Kapitel 58: Gift – Teil Drei
Umbruch zu Hause
Herrin Yu sah hinter
sich. JinZhu und YinZhu verstanden sofort. Beide hatten ihre langen
Schwerter ausgezogen und säuberten die Halle. Mit schnellen,
gnadenlosen Bewegungen schalteten sie alle Schüler der Wen-Sekte
innerhalb von Sekunden aus. Wang LingJiao sah, dass sie bald an der
Reihe sein würde. Sie sammelte den letzten Rest ihrer Kräfte und
drohte: „Du.... Du denkst, dass du mich zum Schweigen bringen
kannst? Glaubst du, der junge Meister Wen weiß nicht, dass ich heute
hier bin? Denkst du, dass er dich gehen lassen wird, wenn er davon
erfährt?“
YinZhu grinste: „Du
klingst, als hätte er uns schon längst gehen lassen.“
Wang LingJiao, „Ich
stehe dem jungen Meister Wen sehr nahe, ich bin ihm am Nächsten!
Wenn du es wagst, mir etwas anzutun, wird er....“
Herrin Yu gab ihr einen
weiteren Schlag. Sie spottete: „Er wird was tun? Uns die Hände
oder die Beine abschneiden? Oder unsere Residenz niederbrennen? Oder
Tausende von Menschen dazu bringen, den Lotus Pier dem Erdboden
gleichzumachen? Ein Überwachungsbüro bauen?“
JinZhu näherte sich mit
dem Schwert in der Hand. Wang LingJiaos Augen waren voller Angst. Sie
trat mit ihren Beinen aus und kroch zurück, während sie kreischte:
„Irgendjemand! Hilfe! Wen ZhuLiu! Hilf mir!“
Herrin Yus
Gesichtsausdruck verhärtete sich. Mit einem Fuß auf Wang LingJiaos
Handgelenk zog sie ihr Schwert aus der Scheide. Gerade als die Klinge
im Begriff war niederzusausen, wurde sie ihr plötzlich aus der Hand
gerissen.
Wei WuXian und Jiang
Cheng wandten sich dem Blick in die andere Richtung. Die Türen zur
Halle waren bereits aus den Angeln gerissen worden, und ein Mann mit
einem hohen Körperbau stürzte hinein. Er trug schwarze Kleidung und
hatte einen ernsten Gesichtsausdruck. Es war die persönliche Garde
von Wen Chao, ein Kultivierender von sehr hohem Niveau, Wen ZhuLiu.
Nachdem ihr Schwert zu
Boden gefallen war, hielt Herrin Yu Zidian auf Kopfhöhe, „Die
'Kernschmelz-Hand'?"
Wen ZhuLius Stimme war
kalt, „Die Lila Spinne?“
Eine von Wang LingJiaos
Händen war noch unter ihrem Fuß. Sie fühlte so viel Schmerz, dass
ihre Gesichtszüge verdreht aussahen, ihre Tränen verschmierten
alles, „Wen ZhuLiu! Wen ZhuLiu! Hilf mir, hilf mir jetzt!“
Herrin Yu schnaubte, „Wen
ZhuLiu? 'Kernschmelz-Hand', ist dein ursprünglicher Name nicht Zhao
ZhuLiu? Dein Nachname war eindeutig nicht Wen, aber du wolltest
deinen Nachnamen ändern, egal was es dazu braucht. Eilst denen nach
wie ein Entlein. Ist der Nachname dieser Wen-Hunde wirklich so
wertvoll? Dafür wendest du dich gegen deine Vorfahren - wie
lächerlich!“
Wen ZhuLiu blieb
unbeeindruckt, scheinbar gleichgültig: „Jeder dient seinem eigenen
Meister.“
Die beiden hatten nur ein
paar Worte gewechselt, aber Wang LingJiao fing wieder zu schreien an,
unfähig, es noch länger zu ertragen, „Wen ZhuLiu! Siehst du
nicht, wie ich aussehe?! Warum plauderst du, anstatt sie jetzt sofort
zu töten?! Hat dir der junge Meister Wen etwa gesagt, dass du mich
so beschützen sollst?! Pass auf, sonst lasse ich dich anprangern!“
Herrin Yu stieß ihren
Fuß noch fester auf ihren Arm. Wang LingJiao brach in ein Wimmern
aus. Wen ZhuLiu hingegen runzelte seine Stirn. Er beschützte Wen
Chao auf Befehl von Wen RuoHan. Er hatte von Anfang an noch nie Wen
Chaos Charakter gemocht. Doch es gab keine schlimmen Umstände,
sondern nur schlimmere. Wen Chao befahl ihm, Wang LingJiao zu
beschützen. Die Frau war nicht nur oberflächlich und eingebildet,
sondern auch grausam im Herzen und hatte seine vollste Abneigung
gewonnen. Doch egal, wie sehr er sie nicht mochte, er konnte nicht
gegen die Befehle von Wen RuoHan und Wen Chao verstoßen und sie
töten. Das Gute daran war, dass Wang LingJiao ihn auch verabscheute.
Sie befahl, dass er ihr nur aus der Ferne folgen sollte, verbat ihm,
vor ihren Augen zu erscheinen, es sei denn, sie sagte es ihm vorab,
so dass sie nicht so verärgert sein würde. Doch in einer solchen
Situation wie jetzt stand diese Frau kurz davor, ihr Leben zu
verlieren. Wenn er nichts tun würde, würde Wen Chao definitiv in
Wut geraten und sich weigern, ihn davonkommen zu lassen. Und wenn er
sich weigerte, dann würde Wen RuoHan die Sache auch nicht auf sich
beruhen lassen.
Wen ZhuLiu,
„Entschuldigung.“
Zidian zischte in seine
Richtung. Herrin Yu rief: „Wie anmaßend!“
Wen ZhuLius große Hand
winkte ab. Er hatte Zidian ohne Bedenken gepackt!
Wenn Zidian in seiner
Peitschenform war, dann war es von einem Fluss der spirituellen
Energie bedeckt. Die Kraft der Energie kann entweder stark oder
schwach, tödlich oder unbedeutend sein, abhängig von der Kontrolle
durch seinen Meister. Herrin Yu hatte schon seit langem die Absicht,
zu töten, und wollte nur alle Wen-Hunde zerstören, jedoch war Wen
ZhuLiu mit Vorsicht zu behandeln. So war der Energiefluss bei mehr
als maximaler Leistung, als Wen ZhuLiu ihn ohne Probleme ergriff!
In all den Jahren seiner
Verwendung war Zidian noch nie auf einen solchen Gegner getroffen.
Nachdem es gepackt worden war, hielt Herrin Yu den kleinsten Moment
inne. Wang LingJiao nutzte die Gelegenheit, um herauszukrabbeln. Sie
zog eine Leuchtrakete aus ihren Revers und schüttelte sie ein paar
Mal. Ein Licht flog aus dem Zylinder. Zusammen mit einem scharfen
Pfeifton schoss es aus dem Holzfenster und explodierte draußen am
Himmel. Dann fummelte sie eine zweite, eine dritte heraus. Mit
zerzausten Haaren murmelte sie, „Kommt... Kommt... Kommt her... Ihr
alle, kommt her!“
Obwohl er Schmerzen
hatte, drückte Wei WuXian Jiang Cheng zur Seite: „Halte sie davon
ab, noch weitere Signale zu senden!“
Jiang Cheng ließ Wei
WuXian los und stürzte sich in Richtung Wang LingJiao. Doch zur
gleichen Zeit näherte sich Wen ZhuLiu Herrin Yu. Er sah aus, als
wolle er sie niederwerfen. Jiang Cheng beeilte sich, „Mutter!“
Er gab Wang LingJiao
sofort auf und warf sich hinüber. Wen ZhuLiu drehte nicht einmal den
Kopf, während er zuschlug: „Nicht einmal annähernd!“
Jiang Chengs Schulter
wurde durch diesen Angriff getroffen. Blut spritzte ihm sofort aus
dem Mund. Wang LingJiao hatte bereits alle Signalfeuer abgeschossen.
Scharfes Pfeifen und helle Funken erfüllten den ganzen graublauen
Himmel.
Als sie sah, dass Jing
Cheng verletzt wurde, brüllte Herrin Yu. Das Licht, das Zidian
umgab, wurde immer intensiver und war fast weiß! Wen ZhuLiu wurde
durch den plötzlichen Ausbruch von Zidian an die Wand katapultiert.
JinZhu und YinZhu zogen auch zwei lange, knisternde Peitschen von
ihren Taillen und begannen, Wen ZhuLiu zu bekämpfen. Die beiden
Dienstmädchen waren Herrin Yu schon seit ihrer Kindheit nahe. Alle
wurden von derselben Person unterrichtet. Ihre kombinierten Angriffe
waren keineswegs zu verachten. Bei dieser Gelegenheit wurden Jiang
Cheng und Wei WuXian, beide noch bewegungsunfähig, von Herrin Yu mit
je einer Hand ergriffen, während sie auf den Flur eilte. Viele
Jünger befanden sich noch immer auf dem Trainingsfeld. Herrin Yu
befahl: „Zieht euch an und bewaffnet euch, sofort!“
Mit den beiden an der
Hand eilte sie auf den Pier. Der Pier des Lotus Piers hatte immer ein
paar kleine Boote im Hafen, die von den Schülern der Jiang-Sekte zum
Durchstreifen im Wasser benutzt wurden. Herrin Yu warf sie auf das
Boot. Sie sprang auch selbst hinein. Sie hielt Jiang Chengs Hand und
half ihm, wieder zu Sinnen zu kommen. Jiang Cheng hatte nur einen
Mund voller Blut ausgehustet. Seine Verletzungen waren nicht zu
schwer. Er fragte: „Mutter, was machen wir jetzt?“
Herrin Yu, „Was meinst
du damit, was wir jetzt machen? Erkennst du es denn nicht? Sie kamen
vorbereitet hierher. Der heutige Kampf konnte nicht vermieden werden.
Bald kommen die Horden dieser Wen-Hunde hier an. Ihr müsst gehen!“
Wei WuXian, „Was ist
dann mit Shijie? Shijie war vorgestern in Meishan. Wenn sie
zurückkommt....“
Herrin Yu erstarrte:
„Halt die Klappe! Es ist alles wegen dir, kleiner....!“
Wei WuXian konnte nur
still bleiben. Herrin Yu nahm den Ring von Zidian ab, den sie an
ihrer rechten Hand trug, und steckte ihn auf Jiang Chengs rechten
Zeigefinger. Jiang Cheng war schockiert, „... Mutter, warum gibst
du mir Zidian?“
Herrin Yu, „Ich habe
ihn dir gegeben, also gehört er von nun an dir! Zidian hat dich
bereits als seinen Meister anerkannt.“
Jiang Cheng war verwirrt:
„Mutter, willst du nicht mit uns gehen?“
Herrin Yu starrte auf
sein Gesicht. Plötzlich umarmte sie ihn und küsste sein Haar ein
paar Mal. Mit ihm in den Armen murmelte sie: „Mein guter Junge.“
Sie umarmte ihn so fest,
dass es so aussah, als wolle sie Jiang Cheng in ein Baby verwandeln
und ihn wieder in ihren Bauch stopfen, so dass niemand ihn verletzen
konnte, niemand sie auseinander reißen konnte. Jiang Cheng war noch
nie so von seiner Mutter umarmt worden, geschweige denn geküsst.
Sein Kopf war an ihrer Brust vergraben, aber seine Augen waren weit
geöffnet, ohne zu wissen, was er tun sollte.
Eine Hand hielt ihn fest,
mit der anderen Hand packte Herrin Yu Wei WuXian so fest am Kragen,
als ob sie ihn zu Tode würgen wollte. Sie sprach durch
zusammengebissene Zähne, „...du verdammtes kleines Balg! Ich hasse
dich! Ich hasse dich mehr als alles andere! Sieh dir an, was unsere
Sekte wegen dir durchmachen muss!“
Wei WuXians Brust senkte
sich schnell auf und ab. Er sagte nichts. Diesmal war es nicht so,
dass er seine Worte zurückhielt oder dass er unausgesprochene
Kommentare hatte, sondern dass er wirklich nichts sagen konnte.
Jiang Cheng eilte und
fragte: „Mutter, willst du nicht mit uns gehen???“
Herrin Yu ließ sofort
los. Sie schob ihn auf Wei WuXian. Sie sprang auf das Dock zurück.
Das Boot schaukelte mit den Wellen des Wasser langsam in die Mitte
des Flusses. Jiang Cheng verstand es schließlich. JinZhu, YinZhu,
alle Jünger und alle ihre Schätze, die die YunmengJiang-Sekte von
einer Generation zur nächsten weitergegeben hatte, befanden sich
noch im Lotus Pier, konnten aber nicht innerhalb dieser kurzen Zeit
evakuiert werden.
Demnach würde nun ein
harter Kampf stattfinden. Als Anführerin konnte Herrin Yu nicht
einfach so fliehen, aber sie sorgte sich um ihr Kind. Vielleicht war
es egoistisch von ihr, aber sie konnte nur die beiden zuerst
entkommen lassen.
Jiang Cheng wusste, dass
nach ihrer Trennung eine große Gefahr drohte und hatte mehr als
Angst. Er stand auf und versuchte auch, das Boot zu verlassen, aber
plötzlich schoss ein gleißendes Licht aus Zidian heraus. Ein
Lichtseil verband die beiden Jungen fest mit dem Boot. Sie konnten
sich überhaupt nicht mehr bewegen. Jiang Cheng rief: „Mama, was
machst du da?!“
Herrin Yu, „Mach nicht
so ein Theater. Es wird sich lockern, wenn du an einem sicheren Ort
bist. Wenn dich jemand auf der Reise angreift, wird er dich auch
beschützen. Komm nicht zurück. Geh sofort nach Meishan und finde
deine Schwester!“
Nachdem sie fertig war,
wandte sie sich an Wei WuXian und zeigte auf ihn: „Wei Ying! Hör
mir zu! Beschütze Jiang Cheng, beschütze ihn, auch wenn du dabei
stirbst, verstehst du?!“
Wei WuXian, „Herrin
Yu!“
Herrin Yu wurde wütend:
„Hast du mich verstanden? Rede keinen Unsinn mit mir, ich frage
dich - hast du mich verstanden?!“
Wei WuXian konnte sich
nicht aus Zidian heraus kämpfen. Er konnte nur mit dem Kopf nicken.
Jiang Cheng rief: „Mama, Vater ist noch nicht zurück. Wenn etwas
passiert, können wir es denn nicht zuerst zusammen durchstehen?“
Als er Jiang FengMian
erwähnte, schienen die Augen von Herrin Yu für einen Bruchteil
einer Sekunde rot zu werden. Sofort fluchte sie mit lauter Stimme:
„Und wenn er nicht zurückkommt? Kann ich ohne ihn denn nichts
tun?!“
Danach schnitt sie das
Seil mit ihrem Schwert durch, mit dem das Boot befestigt war, und
trat hart gegen die Seite des Bootes. Das Wasser war schnell und der
Wind stark. Zusammen mit dem Tritt driftete das Boot sofort mehrere
Meter weit weg. Mit ein paar Drehungen trieb es schnell und doch
stetig in Richtung Flussmitte. Jiang Cheng jammerte, „Mutter!“
Er schrie dutzende Male.
Allerdings entfernten sich Herrin Yu und der Lotus Pier immer weiter
und weiter, wurden immer kleiner und kleiner. Nachdem das Boot weit
in die Ferne abgetrieben war, ging Herrin Yu mit dem Schwert in der
Hand und wehenden violetten Roben zurück zu den Toren des Lotus
Piers.
Die beiden kämpften so
hart sie konnten. Zidian hätte sich fast in ihr Fleisch geschnitten,
aber es hielt trotzdem. Wütendes Gebrüll ertönte aus Jiang Chengs
Hals, als er weiter dagegen ankämpfte: „Warum geht es nicht auf?!
Warum geht es nicht?! Geh auf! Geh auf!“
Wei WuXian war gerade
eben erst zehnmal von Zidian geschlagen worden. Sein Körper tat
immer noch weh. Er wusste, dass sie nicht in der Lage sein würden,
sich dagegen zu wehren, und dass all ihre Bemühungen umsonst sein
würden. In Erinnerung daran, dass Jiang Cheng immer noch verletzt
war, sprach er durch den Schmerz: „Jiang Cheng, beruhige dich
zuerst. Angesichts der 'Kernschmelz-Hand' ist es nicht sicher, ob sie
verlieren würde. Hat sie eben Wen ZhuLiu nicht gut zurückhalten
können?“
Jiang Cheng brüllte:
„Wie soll ich mich beruhigen? Wie könnte ich mich beruhigen?!
Selbst wenn Wen ZhuLiu getötet wird, hat diese abscheuliche Frau
bereits diese Signale gesendet. Was wäre, wenn die Wen-Hunde sie
gesehen haben und die Leute dazu bringen, unsere Sekte zu belagern?!“
Wei WuXian wusste auch,
dass es für sie keine Möglichkeit gab, sich zu beruhigen. Aber
zwischen den beiden musste einer von ihnen einen klaren Kopf
behalten. Als er gerade dabei war, weiterzumachen, erhellten sich
plötzlich seine Augen. Er rief: „Onkel Jiang! Es ist Onkel Jiang,
er kommt zurück!“
Wie er gesagt hatte,
segelte ein größeres Boot über den Fluss auf sie zu. Jiang
FengMian stand an der Spitze des Bootes. Etwa ein Dutzend Jünger
standen auch auf dem Boot. Er starrte in Richtung Lotus Pier, seine
Gewänder flatterten im Wind. Jiang Cheng schrie: „Vater! Vater!“
Jiang FengMian sah sie
auch. Er sah etwas überrascht aus. Einer der Jünger betätigte das
Ruder, und das Boot näherte sich. Jiang FengMian wusste immer noch
nicht, was passiert war, während er grübelte: „A-Cheng? A-Ying?
Was ist mit euch beiden passiert?“
Die Jungs am Lotus Pier
spielten oft seltsame Spiele. Selbst im Wasser liegend mit
blutüberströmten Gesichtern, um damit vorzugeben, schwimmende
Leichen zu sein, waren keine Seltenheit. So konnte Jiang FengMian
nicht sofort entscheiden, ob sie ein neues Spiel spielten oder nicht.
Er hatte die Schwere der Umstände noch nicht erkannt. Jiang Cheng
war jedoch so glücklich, dass er fast weinte. Er beeilte sich mit
seiner Erklärung: „Vater, Vater, hilf uns hier raus!“
Jiang FengMian, „Das
ist Zidian von deiner Mutter. Zidian erkennt seine Meister. Ich
glaube nicht, dass es mich....“
Während er sprach,
berührte er Zidian mit seiner Hand. Doch gerade als er damit in
Berührung kam, zog sich Zidian gehorsam zurück. Er verwandelte sich
sofort in einen Ring und wickelte sich um einen seiner Finger. Jiang
FengMian erstarrte sofort.
Zidian war Yu ZiYuans
beste Waffe. Yu ZiYuans Absichten waren für diese Waffe das
wichtigste Kommando. Zidian konnte mehrere Meister anerkennen, aber
es gab eine Ordnung. Herrin Yu war zweifellos die primäre Herrin von
Zidian. Ihr Befehl war es, Jiang Cheng zu fesseln, bis er in
Sicherheit war, weshalb er, obwohl Jiang Cheng auch sein Meister war,
er sich nicht aus seiner Zwangslage heraus kämpfen konnte.
Niemand wusste seit wann,
aber Jiang FengMian war als der sekundäre Meister von Zidian
anerkannt worden. In seiner Gegenwart bestimmte Zidian, dass sie
sicher waren, und so löste es sich. Aber Herrin Yu hatte nie gesagt,
dass sie Zidian auch Jiang FengMian als seinen Meister erkennen ließ.
Jiang Cheng und Wei
WuXian waren endlich befreit. Sie sanken zu beiden Seiten hin auf dem
Deck des Bootes zusammen. Jiang FengMian fragte: „Was ist los?
Warum solltet ihr beide von Zidian an ein Boot gefesselt werden?“
Als ob er etwas gesehen
hätte, das sie retten könnte, packte ihn Jiang Cheng: „Heute
waren die Leute der Wen-Sekte in unserer Sekte. Mutter hatte einen
Streit mit ihnen und fing an, mit der 'Kernschmelz-Hand' zu kämpfen!
Mutter könnte im Nachteil sein. Später könnte es noch mehr Feinde
geben. Vater, lass uns zurückkehren und ihr helfen! Los geht's!“
Als sie das hörten,
sahen alle Jünger schockiert aus. Jiang FengMian fragte: „Die
'Kernschmelz-Hand'?!“
Jiang Cheng, „Ja,
Vater! Wir....“
Bevor er fertig werden
konnte, blinkte ein violettes Licht auf, und Jiang Cheng und Wei
WuXian wurden wieder gefesselt. In der Position, in der sie gewesen
waren, fielen die beiden wieder auf das kleinere Boot. Jiang Chengs
Gesicht war ausdruckslos, „.... Vater?!“
Jiang FengMian, „Ich
gehe zurück. Ihr beiden geht. Dreht euch in keinster Weise um. Kehrt
nicht zum Lotus Pier zurück. Nachdem du das Ufer erreicht hast,
versuche so schnell wie möglich nach Meishan zu kommen, um deine
Schwester und deine Großmutter zu finden.“
Wei WuXian, „Onkel
Jiang!!“
Als der Schock vorbei
war, trat Jiang Cheng wütend gegen die Seite des Bootes. Das Boot
erzitterte. „Vater, lass mich gehen! Lass mich frei!“
Jiang FengMian, „Ich
werde zurückkehren, um deine Mutter zu finden.“
Jiang Cheng starrte ihn
an: „Wir können gemeinsam zurückgehen und sie zusammen finden,
nicht wahr?!“
Jiang FengMian starrte
ihm in die Augen. Plötzlich streckte er die Hand aus. Erst nach
einer Pause in der Luft berührte er schließlich langsam Jiang
Chengs Kopf, „A-Cheng, bleib gesund.“
Wei WuXian, „Onkel
Jiang, wenn dir etwas passiert, wird es ihm nicht gut gehen.“
Jiang FengMian wandte
seinen Blick auf ihn, „A-Ying, A-Cheng.... du musst dich um ihn
kümmern.“
Er kehrte zum größeren
Boot zurück. Die beiden Boote streiften gegeneinander, bevor sie
sich trennten und immer weiter auseinander trieben. Jiang Cheng
schrie verzweifelt: „Papa!!!!“
Das Boot driftete die
Strömung hinunter. Sie wussten nicht, wie lange es gedauert hatte,
bis sich Zidian lockerte. Es wurde wieder zu einem silbernen Ring um
Jiang Chengs Finger. Die beiden hatten die ganze Zeit geschrien. Ihre
Kehlen waren bereits heiser. Nachdem sie losgebunden waren, sagten
sie nichts und begannen, zurückzufahren. Sie hatten kein Ruder, also
paddelten sie mit den Händen gegen die Strömung.
Herrin Yu hatte gesagt,
dass die Peitschenhiebe, die er erhalten hatte, in nicht weniger als
einem Monat verheilen würden. Doch im Moment fühlte Wei WuXian,
dass, obwohl er dort, wo er geschlagen worden war, immer noch
verbrannt und wund war, es seine Fähigkeit, sich zu bewegen, nicht
beeinträchtigte. Mit der Entschlossenheit, jemanden am Rande des
Todes zu finden, paddelten die beiden, als ob ihre Leben davon
abhingen. Zwei Stunden später, mit nichts als ihren Händen, kehrten
sie schließlich zum Lotus Pier zurück.
Es war schon spät in der
Nacht.
Die Tore des Lotus Piers
waren fest verschlossen. Draußen leuchteten die Lichter hell.
Fragmente des Mondlichts flossen entlang des kristallinen Wassers.
Dutzende von großen Laternen in Form von neunblättrigen Lotusblumen
schwebten schweigend am Dock. Alles war wie früher. Doch gerade
deshalb, weil alles so war wie vorher, wurden ihre Herzen schwer.
Die beiden hielten an,
als sie in der Mitte des Sees ankamen. Im Wasser schwebend, spürten
sie, wie ihre Herzen laut pochten. Beide wagten es nicht, sich dem
Dock zu nähern und daher paddelten sie im ausreichenden Abstand
außen herum, um zu sehen, was genau im Inneren vor sich ging.
Tränen strömten aus
Jiang Chengs Augen. Sowohl seine Arme als auch seine Beine zitterten.
Wenig später sprach Wei WuXian, „.... Lass uns jetzt nicht durch
die Tore gehen.“
Jiang Cheng schaffte es
irgendwie zu nicken. Ohne Lärm zu machen, paddelten die beiden mit
dem Boot auf die andere Seite des Sees. Dort wuchs ein alter
Weidenbaum. Seine Wurzeln waren im Schlick des Ufers vergraben, aber
sein breiter Stamm wuchs seitlich entlang der Oberfläche des Sees.
Seine Äste tauchten ins Wasser. In der Vergangenheit waren die Jungs
vom Lotus Pier oft den Stamm der Weide hinaufgeklettert, bis zu ihrer
Spitze, um dort zu sitzen und zu fischen.
Nachdem die beiden das
Boot hinter den Ästen der Weide festgezurrt hatten, gingen sie im
Schutze der Äste und der Dunkelheit des Himmels an Land. Wei WuXian
war es schon immer gewohnt, über Wände zu klettern. Er zerrte an
Jiang Cheng und flüsterte: „Diesen Weg.“
Jiang Cheng war sowohl
schockiert als auch verängstigt. Er hatte fast keinen
Orientierungssinn, als er hinter Wei WuXian die Wand entlangging.
Nachdem sie eine Weile gegangen und sich versteckt hatten, kletterten
sie heimlich eine der Wände hinauf. Eine Reihe von Tierköpfen
säumte die Oberseite der Wand und machte es ihnen ziemlich einfach,
hineinzusehen. Damals waren es immer die Menschen von draußen, die
sie so beobachtet hatten. Nun waren sie diejenigen, die
hineinschauten.
Wei WuXian hob den Kopf
und sah nach innen. Sein Herz sank sofort. Auf dem Trainingsfeld des
Lotus Piers standen Menschen in Reih und Glied. Sie alle trugen
Gewänder mit einer glühenden Sonne. Die Flammenmuster an ihren
Kragen, Revers und Ärmeln waren in einem so purpurroten Farbton,
dass es die Augen mehr schmerzte als der Anblick von Blut.
Abgesehen von denen, die
standen, gab es auch diejenigen, die lagen. Alle Menschen, die auf
dem Boden zusammengebrochen waren, waren in die nordwestliche Ecke
des Feldes gebracht worden, ohne irgendeine Ordnung. Eine Person
stand mit dem Rücken zu den beiden. Der Kopf war gesenkt, er schien
die Menschen der Jiang-Sekte zu untersuchen. Sie wussten nicht, ob
sie am Leben oder tot waren.
Mit allem Eifer suchte
Jiang Cheng mit seinen Augen nach den Gestalten von Yu ZiYuan und
Jiang FengMian. Wei WuXian hingegen spürte, wie seine Augen sich
immer weiter weiteten. Unter den Opfern sah er viele bekannte
Silhouetten. Seine Kehle war sowohl trocken als auch schmerzhaft.
Seine Schläfen fühlten sich an, als wären sie von einem
Eisenhammer getroffen worden, während sein ganzer Körper kalt
wurde. Er wagte es nicht mehr, an Jiang FengMian und Yu ZiYuan zu
denken. Gerade als er sich genauer ansehen wollte, ob der dünne
Junge, der oben auf diesem Hügel an Menschen lag, sein jüngster
Shidi war oder nicht, schien die Person, die an der nordwestlichen
Ecke mit dem Rücken zu ihnen stand, etwas gehört zu haben und
drehte sich um.
Wei
WuXian senkte sofort seinen Kopf zusammen mit dem von Jiang Cheng.
Obwohl er sich schnell zurückgezogen hatte, konnte er immer noch
erkennen, wie die Person aussah. Es war ein Junge im gleichen Alter
wie sie. Er hatte einen schlanken Körperbau und zarte Gesichtszüge,
obwohl sein blasser Teint im Gegensatz zu seinen tiefschwarzen Augen
stand. Obwohl er die Sonnen- und Flammenroben trug, strahlte seine
Haltung nichts Imposantes aus. Er wirkte etwas zu sanftmütig. Wenn
man bedachte, in welchem Rang ihn seine Sonnenmuster auf seiner
Kleidung platzierten, war er wahrscheinlich ein junger Meister der
Wen-Sekte.
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