Kapitel
61: Böse – Teil Eins
Aufstieg
des Bösen und charmante Boshaftigkeit
„Ahhhhhhhhhhhh....!!!!!!“
Wang LingJiao fuhr mit
einem Schrei in ihrem Bett auf. Wen Chao, der einen Brief am
Schreibtisch gelesen hatte, schlug wütend auf die Tischplatte, „Was
heulst du mitten in der Nacht wieder herum?!“
Wang LingJiao keuchte,
als hätte sie den Schock noch nicht ganz überwunden, „Ich... Ich
habe wieder von dieser Person, deren Nachname Wei ist,
geträumt, ich habe wieder von ihm geträumt!“
Wen Chao, „Es ist jetzt
drei Monate her, seit ich ihn über den Grabhügel abgeworfen habe.
Warum träumst du immer noch von ihm? Wie oft ist das jetzt schon
passiert?!“
Wang LingJiao, „Ich....
Ich weiß auch nicht, warum. In den letzten Tagen träume ich viel
von ihm.“
Wen Chao war bereits beim
Lesen des Briefes verärgert gewesen. Er hatte nicht die Zeit, sich
um sie zu kümmern. Es war ihm egal, ob er sie hielt und sie
tröstete, so wie er es früher getan hatte. Er sprach ungeduldig:
„Dann schlaf halt nicht!“
Sie stand auf und warf
sich zu Wen Chaos Schreibtisch hinüber, „Junger Meister Wen,
Ich.... Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich Angst.
Ich habe das Gefühl.... dass wir damals einen großen Fehler
gemacht haben .... Er wurde zwar über den Grabhügel abgeworfen,
aber ist es nicht möglich, dass er nicht gestorben ist? Ist es
möglich, dass er....“
Die Ader an Wen Chaos
Schläfe pulsierte bereits: „Wie könnte das möglich sein? Wie
viele Kultivierende hat unsere Sekte schon dort hingeschickt, um den
Grabhügel zu reinigen? Ist einer von ihnen lebendig zurückgekommen?
Jetzt, wo er hineingeworfen worden ist, ist seine Leiche
wahrscheinlich schon längst verrottet.“
Wang LingJiao, „Das ist
alles so beängstigend, auch wenn er tot ist! Wenn er wirklich das
getan hat, was er gesagt hat und zu einem wilden Geist geworden ist
und nun zurückkommt, um uns zu verfolgen....“
Während sie sprach,
erinnerten sich beide an diesen Tag, wie Wei Yings Gesicht aussah,
während er fiel, wie sein Ausdruck war. Beide erzitterten
unwillkürlich. Wen Chao wies sie sofort zurück: „Es ist
unmöglich, selbst wenn er tot ist! Die Seelen der Menschen, die auf
den Grabhügeln gestorben sind, sind an diesen Ort gefesselt. Mach
dir keine Sorgen. Siehst du nicht, dass ich gerade verärgert bin?!“
Er zerknitterte den Brief
in der Hand zu einem Ball zusammen und warf ihn zu Boden, seine
Stimme war voller Hass: „Was für eine Sunshot-Kampagne? Ein
bisschen auf die Sonne schießen ist das. Ihr wollt die Sonne
untergehen lassen? Träumt weiter!“
Wang LingJiao stand auf.
Sie goss ihm vorsichtig eine Tasse Tee ein. In ihrem Herzen dachte
sie über einige schmeichelhafte Worte nach, bevor sie mit süßer
Stimme sprach: „Junger Meister Wen, diese wenigen Sekten konnten
nur ein paar Tage lang tun, was sie wollten. Sektenführer Wen würde
definitiv....“
Wen Chao fluchte: „Halt
die Klappe! Was weißt du schon?! Verschwinde, hör auf, mich zu
nerven!“
Wang LingJiao fühlte
sich unverstanden, aber sie fühlte auch Hass. Sie stellte die
Teetasse ab. Sie fixierte ihr Haar und ihre Gewänder und ging mit
einem Lächeln nach draußen. Gerade als sie aus der Tür
herausgegangen war, schwankte das Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie
öffnete die Papierkugel in ihrer Hand. Sie hatte den Brief, den Wen
Chao weggeworfen hatte, heimlich aufgehoben, als sie gegangen war.
Sie wollte sehen, welche Neuigkeiten er enthalten hatte, dass er
deswegen so gereizt war. Sie konnte nicht so gut lesen. Nachdem sie
es sich eine Weile angesehen hatte, konnte sie endlich die einzelnen
Buchstaben erraten, um zu verstehen, was in dem Brief stand: Der
älteste Sohn von Sektenführer Wen, Wen Chaos ältester Bruder Wen
Xu, war von einem der führenden Sektenführer der Dissidenten
enthauptet worden und sein Kopf war zur Machtdemonstrierung vor dem
versammelten gegnerischen Heer auf der Spitze eines Schwertes
aufgespießt worden!
Wang LingJiao erstarrte.
Die GusuLan-Sekte war
niedergebrannt, die YunmengJiang-Sekte zerstört, und viele andere
Sekten, ob groß oder klein, waren niedergerissen worden. Es war
nicht so, dass es keine trotzigen Stimmen gegeben hätte, sondern
dass sie immer schnell von der QishanWen-Sekte unterdrückt worden
waren. Daher hatten die Sekten Jin, Nie, Lan und Jiang vor drei
Monaten ein Bündnis gebildet und führten nun einen Aufstand an. Als
sie unter dem Banner der 'Sunshot-Kampagne' zum ersten Mal
auftauchten, nahm sie niemand ernst.
Sektenführer Wen hatte
damals darüber mit ihnen gesprochen. Unter diesen vier Sekten war
die LanlingJin-Sekte mehr ein Beobachter am Rande - sah stets zu, wie
alle Sekten wütend auf die Barrikaden gingen, wollte dann auch
teilnehmen, würde aber dann, nachdem man mehr Niederlagen als Siege
erlitten hatte, abwiegen, und dann würden sie bald erkennen, dass es
nichts Gutes bei dieser ganzen Angelegenheit geben würde, und sie
würden dann vielleicht sogar zurückkommen, um das Bein der
Wen-Sekte zu umarmen und sie anbetteln, ihnen nochmals zu verzeihen.
Der Sektenführer der QingheNie-Sekte war so rasend, dass er
irgendwann leicht ausrasten würde, und daher bestünde keine
Notwendigkeit für andere, sich wegen ihm zu bewegen, da er früher
oder später durch die Hände seines eigenen Volkes sterben würde.
Die GusuLan-Sekte war bis auf ihre Grundmauern verbrannt worden -
obwohl Lan XiChen noch da war, um die Position des Sektenführers zu
übernehmen, und nachdem er den Bibliotheks-Pavillon verlegt hatte,
war er nur ein Junior und konnte nicht viel tun. Die Lächerlichste
war die YunmengJiang-Sekte, deren gesamter Clan entweder getötet
oder verstreut worden war, und nur Jiang Cheng zurückgelassen hatte,
der noch jünger als Lan XiChen und bis gestern noch ein Kind gewesen
war, der niemanden in der Hand hatte, sich aber immer noch als
Sektenführer bezeichnete und das Banner der Rebellion hochhielt,
während er neue Schüler anwarb.
Die Rede Wen RuoHans
konnte mit zwei Worten abgeschlossen werden: Vielversprechend und
übertrieben selbstbewusst!
Jeder, der auf der Seite
der Wen-Sekte stand, nahm die Sunshot-Kampagne als Witz wahr. Doch
drei Monate später waren die Umstände nicht so, wie sie es alle
erwartet hatten! Viele Orte in Hejian und Yunmeng waren bereits
übernommen worden, aber das war nicht das Wichtigste. Heute war
sogar der älteste Sohn von Sektenführer Wen enthauptet worden.
In der Halle machte sich
Wang LingJiao eine Weile lang Sorgen. Unbehaglich kehrte sie in ihr
Zimmer zurück. Ihre Augenlider zuckten wieder. Mit einer Hand rieb
sie über ihre Augenlider, mit der anderen drückte sie auf ihre
Brust und versuchte, sich zu beruhigen.
Sie folgte Wen Chao
bereits seit fast einem halben Jahr. Ein halbes Jahr war die längste
Zeit, die Wen Chao für eine Frau aufwenden konnte, von der ersten
Liebe zu ihr bis zur Erschöpfung. Sie hatte gedacht, dass sie anders
sei, dass sie diejenige sei, die bis zum Ende bleiben könnte. Die
wachsende Irritation von Wen Chao in den letzten Tagen hatte es ihr
jedoch bereits gezeigt. Sie war nicht anders als die anderen Frauen.
Sich auf ihre Lippe
beißend dachte Wang LingJiao eine Weile nach. Dann hockte sie sich
hin und nahm eine kleine Truhe unter ihrem Bett heraus. In der Truhe
befanden sich alle Wertsachen und Waffen, die sie während des halben
Jahres ihres Aufenthalts an der Seite von Wen Chao gesammelt hatte.
Werte, die sie ausgeben konnte, Waffen, mit denen sie sich schützen
konnte. Obwohl sie es nicht wollte, so war dieser Tag nun schließlich
gekommen.
Sie wollte zählen, wie
viel in ihrem Inventar war. Sie zog einen winzigen Schlüssel aus
ihrer Gürteltasche und murmelte, während sie das Schloss öffnete:
„Was für ein Widerling von einem Mann. Dein fettiges Ding wird
früher oder später absterben. Jetzt, da ich dir nicht mehr dienen
muss, bin ich diejenige, die sich glücklich schätzen sollte....
Ah!“
Sie brach auf den Boden
zusammen.
Denn in der Sekunde, in
der sie die Truhe geöffnet hatte, hatte sie gesehen, was drin war.
Dort war keiner ihrer
geliebten Schätze, nur ein blass-häutiges, zusammengerolltes Kind!
Wang LingJiao war so
schockiert, dass sie schrie. Sie trat mit ihren Beinen aus und konnte
nicht anders, als sich zurückzuziehen. Sie hatte die Truhe immer
fest verschlossen gehalten. Den einzigen Schlüssel trug sie immer
bei sich. Wie konnte da ein Kind drin sein? Sie hatte diese Truhe im
gesamten letzten Monat nicht einmal geöffnet. Wenn sich da ein Kind
im Inneren versteckt hätte, wie konnte sie es dann nicht wissen? Wie
konnte das Kind noch am Leben sein?!
Die Truhe war von ihr
umgestoßen worden. Die Öffnung zeigte auf den Boden und sie blickte
direkt auf die Unterseite der Truhe. Für einen Moment passierte
nichts.
Wang LingJiao kroch mit
zitternden Beinen vom Boden auf. Sie wollte näher herangehen und es
sich noch einmal ansehen, aber sie wagte es nicht und dachte bei sich
selbst: Es ist ein Geist, es ist ein Geist!
Ihre Kultivierung war
extrem niedrig. Sie wäre nicht in der Lage, damit umzugehen, selbst
wenn es ein Geist wäre. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass es
sich hier um ein Aufsichtsbüro handelte. Talismane waren draußen an
den Toren und an jedem Haus befestigt worden. Wenn es einen Geist
hier gäbe, dann könnten die Talismane sie sicherlich davor
beschützen. Sie eilte schnell nach draußen, riss einen der
Talismane vor ihrem Zimmer herunter und klebte ihn sich an ihre
Brust.
Mit dem Talisman auf
ihrem Körper war es, als ob sich ihr Geist nun endlich entspannen
würde. Sie schlich sich in den Raum zurück, fand eine lange
Kleiderstange und drehte die Truhe aus sicherer Entfernung um. In ihr
lag ihr Schatz ordentlich zusammengelegt. Es gab überhaupt kein Kind
darin.
Wang LingJiao stieß
einen Seufzer der Erleichterung aus. Mit der Stange in ihren Händen,
hockte sie sich hinunter. Gerade als sie anfing zu zählen, wurde ihr
plötzlich klar, dass zwei weiße Lichter unter ihrem Bett
aufleuchteten.
Es waren ein Paar Augen.
Ein Kind mit kränklich
weißer Haut lag unter ihrem Bett und starrte ihr in die Augen.
Dies war das dritte Mal,
dass Wen Chao an diesem Abend die Schreie von Wang LingJiao hörte.
Das Feuer der Wut in ihm wurde stärker, während er schrie: „Du
blöde Schlampe! Du bist dermaßen neurotisch, kannst du mich nicht
verdammt noch mal etwas weniger nerven?“
Wenn da nicht die
Tatsache gewesen wäre, dass ihn in den letzten Tagen immer wieder
irritierende Nachrichten erreichten und er deswegen keine Zeit hatte,
neue Schönheiten zu finden, und er aus der Angst heraus, dass er
sich eine unehrliche, unzuverlässige Attentäterin aus einer dieser
kleinen Sekten angelte, er aber trotzdem jemanden wollte, der sein
Bett wärmte, dann hätte er dieser Frau längst gesagt, dass sie
verpissen sollte. Wen Chao rief: „Irgendjemand! Bringt sie endlich
dazu, die Klappe zu halten!“
Niemand antwortete. Wen
Chao trat einen Hocker um. Er war nun noch wütender: „Wo seid ihr
denn alle hin?!“
Plötzlich öffneten sich
die Türen. Wen Chao, „Ich sagte, ihr sollt die Schlampe für mich
zum Schweigen bringen, nicht reinkommen....“
Als er sich umdrehte,
steckte ihm ein Teil des Satzes im Halse fest. Er sah eine Frau vor
seinem Zimmer stehen. Die Gesichtszüge der Frau waren alle verzerrt,
als wäre sie in Stücke zerschlagen und dann wieder zusammengesetzt
worden. Die beiden Augen blickten in verschiedene Richtungen, das
linke nach oben und das rechte nach unten. Ihr ganzes Gesicht war
schrecklich verdreht.
Wen Chao versuchte es mit
viel Mühe, bevor er es schließlich schaffte, sie an ihrem eher
aufschlussreichen Gewand zu erkennen. Das war Wang LingJiao!
Wang LingJiaos Kehle
gluckste. Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu und streckte die Hand
aus, „.... Hilfe... Hilfe...Hilf mir...“
Wen Chao schrie auf. Er
zog sein neues Schwert aus der Scheide und schlug nach ihr: „Geh
weg! Verschwinde!“
Wang LingJiaos Schulter
wurde von dem Schwert tief angeschnitten. Ihre Gesichtszüge waren
nun noch verdrehter, als sie schrie: „Ahhhhhhhhhh.... Es tut weh,
ahhhhhh... Es tut weh, ahhhhh!!!!!“
Wen Chao wagte es nicht
einmal, sein Schwert wieder herauszuziehen. Er packte einen Hocker
und schleuderte ihn auf sie. Nachdem er sie damit getroffen hatte,
brach dieser in Stücke. Wang LingJiao taumelte, bevor sie sich
niederkniete und auf den Boden fiel, als ob sie vor jemanden
katzbuckelte, murmelte dabei, „.... Es tut mir leid... Es tut mir
leid.... Lass mich gehen, lass mich gehen, lass mich gehen....“
Als sie ihren Kopf auf
den Boden schlug, tropfte Blut aus ihrem Qiqiao. Da sie den Eingang
blockierte, konnte Wen Chao nicht gehen. Er konnte nur das Fenster
öffnen und sich seine Lunge herausschreien: „Wen ZhuLiu! Wen
ZhuLiu!!!!!!“
Auf dem Boden hatte sich
Wang LingJiao bereits ein Bein des Hockers aufgehoben, stopfte es
sich verzweifelt in ihren Mund und lachte, während sie das tat:
„Gut, gut, ich werde es essen, ich werde es essen! Haha, ich werde
es essen!“
Ein ganzer Teil des
Stuhlbeines war bereits von ihr geschluckt worden!
Wen Chao wäre an diesem
Schock fast gestorben. Als er gerade dabei war, aus dem Fenster zu
springen, um zu fliehen, wurde ihm plötzlich klar, dass im Innenhof
eine schwarze Silhouette inmitten des kreisrunden Scheins des
Mondlichts stand.
.
.
.
Zur gleichen Zeit.
Jiang Cheng stand vor
einem Wald. Als er bemerkte, dass sich ihm jemand näherte, drehte er
seinen Kopf leicht. Die Person war ganz in Weiß gekleidet. Er trug
ein Stirnband und dessen Enden flatterten mit seinen Haaren hinter
ihm her. Sein Gesicht, schöner als alles andere, wirkte wie reinste
Jade. Im Mondschein schien sein ganzer Körper von einem sanften
Schein umgeben zu sein.
Jiang Cheng sprach mit
kalter Stimme, „Zweiter junger Meister Lan.“
Lan WangJis Ausdruck war
ernst. Er nickte, „Sektenführer Jiang.“
Nachdem sich die beiden
gegenseitig begrüßt hatten, sagten sie nichts mehr. Sie beiden
wurden begleitet von ihren Kultivierenden und flogen schweigend mit
ihren Schwertern.
Vor zwei Monaten hatten
die 'Zwei Jaden von Lan' bei einem Überraschungsangriff mit Jiang
Cheng zusammengearbeitet. Sie hatten sich die Schwerter zurückgeholt,
die von den Schülern jeder Sekte in Wen Chaos
'Indoktrinationsmaßnahme' eingesammelt worden waren, und hatten sie
zu ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgebracht. Erst da waren
Sandu und Bichen zu ihnen zurückgekehrt.
Lan WangJis helle Augen
blickten auf das andere Schwert an Jiang Chengs Taille. Er wandte
seinen Blick ab. Wenige Augenblicke später, während er weiterhin
nach vorne starrte, fragte er: „Ist Wei Ying immer noch nicht
wieder erschienen?“
Jiang Cheng sah ihn an,
als ob er überrascht wäre, dass er plötzlich nach Wei Ying gefragt
hatte. Er antwortete: „Nein.“
Er sah Suibian an, das an
seiner Taille hing: „Meine Leute haben noch immer keine Nachricht
von ihm erhalten. Aber wenn er zurückkommt, dann wird er mich sicher
finden. Wenn er auftaucht, dann gebe ich ihm sein Schwert.“
Unter ihrer Führung
kamen sie bald darauf mit einer Gruppe von Kultivierenden in einem
Aufsichtsbüro an, wo sich Wen Chao versteckt halten sollte, um sich
auf einen Nachtangriff vorzubereiten. Bevor sie dort eintraten,
versteiften sich Lan WangJis Gesichtszüge. Jiang Cheng runzelte die
Stirn.
Dunkle und nachtragende
Energie schien aus diesem Haus förmlich überzuquellen.
Die Talismane auf beiden
Seiten der Türen waren jedoch noch intakt. Jiang Cheng signalisierte
den Kultivierenden, dass sie sich an der Mauer entlang verstecken
sollten. Er hingegen schlug mit Sandu zu. Die Schwertenergie griff an
und öffnete die Türen.
Bevor er hineinging,
betrachtete Lan WangJi die Talismane neben den Türen genauer. Die
Szene im Inneren des Aufsichtsbüros war mehr als erschreckend. Im
Innenhof lagen überall Leichen. Nicht nur dort, in den Büschen, in
den Fluren, auf den Zäunen und sogar auf den Dächern war alles mit
Leichen übersät.
Alle Leichen trugen die
Roben mit dem flammenden Sonnenmotiv. Sie waren allesamt Schüler der
Wen-Sekte. Mit Sandu drehte Jiang Cheng eine der Leichen um und sah
kreuz und quer verlaufene Blutspuren über das blasse Gesicht laufen,
„Sie bluten aus dem Qiqiao.“
Lan WangJi stand auf der
anderen Seite, „Dieser hier nicht.“
Jiang Cheng ging zu ihm
hinüber. Er sah, dass sich dort die Augen der Leiche zurückgezogen
hatten. Sein Gesicht war vollkommen zerstört worden. Gelbe Galle
tropfte aus seinem Mund. Es war zu Tode erschrocken gewesen.
Einer der Schüler unter
ihm berichtete: „Sektenführer, wir haben die Inspektion
abgeschlossen. Sie sind alle tot. Und jede Leiche starb auf eine
andere Weise.“
Erwürgt, verbrannt,
ertränkt, vergiftet, erfroren, an der Kehle aufgeschlitzt, am Kopf
durchbohrt...
Nachdem Jiang Cheng mit
dem Zuhören fertig war, sprach er in einem kühlen Ton: „Sieht so
aus, als hätte uns etwas anderes geholfen, die Aufgabe von heute
Abend zu erfüllen.“
Lan WangJi sagte nichts.
Er war der Erste, der das Haus betrat.
Die Türen zu Wen Chaos
Zimmer standen weit offen. Nur eine weibliche Leiche lag im Raum. Die
Leiche trug leichte Kleidung. Die Hälfte eines Stuhlbeines war ihr
in den Hals gestopft worden. Sie hatte sich selbst getötet, indem
sie sich gezwungen hatte, das Stuhlbein herunterzuschlucken.
Jiang Cheng drehte das
entstellte Gesicht der Leiche zu sich herum. Nachdem er es eine Weile
betrachtet hatte, gab er ein kaltes Lachen von sich. Er hob das
Stuhlbein an und schob es in ihren Mund und schaffte es irgendwie,
die Hälfte, die noch draußen gewesen war, auch in ihren Körper zu
stopfen.
Mit roten Augen stand er
auf. Gerade als er sprechen wollte, sah er wie Lan WangJi
nachdenklich über etwas vor der Tür stehen geblieben war. Er ging
hinüber. Den Augen von Lan WangJi folgend, sah er einen gelb-rot
lackierten Talisman an der Tür kleben.
Obwohl der Talisman auf
den ersten Blick nicht anders aussah als sonst, entdeckte man bei
genauerem Hinsehen einige kleine Stellen, die viel Unbehagen
verursachten.
Lan WangJi, „Zu viele.“
Jiang Cheng wurde ernst,
„Wie erwartet.“
Sie waren bereits im
Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren dazu in der Lage gewesen,
sich die Technik des Zeichnens dieser Art von Talismanen zu merken.
Doch inmitten des unzähligen Geschmiers auf diesem Talisman schien
es ein paar zusätzliche Pinselstriche zu geben. Diese Pinselstriche
waren es, die das Muster des Talismans vollkommen veränderten. Nun,
wenn man es sich genauer ansah, dann schien auf dem Talisman, der an
der Tür klebte, das Gesicht einer Person zu sein, die unheimlich
lächelte.
Wen Chaos und Wen ZhuLius
Leichen konnten in der Aufsichtsstelle nicht gefunden werden. Jiang
Cheng spekulierte, dass sie in Richtung Qishan geflohen seien, und
führte die Leute sofort aus dem verlassenen Aufsichtsbüro heraus
und verfolgte sie mit ihren Schwertern. Lan WangJi kehrte jedoch
zuerst nach Gusu zurück.
Am zweiten Tag hatte Lan
WangJi schließlich Jiang Cheng wieder eingeholt. Er hatte den
Talisman vom letzten Mal unschädlich gemacht: „Dieser Talisman
wurde umgedreht.“
Jiang Cheng, „Umgedreht?
Was bedeutet umgedreht?“
Lan WangJi, „Normale
Talismane wehren das Böse ab. Dieser hier zieht es an.“
Jiang Cheng war
schockiert: „Talismane.... können das Böse anziehen? Ich habe
noch nie von so etwas gehört.“
Lan WangJi, „Es ist in
der Tat unerhört. Aber die Tests haben bewiesen, dass sie die
Fähigkeiten haben, das Böse anzuziehen.“
Jiang Cheng übernahm den
Talisman und untersuchte ihn genau: „Nur wenige Pinselstriche
wurden hinzugefügt, und die gesamte Funktion des Talismans wurde
umgekehrt? War das eine menschliche Tat?“
Lan WangJi, „Vier
Pinselstriche wurden hinzugefügt. Es wurde mit menschlichem Blut
geschrieben. Alle Talismane im Aufsichtsbüro wurden so verändert.
Die Striche sind von ein und derselben Person gezogen worden.“
Jiang Cheng, „Wer
könnte diese Person dann sein? Unter allen namhaften Kultivierenden
habe ich noch nie von einem gehört, der so etwas tun kann.“
Sofort danach fuhr er
fort: „Aber egal, wer sie sind, es ist in Ordnung, solange ihr Ziel
das gleiche ist wie unseres - alle Wen-Hunde zu töten!“
Die beiden gingen nach
neusten Informationen in Richtung Norden. Überall, wo sie hingingen,
hörten sie, wie von seltsamen Leichen gesprochen wurde, die dort
aufgetaucht waren. Alle Leichen waren Kultivierende der Wen-Sekte,
gekleidet in Sonnengewänder. Alle von ihnen waren sowohl im Rang als
auch in ihrer Kultivierung hoch. Trotzdem starben sie alle auf
grausame und doch vielfältige Weise, und alle waren in der
Öffentlichkeit zurückgelassen worden, wo viele es hatten sehen
können.
Jiang Cheng, „Glaubst
du, dass all diese Menschen auch von dieser Person getötet wurden?“
Lan WangJi, „Die
finstere Energie wiegt ziemlich schwer. Sie sollten alle von
derselben Person gemacht worden sein.“
Jiang Cheng schnaubte,
„Finster? Könnte es in dieser Welt etwas Finstereres geben als die
Wen-Hunde?!“
Sie hatten bis spät in
die vierte Nacht gejagt. Die beiden hatten Wen ZhuLiu schließlich in
der Kurierstation einer abgelegenen Bergstadt gesichtet. Die
Kurierstation war zwei Stockwerke hoch. Ein Stall befand sich direkt
neben dem Gebäude. Als Lan WangJi und Jiang Cheng ankamen, sahen sie
zufällig einen großen Schatten im Inneren verschwinden und die
Türen hinter sich verschließen. Aus Angst vor Wen ZhuLius
'Kernschmelz-Hand-Technik' beschlossen die beiden, den Feind nicht zu
alarmieren und sich über das Dach zu schleichen, anstatt durch die
Tür zu gehen.
Jiang Cheng zwang den
gewaltigen Hass in sich zurück. Er knirschte mit den Zähnen und
starrte ohne zu blinzeln durch einen Schlitz zwischen den
Dachziegeln. Wen ZhuLiu schien sich auf seine Abreise vorzubereiten.
In seinen Armen befand sich eine andere Person. Als ob er deren Beine
hinter sich herschleppen müsste, ging er in den zweiten Stock und
setzte die Person neben einem Tisch ab . Dann rannte er zu allen
Fenstern und schloss dort die Läden, so dass nicht einmal eine
einzige Brise durchdringen konnte. Schließlich kehrte er zum Tisch
zurück und zündete die Öllampe an.
Das schwache Licht
erhellte sein Gesicht. Es war noch blass, noch kalt, aber zwei große,
schwarze Flecken waren unter seinen Augen. Die andere Person am Tisch
war vollständig abgedeckt. Sogar ihr Gesicht war unter einem Umhang
versteckt. Wie in einem zerbrechlichen Kokon zitterte die Person
innerhalb des Umhangs und keuchte, während er plötzlich ausrief:
„Zünde die Lampe nicht an! Was ist, wenn er uns findet?!“
Lan WangJi blickte auf
und tauschte einen Blick mit Jiang Cheng aus. Beide hatten den
gleichen verwirrten Blick. Diese Person musste Wen Chao sein. Aber
hatte Wen Chaos Stimme schon immer so geklungen? So dünn und so
schrill, dass es gar nicht Wen Chao zu sein schien?
Wen ZhuLiu suchte mit
gesenktem Kopf nach einem Gegenstand in seinen Ärmeln: „Glaubst du
nicht, dass selbst wenn wir die Lampen nicht anzünden, er uns nicht
finden können wird?“
Wen Chao keuchte: „Wir
sind schon so weit gelaufen, und schon so lange. Er sollte nicht in
der Lage sein, uns zu fangen, oder?“
Wen ZhuLiu schien dies
gleichgültig zu sein, „Vielleicht.“
Wen Chao brodelte: „Was
meinst du mit 'vielleicht'? Wenn wir ihm nicht entkommen sind, warum
hast du dann hier angehalten?“
Wen ZhuLiu, „Du
brauchst Salbe. Ansonsten bist du mit Sicherheit bald tot.“
Während er sprach, zog
er Wen Chaos Umhang aus. Auf dem Dach waren beide schockiert.
Unter dem Umhang war
nicht Wen Chaos arrogantes, schmierig-schönes Gesicht, sondern ein
kahler Kopf, der in Verbände gehüllt war! Wen ZhuLiu schälte die
Verbände Schicht für Schicht ab und enthüllte die Haut des kahlen
Mannes. Auf seinem Gesicht befanden sich Narben und Brandspuren ohne
Zuordnung und ließen ihn aussehen, als wäre er gekocht worden.
Hässlich, abscheulich, sie konnten noch nicht einmal einen Schatten
von dem, was er einmal war, erkennen!
Wen ZhuLiu nahm die
Flasche mit der Medizin heraus. Er fütterte ihn zuerst mit ein paar
runden Pillen, bevor er eine Salbe herausnahm und sie auf die
Brandspuren auf seinem Kopf und seinem Gesicht auftrug. Wen Chao
wimmerte vor Schmerz, obwohl Wen ZhuLiu auf ihn einredete: „Weine
nicht. Sonst würden die Tränen die Wunden nicht trocknen lassen und
den Schmerz nur verschlimmern.“
Wen Chao konnte seine
Tränen nur zurückhalten, er war nicht einmal in der Lage, zu
weinen. Durch das flackernde Licht des Feuers sahen sie verzerrt
einen kahlen Mann, der mit Brandspuren in seinem Gesicht übersät
war, und aus dessen Mund seltsame, dumpfe Geräusche kamen. Die
Flamme stand kurz davor zu erlöschen, nur noch ein schwaches Gelb
war zu sehen. Der Anblick war mehr als beängstigend.
Plötzlich schrie Wen
Chao auf: „Die Flöte! Die Flöte! Ist es die Flöte?! Ich habe ihn
wieder Flöte spielen hören!“
Wen ZhuLiu, „Nein! Das
war nur der Wind.“
Wen Chao war jedoch so
verängstigt, dass er in seinem Klagen auf den Boden gerutscht war.
Wen ZhuLiu hob ihn wieder auf. Es schien, als wäre etwas mit Wen
Chaos Beinen passiert, so dass er nicht mehr alleine gehen konnte.
Nachdem Wen ZhuLiu mit
dem Auftragen der Salbe fertig war, nahm er ein paar Brötchen aus
seinem Revers und legte eines davon in seine Hand: „Iss. Wir gehen
weiter, wenn du fertig bist.“
Zitternd schloss Wen Chao
seine Hände darum und nahm einen Biss davon. Als Jiang Cheng dies
sah, erinnerte er sich daran, in was für einer Notlage er und Wei
WuXian an dem Tag gewesen waren, als sie geflohen waren. Sie hatten
nicht einmal etwas zu Essen gehabt. Eine solche Situation war in der
Tat Karma!
Das Herz war voller
Freude, die verbitterte Haltung seines Körpers schien sich
aufzulösen und er brach in wahnsinniges, aber lautloses Gelächter
aus.
Plötzlich sah Wen Chao
aus, als hätte er in etwas gebissen, was ihn dazu veranlasste, mit
einem versteinerten Ausdruck zu reagieren. Er warf das Brötchen weg
und schrie: „Ich esse kein Fleisch! Das tue ich nicht! Das tue ich
nicht! Ich esse kein Fleisch!“
Wen ZhuLiu gab ihm ein
weiteres: „Dieses hier ist kein Fleisch.“
Wen Chao, „Ich werde es
nicht essen! Nimm es weg! Verschwinde! Ich will meinen Vater finden.
Wann können wir zu meinem Vater zurückkehren?!“
Wen ZhuLiu, „Bei dieser
Geschwindigkeit erreichen wir ihn in zwei Tagen.“
Seine Worte waren ganz
ehrlich, weder betont noch gefälscht. Die Ehrlichkeit sorgte jedoch
für viel Gejammer von Wen Chaos Seite: „Zwei Tage? Zwei Tage?!
Sieh doch nur, in welcher Verfassung ich im Moment schon bin! Wenn
ich noch zwei Tage länger warten muss, wie sähe ich denn dann aus?!
Du nutzloses Ding!“
Wen ZhuLiu stand
plötzlich auf. Wen Chao zuckte vor Angst zurück. Er dachte, dass er
allein weiter fliehen wollte und hatte sofort Angst. Alle anderen
Wachen waren einer nach dem anderen vor ihm gestorben. Wen ZhuLiu war
sowohl seine stärkste als auch seine letzte Unterstützung. Er
änderte schnell seine Worte: „Nein nein nein, Wen ZhuLiu, Bruder
Wen! Geh nicht, lass mich nicht zurück. Wenn du mich zu meinem Vater
zurückbringen kannst, lasse ich dich von ihm zum besten
Gastkultivierer befördern! Nein, nein, nein, du hast mich gerettet,
also bist du mein Bruder, ich lasse dich von ihm in den Hauptclan
aufnehmen! Von nun an bist du mein großer Bruder!“
Wen ZhuLiu starrte in
Richtung der Treppe: „Das ist nicht nötig.“
Nicht nur er hatte etwas
gehört, sondern auch Lan WangJi und Jiang Cheng. Die Schritte, einer
nach dem anderen, kamen von der Treppe der Kurierstation. Jemand ging
die Treppe hinauf, ein Schritt nach dem anderen.
Das gesamte überschüssige
Blut war aus Wen Chaos verbranntem Gesicht gewichen. Zitternd bewegte
er seine Hände aus dem Umhang und bedeckte sein Gesicht mit ihnen,
als ob er so verängstigt wäre, dass er seine Augen verdecken
wollte, um sich zu schützen, und tat so, als ob nichts passiert
wäre. Die Handflächen waren nur noch reine Ballen, ohne einen
einzigen Finger daran!
Tapp, tapp, tapp.
Die Person ging langsam
nach oben. Sie war komplett in schwarz gekleidet. Mit einem hohen,
schlanken Körperbau hatte sie eine Flöte an ihrer Taille, die Hände
lagen gekreuzt auf dem Rücken. Auf dem Dach legten sowohl Lan WangJi
als auch Jiang Cheng ihre Hände auf die Griffe ihrer Schwerter.
Nachdem die Person jedoch
die Treppe hinaufgegangen und sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht
umdreht hatte, weiteten sich Lan WangJis Augen, da er diese
strahlenden Gesichtszüge schon einmal gesehen hatte.
Information:
von
dieser Person, deren Nachname Wei ist: Diese Anrede gilt in China
als sehr unhöflich, jedoch nicht unbedingt, wenn sie unter sehr
guten Freunden auf scherzhafte Weise eingesetzt wird. Dies ist aber
hier sicherlich nicht der Fall und zeigt daher nur, dass Wang
LingJiao selbst nach Wei WuXians „Tod“ kein gutes Haar an ihm
lässt.
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