der Küche oder im Schlafzimmer oder in der Ahnenhalle. Wo könnte sie sonst auch schon hingehen?“

Wei WuXian verließ die Trainingshalle. Zuerst ging er in die Küche. Ein halber Krug dampfende Suppe kochte auf dem Feuer. Sie war nicht da. Dann ging er zu Jiang YanLis Schlafzimmer. Sie war auch nicht da. Zuletzt ging er in die Ahnenhalle. Da war sie.

Jiang YanLi kniete in der Ahnenhalle. Sie reinigte die Gedenktafeln ihrer Eltern, während sie flüsterte. Wei WuXian steckte seinen Kopf hinein: „Shijie? Sprichst du wieder mit Onkel Jiang und Herrin Yu?“

Jiang YanLis Stimme war leise: „Da keiner von euch beiden herkommt, muss ich das natürlich tun.“

Wei WuXian ging hinein. Er setzte sich neben sie und reinigte die Ablageflächen mit ihr. Jiang YanLi sah ihn an: „A-Xian, warum siehst du mich so an? Gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?“

Wei WuXian grinste: „Nichts. Ich wollte hier nur ein bisschen rumrollen.“

Während er sprach, rollte er sich wirklich auf dem Boden hin und her. Jiang YanLi fragte: „XianXian, wie alt bist du noch einmal?“

Wei WuXian: „Ich bin schon drei Jahre alt.“

Als er Jiang YanLi zum Lachen brachte, setzte er sich endlich wieder auf. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, beschloss er immer noch, das Thema anzusprechen: „Shijie, ich möchte dich etwas fragen.“

Jiang YanLi, „Schieß los.“

Wei WuXian: „Warum sollte jemand eine andere Person mögen? Ich meine diese eine bestimmte Art von mögen.“

Jiang YanLi machte eine kurze Pause und überlegte: „Warum fragst du mich danach? Magst du jemanden? Was für ein Mädchen ist sie so?“

Wei WuXian, „Nein. Ich mag niemanden. Zumindest nicht zu sehr. Wäre das nicht das Gleiche, als würde man mir ein Halsband und eine Leine anlegen?“

Jiang YanLi, „Drei Jahre scheint etwas zu alt zu sein. Wie wäre es mit einem?“

Wei WuXian, „Nein, ich bin drei! Der dreijährige XianXian hat Hunger! Was soll er nur tun?“

Jiang YanLi kicherte: „In der Küche gibt es Suppe. Du könntest etwas davon haben. Ist denn XianXian überhaupt schon dazu in der Lage, den Herd zu erreichen?“

Wenn ich es nicht kann, dann kann Shijie mich einfach hochheben und dann werde ich ihn schon erreichen können ...“

Während Wei WuXian diesen Unsinn aussprach, trat Jiang Cheng zufällig in die Ahnenhalle ein.

Als er das hörte, spuckte er aus: „Wieder herumalbern! Dein Sektenführer, das bin übrigens ich, hat dir bereits eine Schüssel eingegossen und nach draußen gestellt. Knie vor mir nieder, um deine Dankbarkeit auszudrücken und gehe dann deine Suppe draußen trinken.“

Wei WuXian sprang nach draußen, bevor er sich wieder umdrehte und zurückkehrte: „Was meinst du mit trinken, Jiang Cheng? Wo ist das Fleisch?“

Jiang Cheng, „Hab ich aufgegessen. Es gibt nur noch Lotuswurzeln. Wenn du es nicht willst, dann musst du es ja nicht essen.“

Wei WuXian griff mit seinem Ellbogen an: „Spuck sofort das Fleisch aus!“

Jiang Cheng: „Kein Problem. Ich werde es ausspucken und dann wollen wir doch mal sehen, ob du es dann noch essen wirst!“

Als sie bemerkte, dass sie wieder angefangen hatten zu streiten, unterbrach Jiang YanLi schnell: „Okay, okay. Wie alt seit ihr zwei, dass ihr euch um Fleisch streiten müsst? Ich mache einfach noch einen Topf….“

Die Schweinerippensuppe, die Jiang YanLi zubereitet hatte, war das Lieblingsessen von Wei WuXian. Abgesehen davon, dass sie wirklich lecker war, lag es auch daran, dass er sich immer daran erinnerte, was passiert war, als er sie zum ersten Mal gegessen hatte.

Es war nicht lange nachdem Wei WuXian von Jiang FengMian aus Yiling zurückgebracht worden war. Sobald er den Lotus Pier betreten hatte, sah er einen stolzen jungen Meister, der auf dem Trainingsgelände herumlief und ein paar angeleinte Welpen mit sich führte. Sofort bedeckte er mit seinen Händen sein Gesicht, und er jammerte und brüllte sich bald darauf seine Augen aus dem Kopf. Er saß den ganzen Tag auf Jiang FengMians Arm und kam nicht herunter, egal, was sie auch versuchten. Am zweiten Tag wurden die Welpen von Jiang Cheng an eine andere Person weitergegeben.
Dies ärgerte Jiang Cheng so sehr, dass er einen großen Wutanfall bekam. Egal, wie sehr Jiang FengMian ihn sanft tröstete und ihm sagte, dass sie doch ‚gute Freunde sein sollten‘, weigerte er sich, mit Wei WuXian zu sprechen. Einige Tage später wurde die Haltung von Jiang Cheng etwas besser. Jiang FengMian wollte das Eisen schmieden, solange es noch heiß war, und er wies Wei WuXian an, im selben Raum wie er zu schlafen, in der Hoffnung, dass sie einander näher kommen würden.

Am Anfang, obwohl er immer noch schmollte, stand Jiang Cheng kurz davor, dem zuzustimmen. Aber das Schlimme war, das Jiang FengMian sich darüber so freute, dass er Wei WuXian hochhob und ihn auf seinem Arm sitzen ließ. Als Jiang Cheng das sah, war er sprachlos geschockt darüber. Sofort hatte Herrin Yu bitter darüber gelacht und war aus dem Raum gegangen. Nur weil das Ehepaar wichtige Dinge zu erledigen hatte und deshalb eilig abreisen musste, war es zu keinem weiteren Streit gekommen.

In dieser Nacht sperrte Jiang Cheng Wei WuXian aus seinem Zimmer aus und weigerte sich, ihn hereinzulassen.

Wei WuXian klopfte an die Tür. „Shidi, Shidi, lass mich rein. Ich möchte schlafen.“

Aus dem Inneren des Zimmers rief Jiang Cheng mit dem Rücken zur Tür: „Wer ist hier dein Shidi?! Gib mir Prinzessin zurück, gib mir Jasmin zurück, gib mir Liebe zurück!“

Prinzessin, Jasmin und Liebe waren alles die Welpen gewesen, die er früher besessen hatte. Wei WuXian wusste, dass Jiang FengMian sie wegen ihm weggeschickt hatte. Er flüsterte: „Es tut mir leid. Aber… Aber ich habe wirklich Angst vor ihnen…“

In Jiang Chengs Erinnerungen würde die gesamte Anzahl, wann er einmal auf den Arm von Jiang FengMian gehoben worden war, nicht einmal fünf betragen. Jedes einzelne Mal hatte ausgereicht, um ihn für Monate glücklich zu machen. In ihm brannte ein Feuer, das ihn nicht mehr loslassen wollte. Alles, was er sich fragte, war immer wieder ‚warum, warum, warum‘.

Plötzlich sah er, dass sich in seinem Zimmer noch eine andere Bettwäsche befand, die nicht seine eigene war. Der Zorn und die Empörung darüber legten sich über ihn und er zwang sich, Wei WuXians Laken und Decken aufzuheben. Wei WuXian wartete sehr lange draußen. Als sich die Tür öffnete, und noch bevor sich darüber Freude auf seinem Gesicht ausbreiten konnte, wurde er mit einem Haufen von Sachen bombardiert, die allesamt herausgeworfen wurden. Die Tür schlug wieder zu.

Jiang Cheng sagte ihm von innen: „Schlaf woanders! Das ist mein Zimmer! Willst du mir jetzt sogar auch noch mein Zimmer stehlen?!“

Zu dieser Zeit wusste Wei WuXian nicht, warum Jiang Cheng gerade so wütend war. Nach einer Pause antwortete er: „Ich habe nichts gestohlen. Es war Onkel Jiang, der mir gesagt hat, ich soll bei dir schlafen.“

Als er hörte, dass er nun auch noch seinen Vater bei dieser Angelegenheit erwähnte, als würde er hier absichtlich etwas vorspielen, röteten sich Jiang Chengs Augen, während er rief: „Geh weg! Wenn ich dich wieder sehe, rufe ich ein paar Hunde her, um dich zu beißen!“

Während er draußen stand, hörte Wei WuXian, dass nun Hunde kommen würden, um ihn zu beißen, und daher packte ihn eine unglaubliche Angst. Nervös knetete er seine Finger und sagte schnell: „Ich gehe, ich gehe. Ruf nicht die Hunde her!“

Die Laken und die Decke, die nach draußen geworfen worden waren, mit sich mitschleppend rannte er durch den Flur. Nachdem er erst vor kurzer Zeit an den Lotus Pier gekommen war, wagte er es sich noch nicht, hier einfach so herum zu streunen.


Jeden Tag war er gehorsam an den Orten geblieben, an denen Jiang FengMian ihn gebeten hatte, zu bleiben. Er wusste nicht einmal, wo sich sein Zimmer befand, und hatte noch weniger den Mut, an den Türen anderer Leute zu klopfen. Er hatte Angst, dass er die Träume der Menschen stören würde.

Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, ging er zu einer Ecke des Flurs, in der es nicht zu zugig war, legte seine Laken nieder und legte sich genau dort hin. Aber je länger er dort lag, desto lauter hallte Jiang Chengs ‚Rufe ich ein paar Hunde her, um dich zu beißen!‘ in seinem Kopf wider. Wei WuXian wurde immer ängstlicher, je mehr er darüber nachdachte. Er krabbelte unter die Decke und warf sich hin und her. Er hatte das Gefühl, dass ein Haufen Hunde ihn umzingelten, wann immer er ein einzelnes Geräusch hörte. Nach einer Weile der Qual fühlte er, dass er nicht länger dort bleiben konnte. Er sprang auf, rollte die Laken zusammen, faltete die Decke zusammen und flüchtete aus dem Lotus Pier.

Keuchend und schnaufend rannte er einige Zeit durch den Nachtwind. Als er einen Baum sah, kletterte er ohne Bedenken daran hoch. Er hielt sich mit allen vier Gliedmaßen am Stamm fest und kletterte, und beruhigte sich erst ein wenig, nachdem er das Gefühl hatte, dass er hoch genug oben war. Er wusste nicht, wie lange er den Baum klammernd umarmt hatte, als plötzlich eine sanfte Stimme seinen Namen aus der Ferne rief. Die Stimme kam näher und näher. Nicht viel später erschien ein weiß gekleidetes Mädchen mit einer Laterne in der Hand unter dem Baum.

Wei WuXian erkannte, dass dies die Schwester von Jiang Cheng war. Er blieb still und hoffte, dass sie ihn nicht finden würde. Trotzdem rief Jiang YanLi noch immer: „Bist du das, A-Ying? Was machst du dort oben?“

Wei WuXian blieb stumm. Jiang YanLi hob die Laterne etwas höher: „Ich habe dich gesehen. Du hast deinen Schuh unter dem Baum gelassen.“

Wei WuXian warf einen Blick auf seinen linken Fuß und rief schließlich: „Mein Schuh!“

Jiang YanLi: „Du könntest herunterkommen. Lass uns zurückgehen.“

Wei WuXian: „Ich… ich komme nicht runter. Da gibt es Hunde.“

Jiang YanLi: „A-Cheng hat sich das alles nur ausgedacht. Es gibt keine Hunde. Du brauchst dort nicht zu sitzen. Deine Arme werden bald zu schmerzen anfangen, und dann fällst du noch herunter.“

Egal was sie sagte, Wei WuXian klammerte sich weiterhin an den Baum und weigerte sich, herunterzukommen. Aus Angst, dass er sich selbst verletzen würde, und zu besorgt, um einfach gehen zu können, stellte Jiang YanLi die Laterne unter den Baum und streckte die Arme aus, um ihn auffangen zu können. Dreißig Minuten später schmerzten Wei WuXians Hände. Er ließ den Baumstamm los und fiel herunter. Jiang YanLi beeilte sich, ihn noch zu erwischen, doch Wei WuXian landete mit einem lauten Plumps auf dem Boden. Er rollte ein paar Mal hin und her, umklammerte dabei sein Bein und jammerte: „Mein Bein ist gebrochen!“

Jiang YanLi tröstete ihn: „Es ist nicht gebrochen. Es sollte nicht einmal angeknackst sein.. Tut es sehr weh? Es ist alles in Ordnung. Beweg dich nicht. Ich werde dich zurücktragen.“

Wei WuXian dachte immer noch an die Hunde und schluchzte: „Sind ... Sind die Hunde da ...“

Jiang YanLi versprach immer wieder: „Nein. Wenn Hunde kommen, werde ich sie für dich verjagen.“

Sie hob den Schuh auf, den Wei WuXian unter dem Baum gelassen hatte, „Warum hast du denn deinen Schuh verloren? Passt er nicht?“

Wei WuXian zwang die Tränen des Schmerzes zurück, „Nein. Sie passen.“

In Wahrheit passten sie nicht. Sie waren einige Größen zu groß. Dies war jedoch das erste Paar Schuhe, das Jiang FengMian ihm gekauft hatte. Wei WuXian war es zu peinlich, ihn darum zu bitten, ihm ein anderes Paar zu kaufen, und er sagte, dass sie nicht zu groß seien. Jiang YanLi half ihm in seinen Schuh und drückte auf die hohle Spitze: „Sie sind ein bisschen zu groß. Ich werde sie für dich richten, wenn wir zurückgekommen sind.“

Als Wei WuXian dies hörte, fühlte er sich etwas unbehaglich, als würde er wieder etwas falsch machen. Wenn man schon in den Häusern anderer Leute war, war es das Schlimmste, wenn man dem Gastgeber Ärger bereitete.

Jiang YanLi legte ihn auf ihren Rücken und ging zurück. Sie taumelte in ihren Schritten, während sie sagte: „A-Ying, egal was A-Cheng zu dir gesagt hat, kümmere dich nicht um ihn. Er hat nicht die besten Charaktereigenschaften, also spielt er immer alleine zu Hause. Diese Welpen waren sein liebstes Spielzeug. Papa hat sie nun weggeschickt, und er regt sich deswegen auf. Doch in Wahrheit ist er wirklich froh, dass jemand hier ist, um mit ihm zusammen zu sein. Du bist hier nach draußen gelaufen und lange nicht mehr zurückgekommen. Er hat mich geweckt und ich bin nur gekommen, um dich zu suchen, weil er sich Sorgen gemacht hat, dass dir etwas zugestoßen sein könnte.“

In Wirklichkeit war Jiang YanLi nur zwei oder drei Jahre älter als er. Sie war damals erst zwölf oder dreizehn gewesen. Obwohl sie selbst auch nur ein Kind war, sprach sie natürlich wie eine erwachsene Person und versuchte so, dass er sich besser fühlte. Ihr Körperbau war ziemlich klein, ziemlich schlank und sie hatte auch nicht viel Kraft. Sie taumelte gelegentlich und musste anhalten, um Wei WuXians Oberschenkel wieder hochzuschieben, damit er nicht herunterrutschte. Doch als Wei WuXian sich auf ihrem Rücken befand, fühlte er sich unvergleichlich sicher, fast sicherer, als wenn er auf Jiang FengMians Arm saß.

Plötzlich trug der Nachtwind eine Reihe von Schluchzern mit sich. Jiang YanLi erzitterte vor Angst: „Was war das für ein Geräusch? Hast du es auch gehört?“

Wei WuXian sagte: „Ich habe es gehört. Es kam aus dieser Grube!“

Die beiden gingen zu der Grube und schauten vorsichtig hinein. Eine kleine Silhouette lag verdeckt darin. Als er seinen Kopf hob, konnten sie zwei Streifen auf seinem schmutzigen Gesicht sehen, die von seinen Tränen sauber gewaschen worden waren.
Er würgte: „... Schwester!“

Jiang YanLi seufzte erleichtert: „A-Cheng, habe ich dir nicht gesagt, dass du andere holen und mit ihnen zusammen nach ihm suchen sollst?“

Jiang Cheng schüttelte nur den Kopf. Nachdem Jiang YanLi gegangen war, hatte er eine Weile gewartet. Er hatte das Gefühl gehabt, auf einem Nadelkissen zu sitzen, und daher beschlossen, ihnen nachzulaufen. Während er jedoch viel zu schnell rannte und zudem vergessen hatte, eine Laterne mitzunehmen, stolperte er etwa auf halber Strecke und fiel in eine Grube. Er hatte auch eine Schramme am Kopf.

Jiang YanLi streckte ihren Arm aus und zog ihren jüngeren Bruder aus der Grube. Sie zog ein Taschentuch hervor und legte es gegen seine blutende Stirn. Jiang Cheng schien in einem schlechten Zustand zu sein. Seine schwarzen Pupillen richteten sich auf Wei WuXian. Jiang YanLi, „Gibt es da etwas, was du A-Ying noch nicht erzählt hast?“

Jiang Cheng drückte das Taschentuch auf die Stirn und murmelte mit leiser Stimme: „… Es tut mir leid.“

Jiang YanLi, „Hilfst du A-Ying, später die Bettwäsche und die Decke zurückzubringen, ja?“

Jiang Cheng schmollte: „Ich habe sie schon zurückgebracht ...“

Beide hatten sich die Beine verletzt und konnten nicht gehen. Sie waren immer noch ein ganzes Stück von Lotus Pier entfernt, so dass Jiang YanLi nun einen auf dem Rücken und den anderen in den Armen tragen musste. Sowohl Wei WuXian als auch Jiang Cheng schlangen ihre Arme um ihren Hals. Nach wenigen Schritten musste sie innehalten und Luft holen, „Was soll ich nur mit euch beiden machen?“

Ihrer beider Augen waren immer noch voller Tränen. Mitleidig umarmten sie ihren Hals noch fester.

Endlich, Schritt für Schritt, gelang es ihr schließlich, ihre beiden Brüder zurück zum Lotus Pier zu tragen. Mit leiser Stimme weckte sie den Arzt und bat ihn, die Wunden von Wei WuXian und Jiang Cheng zu verbinden. Danach wiederholte sie unzählige Male „Entschuldigung“ und „Danke“, bevor sie vom Arzt zurückgingen.

Jiang Cheng sah auf Wei WuXians Beine und war deswegen ziemlich nervös. Wenn ein anderer Jünger oder ein anderer Diener davon erfuhr und es Jiang FengMian erzählte, und nachdem Jiang FengMian dann erfahren würde, wie er Wei WuXians Bettwäsche weggeworfen und er deswegen an seiner Beinverletzung Schuld hatte, dann würde ihn Jiang FengMian definitiv noch weniger mögen.

Dies war auch der Grund, warum er niemanden holen gegangen und ihnen alleine nachgelaufen war. Als er sah, wie besorgt er schien, ergriff Wei WuXian die Initiative: „Entspann dich. Ich werde es Onkel Jiang nicht erzählen. Ich habe mich nur verletzt, weil ich letzte Nacht plötzlich auf einen Baum klettern wollte.“

Als Jiang Cheng dies hörte, seufzte er erleichtert. Er schwor: „Du kannst dich von jetzt an auch entspannen. Immer wenn ich einen Hund sehe, werde ich ihn für dich verjagen!“

Jiang YanLi sah, wie die beiden sich endlich versöhnten. „Das ist die richtige Einstellung.“

Die beiden waren fast die halbe Nacht wach gewesen und hungrig geworden. So ging Jiang YanLi in die Küche und beschäftigte sich dort eine Weile, lief dabei auf Zehenspitzen herum. Sie wärmte eine Schüssel mit Lotus-Schweinerippensuppe für jeden von ihnen auf.

Das Aroma schien sich um sein Herz zu wickeln und verweilte.

Wei WuXian setzte sich in den Hof und stellte die leere Schüssel auf den Boden. Er starrte hoch zu den Sternen, die über den Himmel verstreut waren, und lächelte dann.

Als er Lan WangJi auf der Straße begegnet war, hatte er sich an die vielen Dinge erinnert, während er noch in den Wolken-Schluchten studiert hatte.

Aus einer Laune heraus hatte er Lan WangJi angehalten und hatte auch ihre Unterhaltung auf diese Tage richten wollen. Aber Lan WangJi erinnerte ihn daran, dass nun alles anders war als damals.

Während er jedoch zu den Jiang-Geschwistern auf den Lotus Pier zurückkehrt war, hatte er die Illusion, dass sich überhaupt nichts geändert hatte.

Wei WuXian wollte plötzlich den Baum finden, den er einmal mitten in der Nacht so umarmt hatte.

Er stand auf und verließ das Trainingsgelände. Die Jünger auf seinem Weg nickten ihm respektvoll zu. Alle sahen für ihn fremd aus. Der Shidi, der Affen mochte und sich weigerte, richtig zu gehen; die Diener, die Gesichter machten und nicht richtig grüßten - sie waren alle längst verschwunden.

Auf dem Trainingsgelände und vor den Toren des Lotus Piers befand sich ein breiter Pier. Egal, ob Tag oder Nacht, am Pier gab es immer Händler, die Lebensmittel verkaufen. Aus einem Topf mit brutzelndem Öl entstieg ein wunderbares Aroma.

Wei WuXian konnte nicht anders, als dorthin zu gehen und grinste: „Heute kochst du wohl besonders große Portionen, nicht wahr?“

Der Verkäufer grinste auch: „Junger Meister Wei, willst du eine Schale? Ich werde es dir kostenlos geben. Du solltest mehr essen!“

Wei WuXian: „Ich habe schon gegessen. Aber du kannst mir gerne dennoch etwas geben.“

Neben dem Verkäufer saß jemand, dessen gesamter Körper schmutzig wirkte. Bevor Wei WuXian näher herankam, umklammerte diese Person ihre Knie, während sie zitterte , als ob ihr kalt wäre und sie müde war. Nachdem sie Wei WuXian sprechen gehört hatte, schoss ihr Kopf in die Höhe.


Wei WuXians Augen weiteten sich: „Du?!“



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