Kapitel
59: Gift – Teil Vier
Wen Ning
Wei WuXian fühlte, wie
sein Herz einen Schlag aussetzte, Hat er uns gesehen? Sollten wir
weglaufen? Oder hat er uns nicht gesehen?
Plötzlich kam eine
leise, weinerliche Stimme von der anderen Seite der Wand. Neben dem
Klang von Schritten sprach ein Mann mit sanfter Stimme: „Weine
nicht. Dein Gesicht ist schon ganz verschmiert.“
Diese Stimme war sowohl
Jiang Cheng als auch Wei WuXian bekannt - es war Wen Chao!
Bald darauf schniefte
Wang LingJiao: „Magst du mich dann nicht mehr, wenn mein Gesicht
verschmiert ist?“
Wen Chao, „Wie kannst
du so etwas denken? Egal wie JiaoJiao aussieht, ich werde sie immer
mögen.“
Wang LingJiao sprach
emotional: „Ich war wirklich so, so verängstigt.... Heute war ich
wirklich... Ich war so nah dran zu glauben, dass ich von dieser
Schlampe getötet werden würde und ich dich nie wieder sehen
werde.... Junger Meister Wen... Ich...“
Wen Chao schien sie
tröstlich zu umarmen: „Hör auf zu reden, JiaoJiao. Jetzt ist
alles in Ordnung. Was für ein Glück, dass dich Wen ZhuLiu beschützt
hat.“
Wang LingJiao beschwerte
sich: „Du erwähnst ihn immer noch?! Wen ZhuLiu, ich hasse ihn.
Wenn er heute nicht erst so spät gekommen wäre, hätte ich nicht so
viel leiden müssen. Auch jetzt tut mir mein Gesicht noch so sehr
weh, so sehr....“
Sie war eindeutig
diejenige gewesen, die Wen ZhuLiu befohlen hatte, sich nicht vor
ihren Augen blicken zu lassen und so selbst zu verantworten hatte,
dass sie verprügelt worden war. Nun aber stellte sie die Sache
wieder in einem anderen Licht dar. Wen Chao hörte ihr gerne auf so
mitleidige Weise zu: „Es wird nicht wehtun. Hier, lass es mich
anfassen.... Du magst es nicht, wie langsam er war, aber du darfst
sein Limit nicht herausfordern. Sein Kultivierungsgrad ist wirklich
hoch. Mein Vater hat oft gesagt, dass er ein seltenes Talent ist. Ich
hoffe immer noch, dass ich ihn noch ein paar Jahre gebrauchen kann.“
Wang LingJiao war nicht
überzeugt: „Na und... Na und? Und wenn er ein Talent ist? Es gibt
so viele bekannte Kultivierende, so viele Talente unter Sektenführer
Wen, mindestens Tausende. Was soll schon passieren, wenn er weg ist?“
Diese Aussage deutete Wen
Chao an, dass er Wen ZhuLiu bestrafen sollte, damit sie sich besser
fühlen würde. Wen Chao kicherte. Obwohl er Wang LingJiao so sehr
schätzte, war es noch nicht so weit, dass er seine persönliche
Garde um einer Frau willen bestrafen würde. Schließlich hatte Wen
ZhuLiu viele Attentate auf ihn gestoppt. Er sprach auch nicht zu
viel. Mit so einem loyalen Charakter würde er definitiv niemals
seinen Vater verraten, was bedeutete, dass er ihn definitiv auch
nicht verraten würde. Eine starke, aber loyale Wache wie diese war
wirklich selten.
Als sie sah, dass er sich
nicht allzu große Sorgen um sie machte, fügte Wang LingJiao hinzu:
„Sieh ihn dir an. Er ist eindeutig nur ein einfacher Untergebener
unter deinem Kommando, aber er ist so arrogant. Ich wollte dieser
Yu-Schlampe ins Gesicht schlagen, und er ließ mich nicht einmal. Sie
ist doch schon tot - sie ist nur eine Leiche! Er hat auf mich
herabgesehen, also bedeutet das, dass er auch auf dich herabsieht,
nicht wahr?“
Jiang Cheng konnte sich
nicht mehr richtig an der Wand festhalten, und so rutschte er nach
unten. Wei WuXian packte ihn schnell an der Rückseite seines Revers.
Beide hatten tränenreiche Augen. Die Tränen rollten entlang ihrer
Wangen herunter und fielen auf ihre Handrücken und schließlich auf
den Boden.
Wei WuXian erinnerte
sich, dass er heute Morgen, als Jiang FengMian gegangen war, dieser
einen Streit mit Herrin Yu gehabt hatte. Die letzten Worte, die
zwischen ihnen ausgetauscht worden waren, waren nichts Nettes oder
Sanftes gewesen. Er fragte sich, ob sie sich ein letztes Mal hatten
ansehen können, ob Jiang FengMian die Chance gehabt hatte, mit
Herrin Yu noch einen weiteren Satz zu reden.
Wen Chao interessierte
sich nicht für diese Angelegenheit: „So ist seine Persönlichkeit
nun einmal, ziemlich seltsam. Er sagte so etwas wie 'die Toten nicht
noch demütigen'. Er war derjenige, der sie getötet hat, also was
sollte da der Grund gewesen sein, über solche Dinge noch zu reden?“
Wang LingJiao stimmte zu:
„Das ist richtig. Was für eine Heuchelei!“
Wen Chao liebte es zu
hören, wie sie ihm zustimmte. Er lachte. Wang LingJiao freute sich,
„Diese Schlampe Yu, sie hatte es verdient. Damals zwang sie den
Mann, sie mit der Macht ihrer Sekte zu heiraten. Und am Ende? Was
nützte ihre Ehe? Er mochte sie immer noch nicht. Sie war jahrelang
eine verlassene Frau, und jeder lachte sie hinter ihrem Rücken aus.
Schon damals wusste sie nicht, wie man sich zurückhält und war
immer wieder so arrogant. Ihr Ende war in der Tat Karma.“
Wen Chao, „Wirklich?
Ihr Aussehen ist nicht allzu schlecht. Warum mochte Jiang FengMian
sie nicht?“
Solange eine Frau gut
aussah, gab es nach seinem Wissen keinen Grund für einen Mann, sie
nicht zu mögen. Diejenigen, die beiseite geschoben werden sollten,
waren entweder Frauen, die durchschnittlich aussahen oder Frauen, die
nicht ihr Bett mit ihm teilen wollten. Wang LingJiao antwortete: „Es
ist wirklich ganz offensichtlich, wenn man darüber nachdenkt. Diese
Schlampe Yu war so aggressiv. Sie war eindeutig eine Frau, aber sie
schwang ihre Peitsche und schlug die ganze Zeit andere. Sie hatte
überhaupt keine Manieren. Jiang FengMian war dadurch so sehr
belastet, selbst nachdem er sie geheiratet hatte. Er war der
unglücklichste Mann aller Zeiten.“
Wen Chao, „Das ist
richtig! Frauen sollten alle wie meine JiaoJiao sein, gehorsam und
sanftmütig, und sich nur um mich kümmern.“
Wang LingJiao kicherte.
Solche unerträglich vulgären Worte zu hören, ließ Wei WuXian sich
sowohl trostlos als auch wütend fühlen, sein ganzer Körper
zitterte. Er befürchtete, dass Jiang Cheng sich vergessen könnte
und ausbrechen würde, aber vielleicht war er aufgrund der extremen
Trauer so bewegungslos, dass er ohnmächtig zu sein schien. Wang
LingJiao sprach leise: „Natürlich interessiere ich mich für
niemanden außer für dich.... Für wen sonst sollte ich mich
interessieren?“
Plötzlich stürmte eine
weitere Stimme herbei, „Junger Meister Wen! Alle Häuser wurden
bereits durchsucht. Über zweitausend vierhundert Schätze wurden
gezählt. Sie werden im Moment kategorisiert.“
Die gehörten dem Lotus
Pier, die gehörten der Jiang-Sekte!
Wen Chao lachte: „Gut
gemacht, gut gemacht! Zu einem solchen Zeitpunkt sollten wir ein
großes Fest feiern. Warum veranstalten wir hier heute Abend nicht
ein Bankett? Nutzt alles optimal aus!“
Wang LingJiao sprach mit
zärtlicher Stimme: „Junger Meister Wen, Glückwunsch zum Einzug in
den Lotus Pier.“
Wen Chao, „Welcher
Lotus Pier? Ändern wir den Namen. Reißt jede Tür, die mit dem
neunblättrigen Lotus beschnitzt ist, heraus und ersetzt sie durch
die mit dem Sonnenmotiv der QishanWen-Sekte! JiaoJiao, komm und tanz
für mich zu deinem besten Lied!“
Wei WuXian und Jiang
Cheng konnten sich das nicht mehr länger anhören. Sie kletterten
wieder die Wand hinunter. Stolpernd taumelten sie aus dem Lotus Pier.
Auch nach langem Laufen konnte das Lachen der Menge auf dem
Trainingsplatz nicht einfach weggewischt werden. Die kokette Stimme
einer Frau sang fröhlich über dem Lotus Pier. Wie eine mit Gift
übergossene Klinge schnitt sie sich immer wieder in ihre Ohren und
Herzen.
Sie waren über einen
Kilometer weit gelaufen, bevor Jiang Cheng abrupt anhielt. Wei WuXian
stoppte ebenfalls. Als Jiang Cheng sich umdrehte, packte Wei WuXian
ihn: „Jiang Cheng, was machst du da?! Geh nicht zurück!“
Jiang Cheng schüttelte
die Hand weg, „Geh nicht zurück?! Ist das dein Ernst? Du sagst
mir, ich soll nicht dorthin zurückgehen? Die Körper meiner Eltern
sind noch im Lotus Pier, kann ich da einfach so gehen? Wo könnte ich
denn sonst hingehen, wenn ich nicht zurückkehre?!“
Wei WuXians Griff
straffte sich: „Was könntest du schon ausrichten, wenn du jetzt
zurückgehen würdest? Sie haben sogar Onkel Jiang und Herrin Yu
getötet. Alles, was dich dort erwartet, ist der Tod!“
Jiang Cheng rief: „Dann
erwartet mich halt der Tod! Wenn du Angst vor dem Tod hast, dann
verschwinde - steh mir nicht im Weg!“
Wei WuXian stürzte sich
auf ihn, „Für Rache ist es nie zu spät. Wir müssen die Leichen
zurückbringen, aber nicht jetzt!“
Jiang Cheng wich vor dem
Angriff zur Seite aus: „Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich habe genug
von dir – verschwinde auf der Stelle!“
Wei WuXian rief: „Onkel
Jiang und Herrin Yu sagten, ich solle mich um dich kümmern, damit es
dir gut geht!“
„Halt die Klappe!“
Jiang Cheng schob ihn hart weg und brüllte: „Warum?“
Wei WuXian wurde in die
Büsche geschoben. Jiang Cheng warf sich auf ihn drauf. Er packte Wei
WuXians Kragen und schüttelte ihn: „Warum? Warum?! Warum nur?!
Bist du glücklich?! Bist du zufrieden?!“
Er drückte Wei WuXians
Kehle zusammen, seine Augen waren blutunterlaufen, „Warum hast du
Lan WangJi gerettet?!“
Unter der Trauer und der
Wut hatte Jiang Cheng den Verstand verloren. Er konnte die Kraft, die
er benutzte, überhaupt nicht kontrollieren. Wei WuXian zog an seinem
Handgelenk, „Jiang Cheng....“
Jiang Cheng hielt ihn auf
dem Boden fest und brüllte weiter: „Warum hast du Lan WangJi
gerettet?! Warum musstest du laut sprechen?! Wie oft habe ich dir
gesagt, dass du keinen Ärger machen sollst! Nicht zuschlagen! Willst
du wirklich so sehr den Helden spielen?! Hast du gesehen, was
passiert ist, als du den Helden gespielt hast?! Huh?! Bist du jetzt
glücklich?! Lan WangJi und Jin ZiXuan und diese Leute hätten
einfach sterben sollen! Lass sie einfach sterben! Was hat ihr Tod mit
uns zu tun?! Mit unserer Sekte zu tun?! Warum musste das passieren?!
Warum?! Stirb einfach! Stirb einfach! Ihr sollt alle sterben! Alle!!“
Wei WuXians Gesicht war
rot geworden. Er rief: „Jiang Cheng!“
Die Hand um seinen Hals
lockerte sich plötzlich.
Jiang Cheng starrte ihn
an. Tränen rollten über seine Wangen. Aus den Tiefen seiner Kehle
entkam der Schrei eines Sterbenden, ein schmerzhaftes Schluchzen.
Er sprach unter Tränen,
„.... Ich will meine Eltern wiederhaben, meine Eltern....“
Er fragte Wei WuXian nach
seinem Vater und seiner Mutter. Doch egal, wen er fragen würde, er
würde sie nicht wiederhaben können. Wei WuXian weinte auch. Die
beiden saßen zusammengesunken inmitten der Grasbüsche und
beobachteten sich gegenseitig beim Weinen.
In seinem Herzen wusste
Jiang Cheng genau, dass damals in der Höhle des Xuanwu des Gemetzels
am Berg Muxi, auch wenn Wei WuXian Lan WangJi nicht gerettet hätte,
die Wen-Sekte einen Grund gefunden hätte, früher oder später zu
kommen. Aber er hatte immer das Gefühl gehabt, dass, wenn die ganze
Sache mit Wei WuXian nicht passiert wäre, es vielleicht nicht so
früh gewesen wäre, es vielleicht einen Weg gegeben hätte, die
Dinge zu ändern.
Es war dieser quälende
Gedanke, der sein Herz mit Hass und Zorn erfüllte. Da sie nicht raus
gelassen werden konnten, zerstückelten sie seine Innereien.
Als der Tag sich zu
erhellen begann, war Jiang Cheng immer noch wie betäubt. Die ganze
Nacht über hatte er es irgendwie geschafft, ein paar Mal zu
schlafen. Der erste Grund war, dass er, nachdem er zu müde war, weil
er bis zur Erschöpfung geweint hatte, nicht anders konnte als
ohnmächtig zu werden. Der zweite Grund war, dass er immer noch die
Hoffnung hatte, dass dies ein Alptraum sein könnte. Er konnte es
kaum erwarten, nach einer Pause aufzuwachen und die Augen zu öffnen,
um in seinem Zimmer im Lotus Pier zu liegen. Sein Vater würde sein
Schwert in der Haupthalle polieren. Seine Mutter würde wieder wütend
sein und sich beschweren, Wei WuXian schimpfen, der auf eine lustige
Weise zwinkerte. Seine Schwester wäre in der Küche und würde
intensiv darüber nachdenken, was sie kochen sollte. Seine Shidi
würden sich weigern, ihren Morgenunterricht richtig zu machen und
herumalbern.
Er wollte nicht in einem
Busch aus Unkraut aufwachen, mit einem Kopf, der fast auseinander
platzte, nachdem er eine ganze Nacht lang im kalten Wind gelegen
hatte, immer noch zusammengerollt hinter einem kargen kleinen Hügel.
Der erste, der sich
bewegte, war Wei WuXian. Mit seinen Händen auf den Beinen
abgestützt, schaffte er es, sich zu erheben. Er sprach mit heiser
Stimme: „Lass uns gehen.“
Jiang Cheng bewegte sich
überhaupt nicht. Wei WuXian zog an ihm und wiederholte: „Lass uns
gehen.“
Jiang Cheng, „...wohin
gehen?“
Auch seine Kehle war
trocken. Wei WuXian antwortete: „Zur MeishanYu-Sekte. Um Shijie zu
finden.“
Jiang Cheng schlug seine
ausgestreckte Hand weg. Wenige Augenblicke später setzte er sich
endlich alleine auf und erhob sich. Die beiden machten sich auf den
Weg in Richtung Meishan. Sie gingen zu Fuß. Unterwegs versuchten sie
beide, alles an Energie aufzurufen, die ihnen noch übrig geblieben
war. Ihre Schritte waren schwer, als ob sie Tausende von Pfund mit
sich schleppten.
Jiang Chengs Kopf blieb
die ganze Zeit über gesenkt. Er umarmte seine rechte Hand und
drückte Zidian an seine Brust, wo sein Herz war, und fühlte immer
wieder den einzigen Überrest seiner Familie, der noch übrig
geblieben war. Er schaute auch oft zurück, dorthin, wo sich der
Lotus Pier befand, und starrte auf das, was früher seine Heimat war
und nun zu einer Höhle der Dämonen geworden war. Immer wieder war
es, als würde er nie genug davon bekommen, als würde er den letzten
Funken Hoffnung doch noch nicht verlieren. Aber auch die Tränen in
seinen Augen kamen nie zum Stillstand.
Sie waren in Eile
geflohen, ohne etwas zu essen mitzunehmen. Von vorgestern bis heute
hatten sie auch ziemlich viel Kraft aufgewendet. Nachdem sie einen
halben Tag lang gelaufen waren, wurde ihnen beiden schwindlig. Sie
verließen die kargen Felder und betraten eine kleine Stadt. Wei
WuXian sah Jiang Cheng an. Als er sah, wie müde und unwillig er war,
sich noch weiter zu bewegen, sprach er: „Du kannst dich setzen. Ich
werde uns etwas zu essen suchen.“
Jiang Cheng antwortete
ihm nicht und nickte nicht. Auf dem Weg hierher hatte er nur ein paar
Worte zu Wei WuXian gesagt. Wei WuXian sagte ihm mehrmals, er solle
sich nicht bewegen, bevor er schließlich wegging. Er hatte oft
überschüssiges Geld in die Ecken seiner Kleidung versteckt, und
jetzt würde es von Nutzen sein - zumindest hatte er Geld, um Dinge
zu kaufen. Als er herumging, kaufte er einen Haufen Lebensmittel, vor
allem getrocknete, um diese unterwegs essen zu können.
In weniger als dreißig
Minuten war er wieder dorthin zurückgekehrt, wo sich ihre Wege
getrennt hatten. Aber Jiang Cheng war weg.
Wei WuXian hielt
gedünstete Brötchen, Fladenbrote und Früchte in den Händen und
fühlte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Er zwang sich, sich zu
beruhigen. Selbst nachdem er die benachbarten Straßen abgesucht
hatte, sah er Jiang Cheng immer noch nicht. Schließlich geriet er in
Panik.
Als er einen Schuster am
Straßenrand traf, fragte er: „Werter Herr, es gab einen jungen
Meister etwa im gleichen Alter wie ich, der hier saß. Hast du
gesehen, wo er hingegangen ist?“
Der Schuster leckte am
dicken Ende eines Fadens, „Derjenige, der bei dir war?“
Wei WuXian, „Ja!“
Der Schuster, „Ich war
gerade beschäftigt, also habe ich es nicht wirklich gesehen. Aber er
blieb auf Abstand und starrte die Leute auf der Straße an. Und als
ich dann wieder aufblickte, und dort hinsah wo er war, war er
plötzlich verschwunden. Vielleicht ist er gegangen.“
Wei WuXian murmelte,
„.... Er ist gegangen... Er ist gegangen....“
Er ist wahrscheinlich zum
Lotus Pier gegangen, um die Leichen zu stehlen!
Als ob er verrückt
geworden wäre, sprintete Wei WuXian sofort in die Richtung, aus der
sie gekommen waren. Er hielt in seinen Händen das Essen, das er
gerade gekauft hatte, und das Gewicht verlangsamte ihn. Eine Weile
später ließ er es zurück. Nachdem er jedoch einige Zeit lang
gelaufen war, begann er sich immer schwächer und schwächer zu
fühlen, zusätzlich zu dem, dass er immer mehr in Panik geriet. Als
seine Beine nachgaben, brach er auf den Boden zusammen.
Als er zusammenbrach,
fiel er mit seinem Gesicht voran in den Dreck. Er konnte Erde in
seinem Mund schmecken. Eine überwältigende Mischung aus Hass und
Hilflosigkeit entstand in Wei WuXians Brust. Er knallte seine Faust
hart auf den Boden und schrie, bevor er schließlich wieder hochkam.
Er drehte sich um und rannte in die andere Richtung. Nachdem er eines
der gedämpften Brötchen, die er fallen gelassen hatte, aufgehoben
hatte, wischte er es an seiner Kleidung ab, bevor er es in nur
wenigen Bissen schluckte. Er kaute, als würde er mit den Zähnen
Fleisch zerreißen. Als er schluckte, fühlte er, wie es an seiner
Kehle kratzte und einen dumpfen Schmerz verursachte. Er hob noch ein
paar mehr auf und stopfte sie in sein Revers. Er hielt eines in der
Hand und aß, während er rannte, in der Hoffnung, dass er Jiang
Cheng auf halbem Weg stoppen würde.
Doch bis er am Lotus Pier
ankam, als der Mond und die Sterne bereits am Nachthimmel schienen,
hatte er Jiang Cheng auf seiner Reise noch nicht gesehen. Wei WuXian
starrte aus der Ferne auf den hell erleuchteten Lotus Pier. Mit den
Händen abgestützt auf den Knien, keuchte er unaufhaltsam. Der
Geschmack von Blut kletterte über seine Brust hoch in seinen Hals,
die Art, die nach einer längeren Zeit des Laufens auftrat. Der Mund
voll vom rostigen Geschmack, fühlte er, wie ihm schwarz vor Augen
wurde.
Er dachte bei sich
selbst: Warum habe ich Jiang Cheng nicht eingeholt? Selbst nachdem
ich etwas gegessen hatte, war ich so schnell, wie ich überhaupt
laufen konnte. Er war müder als ich und er hat etwas Schlimmeres
durchgemacht. Wie konnte er schneller sein als ich? Ist er wirklich
zum Lotus Pier zurückgekommen? Aber wenn er nicht hierher
zurückgekommen sein sollte, wo würde er denn dann sonst hingehen?
Alleine, ohne mich nach Meishan?
Nach einer Weile der Ruhe
entschied er sich dennoch, zum Lotus Pier zu gehen, um ihn
auszukundschaften. Während er an der Mauer entlang schlich, ertönte
eine Stimme in Wei WuXians Herzen und betete mit allem, was der
Verzweiflung nahe war. Lass diesmal niemanden über Jiang Chengs
Leiche auf dem Trainingsplatz sprechen. Oder sonst, oder sonst werde
ich....
Oder sonst?
Oder was sollte er sonst
tun?
Er konnte nichts tun. Er
war machtlos. Der Lotus Pier war zerstört worden, sowohl Jiang
FengMian als auch Herrin Yu waren weg, und auch Jiang Cheng war
verschwunden. Er war der einzige, der noch übrig war, allein, mit
nicht einmal einem Schwert in der Hand. Er wusste nicht, was und wie
er etwas tun sollte!
Zum ersten Mal bemerkte
er, wie klein seine Macht war. Vor etwas so Großem wie der
QishanWen-Sekte war es dasselbe wie eine Gottesanbeterin, die
versuchte, einen Wagen zu stoppen.
Wei WuXians Augen fühlten
sich so warm an, dass er im Begriff war, wieder zu weinen. Er ging um
die Ecke, als plötzlich ein Schatten in den Sonnen- und
Flammengewändern auf ihn zukam. Mit der Geschwindigkeit eines
Blitzes schnappte sich Wei WuXian die Person und hielt sie fest.
Seine linke Hand hielt
die beiden Hände der Person eisern fest, während sich seine rechte
um deren Hals schloss. Er senkte seine Stimme und drohte mit dem
rücksichtslosesten Ton, den er beschwören konnte: „Mach keinen
Lärm! Sonst kann ich dir sofort das Genick brechen!“
Von ihm festgehalten,
beeilte sich die Person zu sagen: „Junger Meister Wei, ich bin's!“
Es war die Stimme eines
Jungen. Als Wei WuXian sie hörte, war seine erste Reaktion:
Vielleicht ist es einer von den Leuten, die ich kenne, der jetzt die
Gewänder der Wen-Sekte trägt, um unter ihnen zu spionieren?
Aber die Stimme war ihm
völlig unbekannt. Er lehnte den Gedanken sofort ab und sein Griff
erhärtete sich: „Spiel hier keine Tricks!“
Der Junge, „Ich.... Ich
spiele keine Tricks. Junger Meister Wei, du kannst dir mein Gesicht
ansehen.“
Wei WuXian, Mir sein
Gesicht ansehen? Vielleicht hat er etwas in seinem Mund versteckt und
ist bereit, es auszuspucken?
Er hielt seine Deckung
aufrecht und drehte das Gesicht der Person um. Die Gesichtszüge des
Jungen waren zart. Eine jugendliche Schönheit umgab ihn. Dies war
der junge Meister der QishanWen-Sekte, den sie gestern beim
Beobachten gesehen hatte.
Wei WuXian war das
gleichgültig, Ich kenne ihn nicht.
Er drehte das Gesicht des
Jungen wieder zurück, hielt ihn weiterhin an seinem Hals fest und
befahl mit leiser Stimme: „Wer bist du?!“
Der Junge schien ein
wenig enttäuscht zu sein: „Ich... ich bin Wen Ning.“
Wei WuXian runzelte die
Stirn, „Wer ist Wen Ning?“
Doch schweigend dachte
er: Wen interessiert es, wer er ist? Egal was passiert, er ist
jemand mit einem Rang. Mit ihm in meinen Händen könnte ich
vielleicht einen Tausch machen!
Wen Ning sprach langsam:
„Ich.... Vor einigen Jahren, während der Diskussionskonferenz in
Qishan, schoss ich.... Ich... Ich schoss Pfeile...“
Als er hörte, wie
langsam er war, wurde Wei WuXian ungeduldig. Er kochte innerlich: „Du
hast was?! Bist du ein Stotterer?!“
Wen Ning war so
verängstigt, dass er in Wei WuXians Griff zuckte, als wollte er sich
mit den Händen um den Kopf zu einem Ball zusammenrollen. Er
flüsterte: „Ja.... Ja... Ja.“
Wei WuXian, „...“
Als Wei WuXian sah, wie
ängstlich, erbärmlich und dazu noch stotternd er war, schien er
sich endlich an etwas zu erinnern, Die Diskussionskonferenz in
Qishan vor zwei Jahren... Die Diskussionskonferenz.... Pfeile
schießen... Ah, es gab wirklich jemanden wie ihn!
Wei WuXian hörte ihn an:
„Du bist das... Wen... Wen irgendwas, derjenige, der ziemlich gut
im Bogenschießen ist?“
Wen Ning nickte schnell
und strahlte: „D-das bin ich! Gestern.... Ich habe dich gesehen,
junger Meister Wei, zusammen mit dem jungen Meister Jiang, also
dachte ich, dass du vielleicht wieder da bist....“
Wei WuXian, „Du hast
mich gestern gesehen?“
Wen Ning, „Das habe
ich.“
Wei WuXian, „Du hast
mich gesehen, aber niemandem etwas gesagt?“
Wen Ning, „Werde ich
nicht! Ich werde es niemandem sagen!“
Das war einer der
seltenen Sätze, in denen er nicht stotterte. Darüber hinaus war
sein Ton so entschieden, dass es sich so anhörte, als würde er
einen Eid leisten. Wei WuXian stand zwischen Schock und Zweifel. Wen
Ning fügte hinzu: „Junger Meister Wei, du bist hier, um den jungen
Meister Jiang zu finden, nicht wahr?“
Wei WuXian, „Ist Jiang
Cheng da drin?!“
Wen Ning antwortete
gehorsam: „Ist er...“
Als Wei WuXian das hörte,
drehte sich sein Verstand rasend schnell: Da Jiang Cheng da
drinnen ist, scheint es, dass ich wohl in den Lotus Pier gehen muss.
Nur wie? Wen Ning als Geisel nehmen? Das würde nicht funktionieren.
Es ist wahrscheinlich, dass Wen Chao Wen Ning nicht mag. Was ist,
wenn es keinen Sinn macht, ihn als Geisel zu nehmen?! Und lügt er
oder nicht? Ist er nicht jemand von der Wen-Sekte? Aber gestern hat
er uns wirklich gesehen und uns nicht verraten. Wenn ich ihn gehen
lasse, würde er mich dann nicht so schnell wie möglich verraten?
Wie kann es unter diesen Wen-Hunden nur jemand so nettes geben?? Um
sicherzustellen, dass ich auf der sicheren Seite bin, könnte ich
nur.....
Die Tötungsabsicht
blitzte vor Wei WuXians inneren Auge aus. Er war noch nie jemand mit
Blutgier gewesen. Aber nachdem seine Sekte zerstört worden war,
hatten sich in den letzten Tagen Zorn und Hass in ihm vereinigt. Das
Extremität der Situation erlaubte es ihm nicht, irgendwo
Freundlichkeit zuzulassen. Wenn er seine rechte Hand noch mehr
zusammengedrückte, könnte er Wen Nings Hals auf einmal brechen!
Während er darüber
nachdachte, sprach Wen Ning: „Junger Meister Wei, bist du hier, um
den jungen Meister Jiang zu retten?“
Wei WuXians Finger
zuckten leicht. Er sprach mit einer kalten Stimme: „Was denkst du
denn?“
Aus irgendeinem Grund
lächelte Wen Ning nervös: „Ich wusste es. Ich... ich kann dir
helfen, ihn da rauszuholen.“
Für den Bruchteil einer
Sekunde dachte Wei WuXian, dass er etwas falsch verstanden hätte. Er
war schockiert, „....du? Du willst mir helfen, ihn rauszuholen?“
Wen Ning, „Ja. D-denn
gerade j-jetzt kann ich ihn g-ganz schnell d-da rausholen. Wen Chao
und die a-anderen sind zufällig ausgegangen!“
Wei WuXian zog ihn näher
an sich heran, „Kannst du das wirklich?!“
Wen Ning, „Ich kann!
Ich bin auch ein Clan-Schüler der Wen-Sekte. Es gibt auch eine
Gruppe von Schülern, die meinen Befehlen folgen.“
Wei WuXians Stimme war
hart: „Befolgen sie deine Befehle? Befolgen sie die Befehle und
töten dabei Menschen?“
Wen Ning eilte,
„N-N-N-Nein! Meine Jünger töten nie Menschen nach dem
Zufallsprinzip. Ich habe keinen einzigen der Leute der Jiang-Sekte
getötet. Ich bin erst her geeilt, nachdem ich gehört hatte, dass
mit dem Lotus Pier etwas passiert sei. Es ist wahr!“
Wei WuXian starrte ihn
an, Was genau will er? Lügt er? Ist er unaufrichtig? Aber diese
Lüge ist wirklich zu lächerlich! Denkt er, dass ich ein Idiot
bin?!!
Das Beängstigende an der
Sache war, dass ein verzweifelter Hoffnungsschimmer wirklich von
irgendwo in den Tiefen seines Herzens sprießte. Er gab sich selbst
einige harte Schimpfwörter im Stillen - er war dumm, nutzlos,
lächerlich, es war bizarr, unvorstellbar. Doch er war allein, ohne
Schwert und Werkzeug, und auf der anderen Seite der Mauer befanden
sich Tausende von Kultivierenden der Wen-Sekte, vielleicht war auch
Wen ZhuLiu unter ihnen.
Er hatte keine Angst vor
dem Tod. Er hatte nur Angst, dass er nach seinem Tod nicht in der
Lage sein würde, Jiang Cheng zu retten und das Vertrauen zu
verraten, das Jiang FengMian und Herrin Yu ihm entgegengebracht
hatten. Unter solchen Umständen konnte er nur auf eine Person in der
Wen-Sekte hoffen, die er insgesamt nur dreimal getroffen hatte!
Wei WuXian leckte seine
aufgesprungenen Lippen und sprach mit trockener Stimme, „....
Dann... Dann könntest du... könntest du mir helfen.... die Körper
von Sektenführer Jiang und Herrin Yu.... mitzunehmen...“
Ohne dass er es bemerkte,
hatte er auch angefangen zu stottern. Bevor er fertig war, erinnerte
er sich daran, dass er Wen Ning immer noch in einer bedrohlichen
Haltung festhielt. Er ließ ihn schnell los, aber er ließ sich
selbst trotzdem noch einen Fluchtweg frei. Wenn Wen Ning anfing zu
rennen oder zu schreien, sobald er ihn gehen ließ, würde er Wen
Nings Schädel sofort einschlagen. Wen Ning drehte sich jedoch nur
um, seine Stimme ernst, „Ich... Ich werde mein Bestes geben.“
Wei WuXian wartete,
während in seinem Kopf die Gedanken rasten. Er ging an der gleichen
Stelle auf und ab: Was ist los mit mir? Bin ich verrückt
geworden? Warum sollte Wen Ning mir helfen? Warum sollte ich ihm
vertrauen? Was, wenn er mich anlügt und Jiang Cheng überhaupt nicht
drin ist? Nein, was wäre das für eine Erleichterung, wenn Jiang
Cheng nicht dort drin ist!
Noch ehe eine halbe
Stunde vergangen war, kam Wen Ning wirklich schweigend mit jemandem
auf seinem Rücken nach draußen. Die Person war mit Blut bedeckt.
Mit einem aschfahlen Gesicht und geschlossenen Augen hing er
bewegungslos auf Wen Nings Rücken. Es war in der Tat Jiang Cheng.
Wei WuXian flüsterte: „Jiang Cheng?!! Jiang Cheng?!“
Er berührte ihn
vorsichtig. Jiang Cheng atmete noch. Wen Ning streckte seine Hand
nach Wei WuXian aus und legte etwas in seine Handfläche: „J-junger
Meister Jiangs Zidian. Ich habe ihn mitgebracht.“
Wei WuXian wusste nicht,
was er sonst noch sagen konnte. Er erinnerte sich, dass ihm vor
kurzem erst die Absicht in den Sinn gekommen war, Wen Ning zu töten,
und sprach daher zögerlich, „.... Danke.“
Wen Ning, „Gern
geschehen... Ich habe den Leuten bereits gesagt, dass sie Herrn
Jiangs und Frau Jiangs Körper holen sollen. Ich werde sie dir danach
direkt geben. Das hier ist kein guter Ort, um zu bleiben. Zuerst....“
Ohne dass er etwas
anderes sagen musste, übernahm Wei WuXian Jiang Cheng und wollte ihn
auf dem eigenen Rücken tragen. Doch nur ein Blick genügte und er
sah die blutige Peitschenstriemen über Jiang Chengs Brust.
Wei WuXian, „War das
eine Disziplinpeitsche?!“
Wen Ning, „Mhm. Wen
Chao... er hat sich die Disziplinpeitsche der Jiang-Sekte
angeeignet.... Es sollten sich auch noch andere Verletzungen am
jungen Meister Jiang befinden...“
Wei WuXian tastete
vorsichtig ein paar Mal den Körper ab. Mindestens drei von Jiang
Chengs Rippen waren gebrochen. Er wusste nicht, wie viele
Verletzungen es noch gab, die er gerade nicht sehen konnte. Wen Ning
fuhr fort: „Sobald Wen Chao zurückgekehrt ist und das hier
entdeckt hat, wird er definitiv anfangen, dich entlang des
Yunmeng-Gebietes zu suchen.... Junger Meister Wen, wenn du mir
vertraust, kann ich dich zuerst an einen sicheren Ort bringen, um
dich zu verstecken.“
Im Moment war Jiang Cheng
schwer verletzt. Er brauchte dringend Medizin und Ruhe, so dass sie
definitiv so nicht in der Lage waren, dass sie herumlaufen konnten,
so wie sie es zuvor getan hatten, ohne zu wissen, wann ihre nächste
Mahlzeit sein würde. Die Situation, in der sie sich befanden, war
fast unmöglich aussichtslos.
Sie konnten nirgendwo
hingehen. Abgesehen davon, dass man sich auf Wen Ning verlassen
musste, um Unterstützung zu erhalten, konnte Wei WuXian irgendwie
keine andere Lösung finden!
Am Tag zuvor hätte er
definitiv nicht erwartet, dass er und Jiang Cheng die Hilfe eines
Schülers der Wen-Sekte benötigen würden, um zu entkommen,
möglicherweise wären sie sogar gestorben, weil sie nicht bereit
dazu gewesen wären, zu kapitulieren. Im Moment konnte Wei WuXian
jedoch nur sagen: „Danke!“
Wei Ning winkte mit den
Händen ab, „Es gibt.... Es gibt keinen Grund, mir zu danken.
Junger Meister Wei, komm hier lang. Ich habe ein Schiff....“
Wei WuXian fand mit Jiang
Cheng auf dem Rücken das Schiff, das Wen Ning vorher versteckt
hatte, und legte Jiang Cheng dort in der Kabine ab. Wen Ning reinigte
zuerst die Wunden von Jiang Cheng und legte einfach Verbände über
eine Salbe an. Wei WuXian, der seine vertrauten Bewegungen
beobachtete, konnte nicht umhin, sich an die Diskussionskonferenz in
Qishan zurück zu erinnern: Das war die Diskussionskonferenz in dem
Jahr gewesen, in dem Lan WangJi, Lan XiChen, Jin ZiXuan und er die
ersten vier Plätze im Bogenschießen belegt hatten.
An diesem Tag, bevor der
Bogenschießwettbewerb begonnen hatte, war er allein durch die
Nachtlose Stadt geschlendert. Während er so spazierte, ging er durch
einen kleinen Garten und hörte plötzlich vor sich das Geräusch
einer Bogensehne, die vibrierte.
Wei WuXian schlug sich
leise einen Weg durch die Blätter und Zweige. Er sah einen Jungen
dort stehen, gekleidet in weißem, weichem Stoff. Er zielte mit einem
Bogen in Richtung eines Ziels vor sich und ließ los. Von der Seite
aus betrachtet schien der Junge ziemlich hübsch zu sein. Seine
zeichnerische Haltung war sowohl fest als auch anmutig. Auf dem Ziel
steckten schon einige gefiederte Pfeile bereits in der roten Mitte.
Und auch dieser Pfeil hatte die Mitte getroffen. Kein einziger Pfeil
hatte bislang die Mitte verfehlt.
Wei WuXian rief aus:
„Bravo!“
Nachdem der Junge den
Pfeil abgeschossen hatte, hatte er einen neuen Pfeil aus dem Köcher
hinter sich herausgenommen. Mit gesenktem Kopf war er gerade dabei
gewesen, ihn auf seinen Bogen zu legen, als er plötzlich eine
unbekannte Stimme von der Seite hörte. Überrascht erzitterten seine
Hände und sein Pfeil fiel zu Boden. Wei WuXian trat aus dem hinteren
Bereich des Gartens heraus und grinste: „Welcher der jungen Meister
der Wen-Sekte bist du? Nun, nun, sehr schön, deine Schüsse sind
erstaunlich. Ich habe bislang niemanden in deiner Sekte gesehen, der
so gut ist....“
Bevor er fertig werden
konnte, war der Junge bereits verschwunden und ließ seinen Bogen und
seine Pfeile zurück. Wei WuXian war sprachlos. Er griff sich an sein
Kinn, Bin ich wirklich so charmant? So charmant, dass ich ihn
verschreckt habe?
Er nahm die Sache auch
nicht allzu ernst. Er dachte nur, dass er etwas Tolles gesehen hätte,
während er zum Platz zurückkehrte. Der Wettbewerb sollte bald
beginnen. Auf der Seite der Wen-Sekte gab es viel Geschrei. Wei
WuXian fragte Jiang Cheng: „Wie konnten sie sich so viele Sorgen um
ihre Diskussionskonferenz machen? Sie haben jeden Tag irgendetwas
anderes. Was ist heute wieder los?“
Jiang Cheng, „Was
denkst du denn? Die Plätze sind begrenzt. Sie streiten sich, wer von
ihnen in die Arena gelassen werden darf.“
Nach einer Pause fuhr er
mit Verachtung fort: „Diese Wen-Sekte.... im Bogenschießen sind
sie alle gleich schlecht. Wäre es da nicht egal, wer geht? Welchen
Unterschied macht es, wenn man sich davor noch darum streiten muss?“
Wen Chao schrie von der
Seite: „Noch einer! Noch einer und wir sind vollzählig! Der
letzte!“
In der Menge neben ihm
war auch der weiß gekleidete Junge anwesend. Mit Blick nach links
und rechts hob er schließlich seine Hand. Aber seine Hand war nicht
hoch genug erhoben. Er wagte es nicht, seinen Namen zu rufen, wie die
anderen es auch nicht taten. Nach einer Weile des Herumschubsens
bemerkte ihn endlich jemand und hinterfragte: „QiongLin? Willst du
auch mitmachen?“
Der Junge namens
'QiongLin' nickte mit dem Kopf. Jemand anderes lachte: „Ich habe
noch nie gesehen, wie du einen Bogen aufgehoben hast. Warum willst du
teilnehmen?! Vergeude nicht die Stelle.“
Wen QiongLin schien, als
wolle er für sich selbst protestieren. Die Person sagte: „In
Ordnung, in Ordnung. Sei nicht so eigenartig. Es wird nach Rang
vergeben. Wenn du da reingehst und dein eigenes Gesicht verlierst,
ist das nicht mein Problem.“
Wei WuXian, Das
Gesicht verlieren? Wenn jemand in der QishanWen-Sekte ein Gesicht für
euch alle finden könnte, dann wäre er derjenige.
Die Verachtung in der
Stimme der Person war natürlich auch eine Selbstverständlichkeit.
Wei WuXian war nicht sehr zufrieden. Er erhob seine Stimme: „Wer
sagt, dass er nie einen Bogen aufgehoben hat? Das hat er, und seine
Bogenschießkünste sind ziemlich gut!“
Alle sahen ihn etwas
überrascht an. Dann drehten sie sich um und sahen den Jungen an. Wen
QiongLins Gesicht war von Anfang an ziemlich blass gewesen. Da sich
die Augen aller auf ihn konzentrierten, wurde er sofort hellrot.
Diese pechschwarzen Augen starrten Wei WuXian an. Wei WuXian ging mit
den Händen auf dem Rücken zu ihm hinüber, „Eben, warst du da im
Garten nicht wirklich sehr gut?“
Wen Chao drehte sich
ebenfalls um und bezweifelte: „Wirklich? Du? Gut im Bogenschießen?
Warum habe ich noch nie davon gehört?“
Wen QiongLins Stimme war
leise, „... Ich... Ich habe erst kürzlich angefangen zu üben....“
Seine Stimme war nicht
nur leise, sondern auch atemberaubend. Es hörte sich an, als könnte
er jeden Moment gestoppt werden, und er wurde tatsächlich oft
gestoppt. Wen Chao unterbrach ihn ungeduldig: „In Ordnung, da
drüben ist ein Ziel. Schieß schnell einen Pfeil, damit wir ihn
sehen können. Wenn es gut ist, dann geh, wenn es nicht gut ist, dann
gehst du nicht.“
Das Gebiet um Wen
QiongLin leerte sich sofort. Die Hand, mit der er den Pfeil
festhielt, verkrampfte sich, während er sich umblickte und scheinbar
nach Hilfe suchte. Als Wei WuXian sah, wie unsicher er aussah,
klopfte er ihm auf die Schulter: „Entspann dich. Mach einfach das,
was du vorhin getan hast.“
Wen QiongLin sah ihn
dankbar an. Mit einem tiefen Atemzug spannte er seinen Bogen.
Unglücklicherweise schüttelte Wei WuXian heimlich den Kopf, als er
sah wie er den Bogen aufzog, Oh-oh.
Es war sehr
wahrscheinlich, dass Wen QiongLin noch nie zuvor einen Pfeil vor
anderen Menschen abgeschossen hatte. Er zitterte den ganzen Weg von
seinem Arm hinunter bis zu seinen Fingerspitzen. Der Pfeil flog
heraus. Er war nicht einmal in die Nähe des Zieles gelandet. Die
Leute der Wen-Sekte, die von der Seite zugesehen hatten, lachten alle
spöttisch: „Wie kann das gut sein?!“
„Ich kann mit
geschlossenen Augen besser schießen als der!“
„Okay, okay, hört auf,
meine Zeit zu verschwenden. Lasst uns schnell jemanden finden, der
die Arena betritt!“
Wen QiongLins Gesicht
schillerte tiefrot bis auf den Grund seiner Ohren. Es gab keinen
Grund für andere, ihn wegzuschicken; er floh unbewusst von alleine.
Wei WuXian jagte ihm nach, „Hey, lauf nicht weg! Äh....
QiongLin-xiong, richtig? Warum rennst du weg?“
Als er seinen Namen von
hinten hörte, stoppte Wen QiongLin endlich. Sein Kopf war tief
gesenkt, als er sich herumdrehte. Es schien, als ob die Scham von
seinem Kopf bis zu seinen Zehen reichen würde, während er
stammelte: „....es tut mir leid.“
Wei WuXian grübelte:
„Warum sagst du mir, dass es dir leid tut?“
Wen QiongLin antwortete
schuldbewusst: „Du... Du hast mich empfohlen... aber ich habe dich
dazu gebracht, das Gesicht zu verlieren....“
Wei WuXian, „Wie konnte
ich dadurch mein Gesicht verlieren? Du hast noch nie wirklich vor
anderen Leuten geschossen, oder? Warst du nervös?“
Wen QiongLin nickte. Wei
WuXian fuhr fort: „Hab etwas mehr Selbstvertrauen. Lass mich dir
die Wahrheit sagen - du schießt besser als jeder in deiner Sekte.
Von allen Jüngern, die ich bislang gesehen habe, sind nicht mehr als
drei Leute im Bogenschießen besser als du.“
Jiang Cheng ging hinüber:
„Was machst du diesmal? Drei von was?“
Wei WuXian zeigte auf
ihn: „Da, dieser zum Beispiel, er ist nicht so gut wie du.“
Jiang Cheng schnaubte
wütend: „Willst du sterben?!“
Wei WuXian bekam einen
Schlag von ihm. Doch mit unverändertem Ausdruck fuhr er fort:
„Wirklich. Es gibt nichts, weshalb man nervös sein müsste, um
ehrlich zu sein. Du wirst dich daran gewöhnen, nachdem du noch ein
paar Mal vor anderen Leuten geübt hast. Nächstes Mal wirst du
definitiv alle beeindrucken.“
Wen QiongLin war
wahrscheinlich einer der Schüler vom Wen-Clan, die mit ihrer
Blutlinie am weitesten entfernt waren. Sein Status war weder hoch
noch niedrig, aber seine Persönlichkeit war schüchtern. Er wagte es
nicht, etwas zu tun, und sogar seine Rede stotterte. Durch viel Übung
hatte er schließlich den Mut zur Teilnahme am Wettbewerb gefunden,
aber er hatte es versaut, weil er zu nervös war. Wenn er nicht die
richtige Führung erhielt, würde der Junge vielleicht von nun an
mehr und mehr sein wahres Selbst verbergen und es nie wieder wagen,
vor anderen Menschen aufzutreten.
Wei WuXian ermutigte ihn
ein paar Mal und berührte einige Wachstumsbereiche und korrigierte
einige winzige Probleme, die er gehabt hatte, während er im Garten
geübt hatte. Wen QiongLin hörte so aufmerksam zu, dass er nicht
einmal den Blick abwandte und unkontrolliert nickte.
Jiang Cheng, „Wo hast
du nur den ganzen Unsinn her? Der Wettbewerb beginnt in Kürze. Geh
sofort in die Arena!“
Wei WuXian sprach mit Wen
QiongLin in einem ernsten Ton: „Ich werde jetzt zur Konkurrenz
gehen. Später kannst du sehen, wie ich schieße, wenn ich in der
Arena bin....“
Jiang Cheng schleppte ihn
ohne jede weitere Geduld weg. Er spuckte, während er ihn mit sich
zog: „Zusehen, wie du schießt? Denkst du, dass du ein
Paradebeispiel oder so etwas bist?“
Wei WuXian dachte einen
Moment nach, bevor er antwortete: „Ja. Oder etwa nicht?“
„Wei WuXian! Ich habe
noch nie jemanden gesehen, der so schamlos ist wie du!“
…
Als er sich daran
zurückerinnerte, wandte sich Wei WuXians Blick von Wen Ning ab zu
Jiang Cheng, dessen Körper mit Blut bedeckt war und dessen Augen
fest verschlossen waren. Seine Finger konnten nicht anders, als sich
zu Fäusten zusammenzupressen.
Sie fuhren
zuerst über die seitlichen Wasserwege und dann den Fluss hinunter.
Als sie an Land ankamen, fuhren sie in einer Kutsche weiter, die Wen
Ning bereits vorbereitet hatte. Am zweiten Tag kamen sie in Yiling
an.
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