Mittwoch, 21. August 2019

Kapitel 61

Kapitel 61


Kapitel 61: Böse – Teil Eins
Aufstieg des Bösen und charmante Boshaftigkeit

„Ahhhhhhhhhhhh....!!!!!!“

Wang LingJiao fuhr mit einem Schrei in ihrem Bett auf. Wen Chao, der einen Brief am Schreibtisch gelesen hatte, schlug wütend auf die Tischplatte, „Was heulst du mitten in der Nacht wieder herum?!“

Wang LingJiao keuchte, als hätte sie den Schock noch nicht ganz überwunden, „Ich... Ich habe wieder von dieser Person, deren Nachname Wei ist, geträumt, ich habe wieder von ihm geträumt!“

Wen Chao, „Es ist jetzt drei Monate her, seit ich ihn über den Grabhügel abgeworfen habe. Warum träumst du immer noch von ihm? Wie oft ist das jetzt schon passiert?!“

Wang LingJiao, „Ich.... Ich weiß auch nicht, warum. In den letzten Tagen träume ich viel von ihm.“

Wen Chao war bereits beim Lesen des Briefes verärgert gewesen. Er hatte nicht die Zeit, sich um sie zu kümmern. Es war ihm egal, ob er sie hielt und sie tröstete, so wie er es früher getan hatte. Er sprach ungeduldig: „Dann schlaf halt nicht!“

Sie stand auf und warf sich zu Wen Chaos Schreibtisch hinüber, „Junger Meister Wen, Ich.... Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich Angst. Ich habe das Gefühl.... dass wir damals einen großen Fehler gemacht haben .... Er wurde zwar über den Grabhügel abgeworfen, aber ist es nicht möglich, dass er nicht gestorben ist? Ist es möglich, dass er....“


Die Ader an Wen Chaos Schläfe pulsierte bereits: „Wie könnte das möglich sein? Wie viele Kultivierende hat unsere Sekte schon dort hingeschickt, um den Grabhügel zu reinigen? Ist einer von ihnen lebendig zurückgekommen? Jetzt, wo er hineingeworfen worden ist, ist seine Leiche wahrscheinlich schon längst verrottet.“
Wang LingJiao, „Das ist alles so beängstigend, auch wenn er tot ist! Wenn er wirklich das getan hat, was er gesagt hat und zu einem wilden Geist geworden ist und nun zurückkommt, um uns zu verfolgen....“

Während sie sprach, erinnerten sich beide an diesen Tag, wie Wei Yings Gesicht aussah, während er fiel, wie sein Ausdruck war. Beide erzitterten unwillkürlich. Wen Chao wies sie sofort zurück: „Es ist unmöglich, selbst wenn er tot ist! Die Seelen der Menschen, die auf den Grabhügeln gestorben sind, sind an diesen Ort gefesselt. Mach dir keine Sorgen. Siehst du nicht, dass ich gerade verärgert bin?!“

Er zerknitterte den Brief in der Hand zu einem Ball zusammen und warf ihn zu Boden, seine Stimme war voller Hass: „Was für eine Sunshot-Kampagne? Ein bisschen auf die Sonne schießen ist das. Ihr wollt die Sonne untergehen lassen? Träumt weiter!“

Wang LingJiao stand auf. Sie goss ihm vorsichtig eine Tasse Tee ein. In ihrem Herzen dachte sie über einige schmeichelhafte Worte nach, bevor sie mit süßer Stimme sprach: „Junger Meister Wen, diese wenigen Sekten konnten nur ein paar Tage lang tun, was sie wollten. Sektenführer Wen würde definitiv....“

Wen Chao fluchte: „Halt die Klappe! Was weißt du schon?! Verschwinde, hör auf, mich zu nerven!“

Wang LingJiao fühlte sich unverstanden, aber sie fühlte auch Hass. Sie stellte die Teetasse ab. Sie fixierte ihr Haar und ihre Gewänder und ging mit einem Lächeln nach draußen. Gerade als sie aus der Tür herausgegangen war, schwankte das Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie öffnete die Papierkugel in ihrer Hand. Sie hatte den Brief, den Wen Chao weggeworfen hatte, heimlich aufgehoben, als sie gegangen war. Sie wollte sehen, welche Neuigkeiten er enthalten hatte, dass er deswegen so gereizt war. Sie konnte nicht so gut lesen. Nachdem sie es sich eine Weile angesehen hatte, konnte sie endlich die einzelnen Buchstaben erraten, um zu verstehen, was in dem Brief stand: Der älteste Sohn von Sektenführer Wen, Wen Chaos ältester Bruder Wen Xu, war von einem der führenden Sektenführer der Dissidenten enthauptet worden und sein Kopf war zur Machtdemonstrierung vor dem versammelten gegnerischen Heer auf der Spitze eines Schwertes aufgespießt worden!

Wang LingJiao erstarrte.

Die GusuLan-Sekte war niedergebrannt, die YunmengJiang-Sekte zerstört, und viele andere Sekten, ob groß oder klein, waren niedergerissen worden. Es war nicht so, dass es keine trotzigen Stimmen gegeben hätte, sondern dass sie immer schnell von der QishanWen-Sekte unterdrückt worden waren. Daher hatten die Sekten Jin, Nie, Lan und Jiang vor drei Monaten ein Bündnis gebildet und führten nun einen Aufstand an. Als sie unter dem Banner der 'Sunshot-Kampagne' zum ersten Mal auftauchten, nahm sie niemand ernst.

Sektenführer Wen hatte damals darüber mit ihnen gesprochen. Unter diesen vier Sekten war die LanlingJin-Sekte mehr ein Beobachter am Rande - sah stets zu, wie alle Sekten wütend auf die Barrikaden gingen, wollte dann auch teilnehmen, würde aber dann, nachdem man mehr Niederlagen als Siege erlitten hatte, abwiegen, und dann würden sie bald erkennen, dass es nichts Gutes bei dieser ganzen Angelegenheit geben würde, und sie würden dann vielleicht sogar zurückkommen, um das Bein der Wen-Sekte zu umarmen und sie anbetteln, ihnen nochmals zu verzeihen. Der Sektenführer der QingheNie-Sekte war so rasend, dass er irgendwann leicht ausrasten würde, und daher bestünde keine Notwendigkeit für andere, sich wegen ihm zu bewegen, da er früher oder später durch die Hände seines eigenen Volkes sterben würde. Die GusuLan-Sekte war bis auf ihre Grundmauern verbrannt worden - obwohl Lan XiChen noch da war, um die Position des Sektenführers zu übernehmen, und nachdem er den Bibliotheks-Pavillon verlegt hatte, war er nur ein Junior und konnte nicht viel tun. Die Lächerlichste war die YunmengJiang-Sekte, deren gesamter Clan entweder getötet oder verstreut worden war, und nur Jiang Cheng zurückgelassen hatte, der noch jünger als Lan XiChen und bis gestern noch ein Kind gewesen war, der niemanden in der Hand hatte, sich aber immer noch als Sektenführer bezeichnete und das Banner der Rebellion hochhielt, während er neue Schüler anwarb.

Die Rede Wen RuoHans konnte mit zwei Worten abgeschlossen werden: Vielversprechend und übertrieben selbstbewusst!

Jeder, der auf der Seite der Wen-Sekte stand, nahm die Sunshot-Kampagne als Witz wahr. Doch drei Monate später waren die Umstände nicht so, wie sie es alle erwartet hatten! Viele Orte in Hejian und Yunmeng waren bereits übernommen worden, aber das war nicht das Wichtigste. Heute war sogar der älteste Sohn von Sektenführer Wen enthauptet worden.

In der Halle machte sich Wang LingJiao eine Weile lang Sorgen. Unbehaglich kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Ihre Augenlider zuckten wieder. Mit einer Hand rieb sie über ihre Augenlider, mit der anderen drückte sie auf ihre Brust und versuchte, sich zu beruhigen.


Sie folgte Wen Chao bereits seit fast einem halben Jahr. Ein halbes Jahr war die längste Zeit, die Wen Chao für eine Frau aufwenden konnte, von der ersten Liebe zu ihr bis zur Erschöpfung. Sie hatte gedacht, dass sie anders sei, dass sie diejenige sei, die bis zum Ende bleiben könnte. Die wachsende Irritation von Wen Chao in den letzten Tagen hatte es ihr jedoch bereits gezeigt. Sie war nicht anders als die anderen Frauen.

Sich auf ihre Lippe beißend dachte Wang LingJiao eine Weile nach. Dann hockte sie sich hin und nahm eine kleine Truhe unter ihrem Bett heraus. In der Truhe befanden sich alle Wertsachen und Waffen, die sie während des halben Jahres ihres Aufenthalts an der Seite von Wen Chao gesammelt hatte. Werte, die sie ausgeben konnte, Waffen, mit denen sie sich schützen konnte. Obwohl sie es nicht wollte, so war dieser Tag nun schließlich gekommen.

Sie wollte zählen, wie viel in ihrem Inventar war. Sie zog einen winzigen Schlüssel aus ihrer Gürteltasche und murmelte, während sie das Schloss öffnete: „Was für ein Widerling von einem Mann. Dein fettiges Ding wird früher oder später absterben. Jetzt, da ich dir nicht mehr dienen muss, bin ich diejenige, die sich glücklich schätzen sollte.... Ah!“



Sie brach auf den Boden zusammen.

Denn in der Sekunde, in der sie die Truhe geöffnet hatte, hatte sie gesehen, was drin war.

Dort war keiner ihrer geliebten Schätze, nur ein blass-häutiges, zusammengerolltes Kind!

Wang LingJiao war so schockiert, dass sie schrie. Sie trat mit ihren Beinen aus und konnte nicht anders, als sich zurückzuziehen. Sie hatte die Truhe immer fest verschlossen gehalten. Den einzigen Schlüssel trug sie immer bei sich. Wie konnte da ein Kind drin sein? Sie hatte diese Truhe im gesamten letzten Monat nicht einmal geöffnet. Wenn sich da ein Kind im Inneren versteckt hätte, wie konnte sie es dann nicht wissen? Wie konnte das Kind noch am Leben sein?!

Die Truhe war von ihr umgestoßen worden. Die Öffnung zeigte auf den Boden und sie blickte direkt auf die Unterseite der Truhe. Für einen Moment passierte nichts.

Wang LingJiao kroch mit zitternden Beinen vom Boden auf. Sie wollte näher herangehen und es sich noch einmal ansehen, aber sie wagte es nicht und dachte bei sich selbst: Es ist ein Geist, es ist ein Geist!

Ihre Kultivierung war extrem niedrig. Sie wäre nicht in der Lage, damit umzugehen, selbst wenn es ein Geist wäre. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass es sich hier um ein Aufsichtsbüro handelte. Talismane waren draußen an den Toren und an jedem Haus befestigt worden. Wenn es einen Geist hier gäbe, dann könnten die Talismane sie sicherlich davor beschützen. Sie eilte schnell nach draußen, riss einen der Talismane vor ihrem Zimmer herunter und klebte ihn sich an ihre Brust.

Mit dem Talisman auf ihrem Körper war es, als ob sich ihr Geist nun endlich entspannen würde. Sie schlich sich in den Raum zurück, fand eine lange Kleiderstange und drehte die Truhe aus sicherer Entfernung um. In ihr lag ihr Schatz ordentlich zusammengelegt. Es gab überhaupt kein Kind darin.

Wang LingJiao stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Mit der Stange in ihren Händen, hockte sie sich hinunter. Gerade als sie anfing zu zählen, wurde ihr plötzlich klar, dass zwei weiße Lichter unter ihrem Bett aufleuchteten.

Es waren ein Paar Augen.

Ein Kind mit kränklich weißer Haut lag unter ihrem Bett und starrte ihr in die Augen.


Dies war das dritte Mal, dass Wen Chao an diesem Abend die Schreie von Wang LingJiao hörte. Das Feuer der Wut in ihm wurde stärker, während er schrie: „Du blöde Schlampe! Du bist dermaßen neurotisch, kannst du mich nicht verdammt noch mal etwas weniger nerven?“

Wenn da nicht die Tatsache gewesen wäre, dass ihn in den letzten Tagen immer wieder irritierende Nachrichten erreichten und er deswegen keine Zeit hatte, neue Schönheiten zu finden, und er aus der Angst heraus, dass er sich eine unehrliche, unzuverlässige Attentäterin aus einer dieser kleinen Sekten angelte, er aber trotzdem jemanden wollte, der sein Bett wärmte, dann hätte er dieser Frau längst gesagt, dass sie verpissen sollte. Wen Chao rief: „Irgendjemand! Bringt sie endlich dazu, die Klappe zu halten!“

Niemand antwortete. Wen Chao trat einen Hocker um. Er war nun noch wütender: „Wo seid ihr denn alle hin?!“

Plötzlich öffneten sich die Türen. Wen Chao, „Ich sagte, ihr sollt die Schlampe für mich zum Schweigen bringen, nicht reinkommen....“

Als er sich umdrehte, steckte ihm ein Teil des Satzes im Halse fest. Er sah eine Frau vor seinem Zimmer stehen. Die Gesichtszüge der Frau waren alle verzerrt, als wäre sie in Stücke zerschlagen und dann wieder zusammengesetzt worden. Die beiden Augen blickten in verschiedene Richtungen, das linke nach oben und das rechte nach unten. Ihr ganzes Gesicht war schrecklich verdreht.

Wen Chao versuchte es mit viel Mühe, bevor er es schließlich schaffte, sie an ihrem eher aufschlussreichen Gewand zu erkennen. Das war Wang LingJiao!

Wang LingJiaos Kehle gluckste. Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu und streckte die Hand aus, „.... Hilfe... Hilfe...Hilf mir...“

Wen Chao schrie auf. Er zog sein neues Schwert aus der Scheide und schlug nach ihr: „Geh weg! Verschwinde!“

Wang LingJiaos Schulter wurde von dem Schwert tief angeschnitten. Ihre Gesichtszüge waren nun noch verdrehter, als sie schrie: „Ahhhhhhhhhh.... Es tut weh, ahhhhhh... Es tut weh, ahhhhh!!!!!“

Wen Chao wagte es nicht einmal, sein Schwert wieder herauszuziehen. Er packte einen Hocker und schleuderte ihn auf sie. Nachdem er sie damit getroffen hatte, brach dieser in Stücke. Wang LingJiao taumelte, bevor sie sich niederkniete und auf den Boden fiel, als ob sie vor jemanden katzbuckelte, murmelte dabei, „.... Es tut mir leid... Es tut mir leid.... Lass mich gehen, lass mich gehen, lass mich gehen....“

Als sie ihren Kopf auf den Boden schlug, tropfte Blut aus ihrem Qiqiao. Da sie den Eingang blockierte, konnte Wen Chao nicht gehen. Er konnte nur das Fenster öffnen und sich seine Lunge herausschreien: „Wen ZhuLiu! Wen ZhuLiu!!!!!!“

Auf dem Boden hatte sich Wang LingJiao bereits ein Bein des Hockers aufgehoben, stopfte es sich verzweifelt in ihren Mund und lachte, während sie das tat: „Gut, gut, ich werde es essen, ich werde es essen! Haha, ich werde es essen!“

Ein ganzer Teil des Stuhlbeines war bereits von ihr geschluckt worden!

Wen Chao wäre an diesem Schock fast gestorben. Als er gerade dabei war, aus dem Fenster zu springen, um zu fliehen, wurde ihm plötzlich klar, dass im Innenhof eine schwarze Silhouette inmitten des kreisrunden Scheins des Mondlichts stand.
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Zur gleichen Zeit.

Jiang Cheng stand vor einem Wald. Als er bemerkte, dass sich ihm jemand näherte, drehte er seinen Kopf leicht. Die Person war ganz in Weiß gekleidet. Er trug ein Stirnband und dessen Enden flatterten mit seinen Haaren hinter ihm her. Sein Gesicht, schöner als alles andere, wirkte wie reinste Jade. Im Mondschein schien sein ganzer Körper von einem sanften Schein umgeben zu sein.
Jiang Cheng sprach mit kalter Stimme, „Zweiter junger Meister Lan.“

Lan WangJis Ausdruck war ernst. Er nickte, „Sektenführer Jiang.“

Nachdem sich die beiden gegenseitig begrüßt hatten, sagten sie nichts mehr. Sie beiden wurden begleitet von ihren Kultivierenden und flogen schweigend mit ihren Schwertern.

Vor zwei Monaten hatten die 'Zwei Jaden von Lan' bei einem Überraschungsangriff mit Jiang Cheng zusammengearbeitet. Sie hatten sich die Schwerter zurückgeholt, die von den Schülern jeder Sekte in Wen Chaos 'Indoktrinationsmaßnahme' eingesammelt worden waren, und hatten sie zu ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgebracht. Erst da waren Sandu und Bichen zu ihnen zurückgekehrt.

Lan WangJis helle Augen blickten auf das andere Schwert an Jiang Chengs Taille. Er wandte seinen Blick ab. Wenige Augenblicke später, während er weiterhin nach vorne starrte, fragte er: „Ist Wei Ying immer noch nicht wieder erschienen?“

Jiang Cheng sah ihn an, als ob er überrascht wäre, dass er plötzlich nach Wei Ying gefragt hatte. Er antwortete: „Nein.“

Er sah Suibian an, das an seiner Taille hing: „Meine Leute haben noch immer keine Nachricht von ihm erhalten. Aber wenn er zurückkommt, dann wird er mich sicher finden. Wenn er auftaucht, dann gebe ich ihm sein Schwert.“

Unter ihrer Führung kamen sie bald darauf mit einer Gruppe von Kultivierenden in einem Aufsichtsbüro an, wo sich Wen Chao versteckt halten sollte, um sich auf einen Nachtangriff vorzubereiten. Bevor sie dort eintraten, versteiften sich Lan WangJis Gesichtszüge. Jiang Cheng runzelte die Stirn.

Dunkle und nachtragende Energie schien aus diesem Haus förmlich überzuquellen.

Die Talismane auf beiden Seiten der Türen waren jedoch noch intakt. Jiang Cheng signalisierte den Kultivierenden, dass sie sich an der Mauer entlang verstecken sollten. Er hingegen schlug mit Sandu zu. Die Schwertenergie griff an und öffnete die Türen.


Bevor er hineinging, betrachtete Lan WangJi die Talismane neben den Türen genauer. Die Szene im Inneren des Aufsichtsbüros war mehr als erschreckend. Im Innenhof lagen überall Leichen. Nicht nur dort, in den Büschen, in den Fluren, auf den Zäunen und sogar auf den Dächern war alles mit Leichen übersät.

Alle Leichen trugen die Roben mit dem flammenden Sonnenmotiv. Sie waren allesamt Schüler der Wen-Sekte. Mit Sandu drehte Jiang Cheng eine der Leichen um und sah kreuz und quer verlaufene Blutspuren über das blasse Gesicht laufen, „Sie bluten aus dem Qiqiao.“

Lan WangJi stand auf der anderen Seite, „Dieser hier nicht.“


Jiang Cheng ging zu ihm hinüber. Er sah, dass sich dort die Augen der Leiche zurückgezogen hatten. Sein Gesicht war vollkommen zerstört worden. Gelbe Galle tropfte aus seinem Mund. Es war zu Tode erschrocken gewesen.

Einer der Schüler unter ihm berichtete: „Sektenführer, wir haben die Inspektion abgeschlossen. Sie sind alle tot. Und jede Leiche starb auf eine andere Weise.“

Erwürgt, verbrannt, ertränkt, vergiftet, erfroren, an der Kehle aufgeschlitzt, am Kopf durchbohrt...

Nachdem Jiang Cheng mit dem Zuhören fertig war, sprach er in einem kühlen Ton: „Sieht so aus, als hätte uns etwas anderes geholfen, die Aufgabe von heute Abend zu erfüllen.“

Lan WangJi sagte nichts. Er war der Erste, der das Haus betrat.

Die Türen zu Wen Chaos Zimmer standen weit offen. Nur eine weibliche Leiche lag im Raum. Die Leiche trug leichte Kleidung. Die Hälfte eines Stuhlbeines war ihr in den Hals gestopft worden. Sie hatte sich selbst getötet, indem sie sich gezwungen hatte, das Stuhlbein herunterzuschlucken.

Jiang Cheng drehte das entstellte Gesicht der Leiche zu sich herum. Nachdem er es eine Weile betrachtet hatte, gab er ein kaltes Lachen von sich. Er hob das Stuhlbein an und schob es in ihren Mund und schaffte es irgendwie, die Hälfte, die noch draußen gewesen war, auch in ihren Körper zu stopfen.

Mit roten Augen stand er auf. Gerade als er sprechen wollte, sah er wie Lan WangJi nachdenklich über etwas vor der Tür stehen geblieben war. Er ging hinüber. Den Augen von Lan WangJi folgend, sah er einen gelb-rot lackierten Talisman an der Tür kleben.

Obwohl der Talisman auf den ersten Blick nicht anders aussah als sonst, entdeckte man bei genauerem Hinsehen einige kleine Stellen, die viel Unbehagen verursachten.

Lan WangJi, „Zu viele.“

Jiang Cheng wurde ernst, „Wie erwartet.“

Sie waren bereits im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren dazu in der Lage gewesen, sich die Technik des Zeichnens dieser Art von Talismanen zu merken. Doch inmitten des unzähligen Geschmiers auf diesem Talisman schien es ein paar zusätzliche Pinselstriche zu geben. Diese Pinselstriche waren es, die das Muster des Talismans vollkommen veränderten. Nun, wenn man es sich genauer ansah, dann schien auf dem Talisman, der an der Tür klebte, das Gesicht einer Person zu sein, die unheimlich lächelte.

Wen Chaos und Wen ZhuLius Leichen konnten in der Aufsichtsstelle nicht gefunden werden. Jiang Cheng spekulierte, dass sie in Richtung Qishan geflohen seien, und führte die Leute sofort aus dem verlassenen Aufsichtsbüro heraus und verfolgte sie mit ihren Schwertern. Lan WangJi kehrte jedoch zuerst nach Gusu zurück.

Am zweiten Tag hatte Lan WangJi schließlich Jiang Cheng wieder eingeholt. Er hatte den Talisman vom letzten Mal unschädlich gemacht: „Dieser Talisman wurde umgedreht.“

Jiang Cheng, „Umgedreht? Was bedeutet umgedreht?“

Lan WangJi, „Normale Talismane wehren das Böse ab. Dieser hier zieht es an.“

Jiang Cheng war schockiert: „Talismane.... können das Böse anziehen? Ich habe noch nie von so etwas gehört.“

Lan WangJi, „Es ist in der Tat unerhört. Aber die Tests haben bewiesen, dass sie die Fähigkeiten haben, das Böse anzuziehen.“

Jiang Cheng übernahm den Talisman und untersuchte ihn genau: „Nur wenige Pinselstriche wurden hinzugefügt, und die gesamte Funktion des Talismans wurde umgekehrt? War das eine menschliche Tat?“

Lan WangJi, „Vier Pinselstriche wurden hinzugefügt. Es wurde mit menschlichem Blut geschrieben. Alle Talismane im Aufsichtsbüro wurden so verändert. Die Striche sind von ein und derselben Person gezogen worden.“

Jiang Cheng, „Wer könnte diese Person dann sein? Unter allen namhaften Kultivierenden habe ich noch nie von einem gehört, der so etwas tun kann.“

Sofort danach fuhr er fort: „Aber egal, wer sie sind, es ist in Ordnung, solange ihr Ziel das gleiche ist wie unseres - alle Wen-Hunde zu töten!“

Die beiden gingen nach neusten Informationen in Richtung Norden. Überall, wo sie hingingen, hörten sie, wie von seltsamen Leichen gesprochen wurde, die dort aufgetaucht waren. Alle Leichen waren Kultivierende der Wen-Sekte, gekleidet in Sonnengewänder. Alle von ihnen waren sowohl im Rang als auch in ihrer Kultivierung hoch. Trotzdem starben sie alle auf grausame und doch vielfältige Weise, und alle waren in der Öffentlichkeit zurückgelassen worden, wo viele es hatten sehen können.

Jiang Cheng, „Glaubst du, dass all diese Menschen auch von dieser Person getötet wurden?“

Lan WangJi, „Die finstere Energie wiegt ziemlich schwer. Sie sollten alle von derselben Person gemacht worden sein.“

Jiang Cheng schnaubte, „Finster? Könnte es in dieser Welt etwas Finstereres geben als die Wen-Hunde?!“

Sie hatten bis spät in die vierte Nacht gejagt. Die beiden hatten Wen ZhuLiu schließlich in der Kurierstation einer abgelegenen Bergstadt gesichtet. Die Kurierstation war zwei Stockwerke hoch. Ein Stall befand sich direkt neben dem Gebäude. Als Lan WangJi und Jiang Cheng ankamen, sahen sie zufällig einen großen Schatten im Inneren verschwinden und die Türen hinter sich verschließen. Aus Angst vor Wen ZhuLius 'Kernschmelz-Hand-Technik' beschlossen die beiden, den Feind nicht zu alarmieren und sich über das Dach zu schleichen, anstatt durch die Tür zu gehen.

Jiang Cheng zwang den gewaltigen Hass in sich zurück. Er knirschte mit den Zähnen und starrte ohne zu blinzeln durch einen Schlitz zwischen den Dachziegeln. Wen ZhuLiu schien sich auf seine Abreise vorzubereiten. In seinen Armen befand sich eine andere Person. Als ob er deren Beine hinter sich herschleppen müsste, ging er in den zweiten Stock und setzte die Person neben einem Tisch ab . Dann rannte er zu allen Fenstern und schloss dort die Läden, so dass nicht einmal eine einzige Brise durchdringen konnte. Schließlich kehrte er zum Tisch zurück und zündete die Öllampe an.

Das schwache Licht erhellte sein Gesicht. Es war noch blass, noch kalt, aber zwei große, schwarze Flecken waren unter seinen Augen. Die andere Person am Tisch war vollständig abgedeckt. Sogar ihr Gesicht war unter einem Umhang versteckt. Wie in einem zerbrechlichen Kokon zitterte die Person innerhalb des Umhangs und keuchte, während er plötzlich ausrief: „Zünde die Lampe nicht an! Was ist, wenn er uns findet?!“

Lan WangJi blickte auf und tauschte einen Blick mit Jiang Cheng aus. Beide hatten den gleichen verwirrten Blick. Diese Person musste Wen Chao sein. Aber hatte Wen Chaos Stimme schon immer so geklungen? So dünn und so schrill, dass es gar nicht Wen Chao zu sein schien?

Wen ZhuLiu suchte mit gesenktem Kopf nach einem Gegenstand in seinen Ärmeln: „Glaubst du nicht, dass selbst wenn wir die Lampen nicht anzünden, er uns nicht finden können wird?“

Wen Chao keuchte: „Wir sind schon so weit gelaufen, und schon so lange. Er sollte nicht in der Lage sein, uns zu fangen, oder?“

Wen ZhuLiu schien dies gleichgültig zu sein, „Vielleicht.“

Wen Chao brodelte: „Was meinst du mit 'vielleicht'? Wenn wir ihm nicht entkommen sind, warum hast du dann hier angehalten?“

Wen ZhuLiu, „Du brauchst Salbe. Ansonsten bist du mit Sicherheit bald tot.“

Während er sprach, zog er Wen Chaos Umhang aus. Auf dem Dach waren beide schockiert.

Unter dem Umhang war nicht Wen Chaos arrogantes, schmierig-schönes Gesicht, sondern ein kahler Kopf, der in Verbände gehüllt war! Wen ZhuLiu schälte die Verbände Schicht für Schicht ab und enthüllte die Haut des kahlen Mannes. Auf seinem Gesicht befanden sich Narben und Brandspuren ohne Zuordnung und ließen ihn aussehen, als wäre er gekocht worden. Hässlich, abscheulich, sie konnten noch nicht einmal einen Schatten von dem, was er einmal war, erkennen!

Wen ZhuLiu nahm die Flasche mit der Medizin heraus. Er fütterte ihn zuerst mit ein paar runden Pillen, bevor er eine Salbe herausnahm und sie auf die Brandspuren auf seinem Kopf und seinem Gesicht auftrug. Wen Chao wimmerte vor Schmerz, obwohl Wen ZhuLiu auf ihn einredete: „Weine nicht. Sonst würden die Tränen die Wunden nicht trocknen lassen und den Schmerz nur verschlimmern.“

Wen Chao konnte seine Tränen nur zurückhalten, er war nicht einmal in der Lage, zu weinen. Durch das flackernde Licht des Feuers sahen sie verzerrt einen kahlen Mann, der mit Brandspuren in seinem Gesicht übersät war, und aus dessen Mund seltsame, dumpfe Geräusche kamen. Die Flamme stand kurz davor zu erlöschen, nur noch ein schwaches Gelb war zu sehen. Der Anblick war mehr als beängstigend.

Plötzlich schrie Wen Chao auf: „Die Flöte! Die Flöte! Ist es die Flöte?! Ich habe ihn wieder Flöte spielen hören!“

Wen ZhuLiu, „Nein! Das war nur der Wind.“

Wen Chao war jedoch so verängstigt, dass er in seinem Klagen auf den Boden gerutscht war. Wen ZhuLiu hob ihn wieder auf. Es schien, als wäre etwas mit Wen Chaos Beinen passiert, so dass er nicht mehr alleine gehen konnte.

Nachdem Wen ZhuLiu mit dem Auftragen der Salbe fertig war, nahm er ein paar Brötchen aus seinem Revers und legte eines davon in seine Hand: „Iss. Wir gehen weiter, wenn du fertig bist.“

Zitternd schloss Wen Chao seine Hände darum und nahm einen Biss davon. Als Jiang Cheng dies sah, erinnerte er sich daran, in was für einer Notlage er und Wei WuXian an dem Tag gewesen waren, als sie geflohen waren. Sie hatten nicht einmal etwas zu Essen gehabt. Eine solche Situation war in der Tat Karma!

Das Herz war voller Freude, die verbitterte Haltung seines Körpers schien sich aufzulösen und er brach in wahnsinniges, aber lautloses Gelächter aus.

Plötzlich sah Wen Chao aus, als hätte er in etwas gebissen, was ihn dazu veranlasste, mit einem versteinerten Ausdruck zu reagieren. Er warf das Brötchen weg und schrie: „Ich esse kein Fleisch! Das tue ich nicht! Das tue ich nicht! Ich esse kein Fleisch!“

Wen ZhuLiu gab ihm ein weiteres: „Dieses hier ist kein Fleisch.“

Wen Chao, „Ich werde es nicht essen! Nimm es weg! Verschwinde! Ich will meinen Vater finden. Wann können wir zu meinem Vater zurückkehren?!“

Wen ZhuLiu, „Bei dieser Geschwindigkeit erreichen wir ihn in zwei Tagen.“

Seine Worte waren ganz ehrlich, weder betont noch gefälscht. Die Ehrlichkeit sorgte jedoch für viel Gejammer von Wen Chaos Seite: „Zwei Tage? Zwei Tage?! Sieh doch nur, in welcher Verfassung ich im Moment schon bin! Wenn ich noch zwei Tage länger warten muss, wie sähe ich denn dann aus?! Du nutzloses Ding!“

Wen ZhuLiu stand plötzlich auf. Wen Chao zuckte vor Angst zurück. Er dachte, dass er allein weiter fliehen wollte und hatte sofort Angst. Alle anderen Wachen waren einer nach dem anderen vor ihm gestorben. Wen ZhuLiu war sowohl seine stärkste als auch seine letzte Unterstützung. Er änderte schnell seine Worte: „Nein nein nein, Wen ZhuLiu, Bruder Wen! Geh nicht, lass mich nicht zurück. Wenn du mich zu meinem Vater zurückbringen kannst, lasse ich dich von ihm zum besten Gastkultivierer befördern! Nein, nein, nein, du hast mich gerettet, also bist du mein Bruder, ich lasse dich von ihm in den Hauptclan aufnehmen! Von nun an bist du mein großer Bruder!“

Wen ZhuLiu starrte in Richtung der Treppe: „Das ist nicht nötig.“



Nicht nur er hatte etwas gehört, sondern auch Lan WangJi und Jiang Cheng. Die Schritte, einer nach dem anderen, kamen von der Treppe der Kurierstation. Jemand ging die Treppe hinauf, ein Schritt nach dem anderen.

Das gesamte überschüssige Blut war aus Wen Chaos verbranntem Gesicht gewichen. Zitternd bewegte er seine Hände aus dem Umhang und bedeckte sein Gesicht mit ihnen, als ob er so verängstigt wäre, dass er seine Augen verdecken wollte, um sich zu schützen, und tat so, als ob nichts passiert wäre. Die Handflächen waren nur noch reine Ballen, ohne einen einzigen Finger daran!

Tapp, tapp, tapp.

Die Person ging langsam nach oben. Sie war komplett in schwarz gekleidet. Mit einem hohen, schlanken Körperbau hatte sie eine Flöte an ihrer Taille, die Hände lagen gekreuzt auf dem Rücken. Auf dem Dach legten sowohl Lan WangJi als auch Jiang Cheng ihre Hände auf die Griffe ihrer Schwerter.

Nachdem die Person jedoch die Treppe hinaufgegangen und sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht umdreht hatte, weiteten sich Lan WangJis Augen, da er diese strahlenden Gesichtszüge schon einmal gesehen hatte.








Information:

von dieser Person, deren Nachname Wei ist: Diese Anrede gilt in China als sehr unhöflich, jedoch nicht unbedingt, wenn sie unter sehr guten Freunden auf scherzhafte Weise eingesetzt wird. Dies ist aber hier sicherlich nicht der Fall und zeigt daher nur, dass Wang LingJiao selbst nach Wei WuXians „Tod“ kein gutes Haar an ihm lässt.


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