Der Beginn des wohl traurigsten Aktes. Ich sag nur: Lotus Pier....
Kapitel
51: Mut – Teil Eins
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Leben
Yunmeng war
reich an Seen. Der Lotus Pier der YunmengJiang-Sekte, die Residenz
der größten Sekte hier in dieser Region, wurde ebenfalls in der
Nähe eines Sees erbaut.
Wenn man vom
Ende des Lotus Piers aus einer Weile paddelte, dann sah man einen
großen Lotussee, der mehr als hundert Kilometer lang war. Die
breiten, grünen Blätter und die glatten, rosa Blüten wuchsen dicht
an dicht aneinander. Wenn eine Brise wehte, schwangen die
Blütenblätter und die Blätter, als ob sie mit dem Kopf nicken
würden. Inmitten dieser Reinheit und Anmut konnte man auch ein
naives Gefühl der Schwerfälligkeit spüren.
Der Lotus
Pier war nicht so weltlich wie die Residenzen der anderen Sekten,
hatte seine Türen fest verschlossen und weigerte sich, fremde Bürger
innerhalb der einen Kilometer entfernten Grenze hereinkommen zu
lassen. Die Docks direkt vor dem Eingang des Lotus Piers waren oft
vollgepackt mit Verkäufern, die Samenkapseln, Wasserkastanien und
alle Arten von Gebäck verkauften. Laufende Kinder aus nahegelegenen
Häusern konnten sich auch auf die Felder des Lotus Pier schleichen,
um den Kultivierenden beim Üben mit ihren Schwerter zuzusehen. Sie
würden auch nicht geschimpft werden, wenn sie erwischt würden. Sie
konnten manchmal sogar mit den Schülern der Jiang-Sekte
herumspielen.
Als Wei
WuXian noch jung war, schoss er oft Flugdrachen vom Ufer des
Lotussees aus.
Jiang Cheng
fixierte seinen eigenen Drachen und starrte ab und zu auf Wei
WuXians. Wei WuXians Drachen war bereits hoch in den Himmel
aufgestiegen, aber er hatte immer noch nicht die Absicht, seinen
Bogen zu spannen. Mit der rechten Hand an der Stirn grinste er,
während er aufblickte, als ob er spürte, dass er immer noch nicht
weit genug entfernt war.
Als er sah,
dass der Drachen fast aus dem Bereich herausgetrieben wurde, in dem
er sich sicher sein konnte, dass es ihm gelingen würde, ihn
abzuschießen, knirschte Jiang Cheng mit den Zähnen. Er
positionierte seinen Pfeil und zog den Bogen. Der weiß gefiederte
Pfeil schoss heraus. Der Drachen, der wie ein einäugiges Monster
bemalt war, wurde direkt durch das Auge getroffen und fiel nach
unten. Jiang Chengs Augenbrauen hoben sich, „Treffer!“
Gleich
danach fragte er: „Deiner ist schon ziemlich weit geflogen. Bist du
sicher, dass du ihn noch treffen kannst?“
Wei WuXian,
„Willst du wetten?“
Er zog
schließlich einen Pfeil heraus und zielte. Als der Bogen bis zum
Äußersten gespannt war, ließ er ihn schnell los.
Ein Treffer!
Jiang Chengs
Augenbrauen zogen sich wieder zusammen. Ein Brummen entkam durch
seine Nase. Alle Jungen legten ihre Bögen weg und gingen ihre
Drachen abholen, damit sie die Entfernungen einordnen konnten. Der
nächstgelegene Drache erhielt die niedrigste Platzierung. Jedes Mal
war der Letzte der sechs-älteste Shidi. Wie üblich verbrachten sie
einige Zeit damit, über ihn zu lachen. Sein Gesicht war jedoch
ziemlich dick, so dass es ihm egal war. Wei WuXians war am weitesten
entfernt. Der ihm am nächsten gelegene, der Zweitplatzierte, war
Jiang Chengs Drachen. Sowohl Wei WuXian als auch Jiang Cheng fühlten
sich zu faul, um ihre Drachen zu holen. Die Jungen eilten über die
gewundenen Holzstege, die über die Wasseroberfläche gebaut worden
waren. Sie spielten herum, sprangen auf und ab, als plötzlich zwei
junge, schlanke Frauen vor ihnen erschienen.
Beide von
ihnen waren gekleidet als bewaffnete Dienerinnen und trugen kurze
Schwerter. Das größere Dienstmädchen, das einen Drachen und einen
Pfeil hielt, blockierte ihren Weg. Sie fragte kalt: „Wem gehören
die?“
Alle Jungen
verfluchten schweigend ihr Glück, als sie die beiden Frauen sahen.
Wei WuXian berührte sein Kinn und trat nach vorne: „Sie gehören
mir.“
Die andere
Magd schnaubte: „Du gehörst zur ehrlichen Sorte, nicht wahr?“
Sie traten
auseinander und offenbarten zwischen ihnen eine lila gekleidete Frau,
die auch ein Schwert trug.
Die Frau
hatte eine cremige Haut und war ziemlich schön, obwohl ihre zarten
Gesichtszüge eine gewisse Ernsthaftigkeit zeigten. Die Lippenwinkel
lagen zwischen Runzeln und Lächeln – es lag etwas spöttisches
darin, genau wie bei Jiang Cheng. Ihre fließenden violetten Gewänder
wickelten sich um ihre dünne Taille. Sowohl ihr Gesicht als auch
ihre rechte Hand, die auf dem Griff ihres Schwertes lag, waren kühl
wie ein Jadestein. Sie trug einen mit einem Amethyst veredelten Ring
am Zeigefinger ihrer rechten Hand.
Jiang Cheng
lächelte, als er sie sah, „Mutter!“
In der
Zwischenzeit begrüßte der Rest der Jungen sie mit Respekt, „Herrin
Yu.“
Herrin Yu
war Jiang Chengs Mutter, Yu ZiYuan. Natürlich war sie die Frau von
Jiang FengMian und hat sich auch mit ihm kultiviert. Natürlich
sollte man sie Frau Jiang nennen. Aber aus irgendeinem Grund hatten
alle sie immer Herrin Yu genannt. Einige Leute ahnten, dass es daran
lag, dass sie aufgrund ihrer selbstbewussten Persönlichkeit nicht
den Nachnamen ihres Mannes annehmen wollte. In dieser Angelegenheit
hatten weder der Ehemann noch die fragliche Ehefrau jemals dagegen
argumentiert.
Herrin Yu
kam aus der bekannten MeishanYu-Sekte. Sie wurde in ihrem Clan auf
Platz drei geführt, daher wurde sie auch Dritte Herrin Yu genannt.
In der Kultivierungswelt nannte sie sich 'Violette Spinne'. Schon die
Erwähnung des Namens konnte einige Leute abschrecken. Seit ihrer
Jugend hatte sie eine kalte Persönlichkeit und war im Gespräch mit
anderen nie so sympathisch. Auch nach ihrer Heirat mit Jiang FengMian
war sie immer auf Nachtjagd gewesen und war nicht allzu erpicht
darauf gewesen, im Lotus Pier bei der Jiang-Sekte zu leben. Außerdem
war es anders, seitdem sie am Lotus Pier lebte, als wenn Jiang
FengMian es allein getan hatte. Sie hatte ihren eigenen Bereich, in
dem nur sie und einige der Familienmitglieder, die sie aus der
Yu-Sekte mitgebracht hatte, lebten. Die beiden jungen Frauen, JinZhu
und YinZhu, waren beide
ihre vertrauten Dienstmädchen. Sie verließen nie ihre Seite.
Herrin Yu
schenkte Jiang Cheng einen Seitenblick: „Faulenzt du wieder herum?
Komm, lass mich dich ansehen.“
Jiang Cheng
trat an ihre Seite. Herrin Yu drückte seinen Arm mit ihren schlanken
Fingern, dann schlug sie ihm laut auf die Schulter und schimpfte: „Es
gibt keine Verbesserung bei deiner Kultivierung. Du bist schon
siebzehn, aber du bist immer noch wie ein ignorantes Kind, das die
ganze Zeit mit anderen herumalbert. Bist du im gleichen Stand wie die
anderen? Wer weiß, in welcher Kanalisation diese anderen Leute eines
Tages sitzen werden, aber du wirst der Anführer der Jiang-Sekte
sein!“
Jiang Cheng
stolperte wegen des Klapses, sein Kopf senkte sich und er wagte
nicht, zu protestieren. Wei WuXian verstand - es war
selbstverständlich, dass sie ihn wieder schimpfte, ob offensichtlich
oder nicht. Auf der anderen Seite streckte einer seiner Shidi
heimlich seine Zunge in seine Richtung raus. Wei WuXian hob eine
Braue und sah zum Shidi. Herrin Yu, „Wei Ying, welchen Ärger hast
du diesmal vor, wieder zu verursachen?“
Wei WuXian
trat daran gewöhnt vor. Herrin Yu schimpfte: „Du bist schon wieder
so! Wenn du selbst keinen Fortschritt suchst, dann zieh Jiang Cheng
nicht immer mit, um mit dir herumzualbern. Du hast einen schlechten
Einfluss auf ihn.“
Wei WuXian
sah erschrocken aus: „Ich suche keinen Fortschritt? Bin ich denn
nicht derjenige mit dem größten Fortschritt im gesamten Lotus
Pier?“
Die jungen
Leute waren selten geduldig. Sie wären mit sich nicht zufrieden,
wenn sie nicht widersprechen würden. Als sie das hörte, erschien
ein Hauch von Feindseligkeit über Herrin Yus Stirn. Jiang Cheng
beeilte sich: „Wei WuXian, halt die Klappe!“
Er wandte
sich an Herrin Yu: „Es ist ja nicht so, dass wir unbedingt Drachen
im Lotus Pier schießen wollen, aber ist es im Moment nicht so, dass
keiner von uns den Pier verlassen darf? Die Wen-Sekte hat sich selbst
alle Nacht-Jagdgebiete zugewiesen. Selbst wenn ich auf Nachtjagd
gehen wollte, kann ich nirgendwo hingehen. Nicht nach draußen zu
gehen und zu Hause zu bleiben, um die Wen-Sekte nicht zu provozieren
oder sich um die Beute mit ihnen zu streiten – ist dass nicht das,
was du Vater selbst klar gemacht hast?"
Herrin Yu
grinste bitterlich: „Ich fürchte, dass du diesmal, auch wenn du
nicht gehen willst, trotzdem gehen musst.“
Jiang Cheng
verstand nicht. Herrin Yu schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit mehr
und ging über den Steg zurück und hielt ihr Kinn hoch. Die beiden
Dienstmädchen hinter ihr schossen Wei WuXian heftige Blicke zu und
folgten ihrer Herrin.
Als der
Abend kam, verstanden sie endlich, was mit 'auch wenn du nicht gehen
willst, trotzdem gehen musst' gemeint war.
Es stellte
sich heraus, dass die QishanWen-Sekte befohlen hatte, dass Gesandte
ihnen Botschaften übermitteln sollten. Aus dem Grund, dass andere
Sekten schlecht lehrten und dadurch Talent vergeudeten, forderte die
Wen-Sekte alle Sekten auf, innerhalb von drei Tagen mindestens
jeweils zwanzig Jünger nach Qishan zu entsenden, damit diese sich
von Experten unterrichten lassen konnten.
Jiang Cheng
war schockiert: „Die Leute der Wen-Sekte haben das wirklich gesagt?
Sie kennen keine Scham, oder?“
Wei WuXian,
„Nun, sie denken, dass sie die Sonne sind, die über allen Sekten
scheint. Es ist nicht das erste Mal, dass die Wen-Sekte so schamlos
ist. Mit ihrer großen Sekte und ihrem starken Einfluss haben sie den
anderen Sekten seit letztem Jahr die Nachtjagd verboten. Wie viel
Beute, wie viel Land haben sie uns dadurch schon gestohlen?“
Jiang
FengMian saß auf dem vordersten Platz, „Pass auf deine Wortwahl
auf und iss.“
Es waren nur
fünf Personen in der großen Halle. Vor allen stand ein kleiner,
quadratischer Tisch, auf dem ein paar Teller mit Essen standen. Den
Kopf gesenkt, hatte Wei WuXian nur ein paar Bissen genommen, als
jemand an der Ecke seines Ärmels zerrte. Als er sich umdrehte, sah
er Jiang YanLi, die ihm ein kleines Gericht herüberreichte. In der
Schale befanden sich ein Dutzend geschälter Lotuskerne, weich und
weiß, frisch und saftig.
Wei WuXians
Stimme war leise, „Shijie, danke.“
Jiang YanLi
lächelte. Diese etwas milden Gesichtszüge erstrahlen sofort in
Farbe. Yu ZiYuan sprach kalt: „Essen? In ein paar Tagen, wenn sie
in Qishan sind, werden wir nicht einmal mehr wissen, ob man ihnen
etwas zu essen geben wird. Warum nicht ab sofort ein paar Mahlzeiten
hungrig überspringen? Sollen sie sich daran gewöhnen!“
Diese
Forderung der QishanWen-Sekte war eine, die sie nicht ablehnen
konnten. Unzählige Präzedenzfälle konnten belegen, dass, wenn eine
Sekte es wagte, sich ihren Befehlen zu widersetzen, sie der
seltsamsten Dinge beschuldigt wurden, wie zum Beispiel zu rebellisch
oder destruktiv zu sein. Und, aufgrund dieser Gründe war es dann nur
rechtens, diese Sekte auszulöschen.
Jiang
FengMian antwortete mit lauwarmer Stimme: „Warum sich darüber
sorgen? Egal, was in der Zukunft kommt, das heutige Essen sollte
immer noch gegessen werden.“
Herrin Yu
hatte keine Geduld mehr. Sie knallte eine Hand auf die Tischplatte:
„Ich mache mir Sorgen? Natürlich mache ich mir Sorgen! Wie kannst
du noch so gleichgültig sein? Hast du nicht gehört, was die Person
aus der Wen-Sekte gesagt hat? Eine einfache Dienstmagd wagt es, ihren
Kopf über meinen zu halten! Zu den zwanzig gesandten Jüngern muss
ein Jünger aus dem Clan gehören. Was bedeutet das? Das bedeutet,
dass entweder A-Cheng oder A-Li dabei sein müssen! Sie werden
dorthin geschickt, um was zu tun? Um unterrichtet zu werden? Jede
Sekte lehrt ihre eigenen Schüler - seit wann obliegt es der
Wen-Sekte, sich da einzumischen?! Das sind Menschen, mit denen sie
spielen können, die sie gegen uns aufbringen können!“
Jiang Cheng,
„Mama, bitte sei nicht so wütend. Ich werde gehen.“
Herrin Yu
schimpfte: „Natürlich wirst du gehen! Sonst würde deine Schwester
gehen müssen. Sieh sie dir an, wie sie immer noch glücklich
Lotuskerne schält. A-Li, hör auf, sie zu schälen. Für wen schälst
du sie? Du bist eine künftige Herrin, nicht die Dienerin von
jemandem!“
Das Wort
'Diener' zu hören störte Wei WuXian nicht wirklich. Er hatte alle
Lotuskerne in der Schale auf einmal in seinen Mund gesteckt und
kaute, als die weiche, erfrischende Süße seinen Mund füllte. Jiang
FengMian hingegen hob den Kopf leicht an, „Meine Schöne!“
Herrin Yu,
„Was, etwa, was ich gesagt habe? Diener? Du willst das Wort nicht
hören? Jiang FengMian, lass mich dich diesmal fragen, hast du vor,
ihn auch gehen zu lassen?“
Jiang
FengMian, „Das liegt an ihm selbst. Er kann gehen, wenn er will.“
Wei WuXian
hob seine Hand, „Ich will gehen.“
Herrin Yu
lachte heftig: „Wie wunderbar. Er kann gehen, wenn er will. Wenn er
nicht will, ist es ihm definitiv möglich zu bleiben. Warum muss
A-Cheng gehen, egal was passiert? Das Kind eines anderen mit solcher
Leidenschaft aufzuziehen, Sektenführer Jiang, du bist wirklich ein
sehr netter Mensch!“
Da gab es
tiefen Groll in ihrem Herzen. Sie wollte einfach nur ihre Wut
auslassen, auch wenn es keinen Sinn ergab. Alle anderen waren ruhig,
während sie ihr Temperament ertrugen. Jiang FengMian, „Meine
Schöne, du bist müde. Warum gehst du nicht zurück und ruhst dich
aus?“
Jiang Cheng
saß still, als er zu ihr aufblickte, „Mutter.“
Herrin Yu
stand auf und spottete: „Was soll ich deiner Meinung nach tun?
Möchtest du wie dein Vater, dass ich meine Zunge im Zaun halte? Du
bist wirklich ein Idiot. Ich habe dir vor langer Zeit gesagt, dass du
nie in deinem ganzen Leben in der Lage sein wirst, denjenigen zu
übertreffen, der neben dir sitzt. Nicht über die Kultivierung,
nicht über die Nachtjagd, nicht einmal über die Drachenjagd, man
kann ihn nicht übertreffen! Dem kann nicht geholfen werden. Denn wer
könnte die Tatsache ändern, dass deine Mutter schlechter ist als
die eines anderen? Schlimmer noch. Deine Mutter fühlt die
Ungerechtigkeit gegen dich, sagt dir unzählige Male, du sollst nicht
mit ihm herumalbern, aber du verteidigst ihn immer noch. Wie konnte
ich nur einen Sohn wie dich zur Welt bringen?“
Sie ging
allein hinaus und ließ Jiang Cheng dort sitzen, sein Teint wechselte
zwischen lila und blass. Jiang YanLi stellte leise eine Schale mit
bereits geschälten Lotuskernen auf seinen Tisch.
Nachdem er
eine Weile gesessen hatte, sagte Jiang FengMian: „Heute Abend werde
ich achtzehn weitere Leute auswählen. Ihr werdet zusammen am
nächsten Tag abreisen.“
Jiang Cheng
nickte und zögerte, ob er noch etwas sagen sollte oder nicht. Er
wusste nie, wie er sich mit seinem Vater unterhalten sollte, während
Wei WuXian da kompetenter war.
Als er seine
Suppe ausgetrunken hatte, antwortete er: „Onkel Jiang, willst du
uns nicht noch etwas geben?“
Jiang
FengMian lächelte: „Ich habe es euch schon vor langer Zeit
gegeben. Eure Schwerter sind an eurer Seite, und das Sprichwort ist
in euren Herzen.“
Wei WuXian,
„Oh! 'Das Unmögliche versuchen', richtig?“
Jiang Cheng
warnte sofort: „Das bedeutet aber nicht, dass du Ärger machen
solltest, obwohl du weißt, dass du stets ein Chaos verursachen
wirst!“
Die Stimmung
unter ihnen besserte sich allmählich.
Am nächsten
Tag, vor ihrer Abreise, sprach Jiang FengMian nur einen Satz, nachdem
er sie über die Notwendigkeiten informiert hatte: „Die Jünger der
YunmengJiang-Sekte sind nicht so schwach, dass sie unter den Wellen
der Außenwelt zerbrechen könnten.“
Jiang YanLi
begleitete sie noch ein Stück und folgte ihnen noch einige
Straßenzüge lang. Sie füllte ihre Arme mit allerlei Snacks, aus
Angst, dass sie in der QishanWen-Sekte sonst verhungern würden. Die
zwanzig Jungen, die nun mit Essen übersät waren, machten sich vom
Lotus Pier aus auf den Weg. Innerhalb der Zeit, die die Wen-Sekte
festgelegt hatte, kamen sie zu dem genannten Sektor der
Indoktrination in Qishan.
Aus jeder
Sekte, ob groß oder klein, kamen eine Reihe von Schülern. Alle von
ihnen waren Junioren. Unter den Hunderten von Menschen kannten sich
etliche der Jungen. In Gruppen zwischen Drei- bis Sieben unterhielten
sie sich alle leise, keines ihrer Gesichter wirkte glücklich. Es
schien, dass sie alle hier mit nicht den angenehmsten Mitteln
versammelt worden waren. Wei WuXian sah sich um und bemerkte: „Wie
erwartet, die Leute aus Gusu sind auch gekommen.“
Er wusste
nicht, warum, aber alle von der GusuLan-Sekte ausgesandten Jungen
sahen etwas bleich aus. Lan WangJis Gesicht war besonders blass, aber
sein Ausdruck war immer noch so frostig wie sonst und das
distanzierte ihn von allen anderen. Mit seinem Schwert Bichen auf
seinem Rücken, stand er allein, mit niemandem um ihn herum. Wei
WuXian wollte zu ihm gehen und Hallo sagen, aber Jiang Cheng warnte
ihn: „Mach keinen Ärger!“
Und so
konnte er es nur vergessen.
Plötzlich
rief eine Person ihnen Befehle von vorne zu und befahl allen Jüngern,
sich vor einer hohen Plattform in Reihen aufzustellen. Einige der
Jünger der Wen-Sekte kamen und tadelten: „Ruhe, ihr alle! Nicht
reden!“
Die Person
auf der Plattform war nicht viel älter als sie selbst und schien
etwa achtzehn oder neunzehn Jahre alt zu sein. Mit aufgeblähter
Brust, hatte er Gesichtszüge, die sich nur knapp mit dem Wort
'gutaussehend' kreuzten. An ihm fühlte sich, wie bei seinem Haar,
aus irgendeinem Grund alles etwas schmierig an. Dies war das jüngste
Kind der QishanWen-Sekte, Wen Chao.
Wen Chao
genoss es wirklich, sein Gesicht zu zeigen. Er hatte sich vor den
anderen Sekten in einer ganzen Reihe von Veranstaltungen präsentiert,
weshalb den Menschen sein Aussehen nicht fremd war. Hinter ihm
standen zwei Personen, einer links und einer rechts. Auf der linken
Seite war ein hübsches Mädchen mit schlanker Statur. Mit langen
Brauen, großen Augen und feurig roten Lippen war der einzige Makel
der schwarze Leberfleck über ihrer Oberlippe. Er saß auf einer
unangenehmen Stelle, als ob er immer andere einladen wollte, ihn
herauszuschneiden. Rechts war ein großer, breitschultriger Mann, der
wie in seinen Zwanzigern aussah. Sein Gesicht zeigte nur
Gleichgültigkeit, umgeben von einer Aura der Kälte.
Wen Chao
stand auf der höheren Hälfte des Hügels und sah auf sie alle
herab. Er sah sehr zufrieden mit sich selbst aus und winkte mit der
Hand: „Von nun an, einer nach dem anderen, übergebt ihr eure
Schwerter!“
In der Menge
kam es zu einem Aufruhr. Jemand protestierte: „Schwerter sollten
einen Kultivierenden immer begleiten. Warum willst du, dass wir
unsere Schwerter übergeben?“
Wen Chao,
„Wer war derjenige, der gesprochen hat? Aus welcher Sekte? Steh
auf!“
Die Person,
die gesprochen hatte, hatte sofort zu viel Angst, um
weiterzusprechen. Die Menge unter der Plattform beruhigte sich
schließlich, und Wen Chao war schließlich zufrieden: „Genau
deshalb, weil es immer noch Schüler wie dich gibt, die nichts von
Verhalten, von Befolgung und von Demut wissen, bin ich hier, um dich
zu indoktrinieren, damit eure Kerne nicht verrotten. Du bist jetzt
schon so ignorant kühn. Wenn euer Verhalten jetzt und in Zukunft
nicht aufgeräumt wird, dann wird es natürlich diejenigen unter euch
geben, die versuchen wollen, die Autorität in Frage zu stellen, um
der Wen-Sekte auf den Kopf zu klettern!“
Obwohl jeder
wusste, dass er mit bösen Absichten um ihre Schwerter bat, so war
die QishanWen-Sekte wie die Sonne zur Mittagszeit und ihre Sekten
bewegten sich allesamt auf dünnem Eis und wagten es nicht, sich ihr
im Geringsten zu widersetzen. Alle hatten Angst, dass, wenn sie ihm
Missfallen bereiten würden, ihnen zusammen mit ihrer Sekte eine
Anschuldigung vorgeworfen werden könnte, und so konnten sie sich ihm
nur unterwerfen.
Jiang Cheng
hielt Wei WuXian fest. Wei WuXian fragte mit leiser Stimme: „Weshalb
hältst du mich zurück?“
Jiang Cheng
schnaubte: „Tu keine unnötigen Dinge.“
Wei WuXian,
„Du denkst zu viel nach. Selbst wenn dieser hier so fettig ist,
dass es schon ekelhaft ist, und egal wie sehr ich ihn verprügeln
will, so werde ich mir nicht einen solchen Moment aussuchen und
unserer Sekte Ärger bereiten. Keine Sorge.“
Jiang Cheng,
„Du würdest ihn am liebsten in einen Sack stecken und ihn immer
wieder verprügeln? Ich befürchte, das würde nicht funktionieren.
Siehst du den Kerl neben Wen Chao?“
Wei WuXian,
„Ja, seine Kultivierung ist hoch, aber er hat sich nicht gut
gehalten. Sieht aus, als wäre er ein Spätzünder gewesen.“
Jiang Cheng,
„Sein Name ist Wen ZhuLiu, auch bekannt als die
'Kernschmelz-Hand'. Er ist ein Diener, der speziell an Wen Chaos
Seite gehalten wird, besonders um ihn zu beschützen. Provoziere ihn
nicht.“
Wei WuXian,
„Die 'Kernschmelz-Hand'?“
Jiang Cheng,
„Das ist richtig. Seine Handflächen sind ziemlich beängstigend.
Und er ist eine große Hilfe für den Tyrannen. Vorher hat er Wen...“
Die beiden
blickten geradeaus, während sie miteinander flüsterten. Als sie
sahen, wie sich einer der Diener der Wen-Sekte ihnen näherte, um
ihnen ihre Schwerter wegzunehmen, schwiegen sie sofort. Selbstbewusst
löste Wei WuXian sein Schwert vom Gürtel und übergab es.
Gleichzeitig konnte er nicht umhin, auf die Seite der GusuLan-Sekte
zu schauen. Er dachte ursprünglich, dass Lan WangJi sich definitiv
weigern würde, es zu übergeben. Unerwartet, auch wenn Lan WangJis
Gesicht erschreckend kalt war, überreichte er sein Schwert trotzdem.
Die
Verhöhnung von Herrin Yu war zu einer Prophezeiung geworden. Während
sie ihre 'Indoktrination' in Qishan erhielten, waren die täglichen
Mahlzeiten wirklich fade. Alle Snacks, die Jiang YanLi um ihre Körper
gehängt hatte, waren ihnen vor langer Zeit weggenommen worden.
Darüber hinaus hatte sich unter den jüngeren Jüngern noch niemand
in Inedia geübt. Niemand konnte behaupten, dass es nicht schwierig
war.
Die so
genannte 'Indoktrination' der QishanWen-Sekte beinhaltete die Ausgabe
von Kopien der 'Quintessenz der Wen-Sekte', Broschüren mit den
Geschichten und Zitaten der früheren Führer und der besten
Kultivierenden der Wen-Sekte. Jeder hatte eine bekommen. Sie waren
dazu auffordert worden, sie sich gut zu merken und sie immer im
Hinterkopf zu behalten. Wen Chao hingegen stand jeden Tag über
ihnen. Er hielt Reden vor allen und verlangte, dass man ihn
anfeuerte, und ihn zum Vorbild für jedes Wort und jede Handlung
machte. Bei Nachtjagden nahm er die Jünger mit und ließ sie ganz
vorne mitlaufen. Sie erkundeten den Weg, lenkten die Dämonen und
Bestien ab und kämpften mit aller Kraft, während er im letzten
Moment erschien und die Beute, die bereits von anderen zu einem Brei
geschlagen worden war, leicht niederschlug. Nachdem er ihm den Kopf
abgeschnitten hatte, prahlte er damit, dass er diesen Sieg ganz
alleine errungen hätte. Wenn es jemanden gab, mit dem er besonders
unzufrieden war, dann zog er ihn heraus und beschimpfte ihn vor allen
Leuten, als ob diese Person noch niedriger im Stand wäre als sogar
die Schweine.
Letztes
Jahr, als Wen Chao an der Diskussionskonferenz der QishanWen-Sekte
teilgenommen hatte, hatte er zusammen mit Wei WuXian und den anderen
auch das Gelände am Tag des Bogenschießens betreten. Er war sich
absolut sicher, dass er den ersten Platz gewinnen würde, und dachte,
dass es für andere Menschen nur natürlich sei, ihm in allem
nachzugeben. Als Konsequenz aus den ersten drei Schüssen war der
erste ein Treffer, der zweite verfehlte und der dritte schoss die
falsche Papierpuppe ab. Er hätte das Gelände sofort verlassen
müssen, aber er weigerte sich, und die anderen zögerten, ihn
herauszurufen. Am Ende, nach den Berechnungen, waren die vier mit den
besten Ergebnissen Wei WuXian, Lan XiChen, Jin ZiXuan und Lan WangJi.
Ohne den vorzeitigen Ausstieg hätte Lan WangJi es noch besser machen
können. Wen Chao fühlte sich stark gedemütigt, und so nahm er
diesen vier am meisten übel. Lan XiChen konnte diesmal nicht kommen,
also war er auf die anderen drei fixiert, schimpfte sie jeden Tag,
demonstrierte seine Macht.
Derjenige,
der am meisten darunter zu leiden hatte, war Jin ZiXuan. Er war unter
den übervorsichtigen Händen seiner Eltern sehr behütet
aufgewachsen. Er hatte noch nie zuvor eine solche Demütigung erlebt.
Wenn ihn die anderen Anhänger der LanlingJin-Sekte nicht ein ums
andere Mal aufgehalten hätten und auch wegen der Tatsache, dass Wen
ZhuLiu nicht einfach zu handhaben war, dann hätte er sich
bereitwillig zusammen mit Wen Chao am ersten Tag getötet.
Andererseits
schien Lan WangJi in einem Zustand des inneren Friedens und der
absoluten Gleichgültigkeit zu sein, als ob seine Seele bereits aus
seinem Körper gestiegen wäre. Und Wei WuXian hatte jahrelang Herrin
Yus verschiedene Methoden des Schimpfens erlebt, als er am Lotus Pier
war. Er begann zu lachen, wann immer er vor die Plattform treten
sollte, und blinzelte kaum in solchen Momenten.
Wie üblich
wurde die Gruppe an diesem Tag wieder von den Schülern der Wen-Sekte
wachgerüttelt. Wie eine Gruppe von Nutztieren wurden sie zum
nächsten Ziel ihrer Nachtaktivitäten getrieben. Der Ort, an den sie
diesmal gingen war als Berg Muxi bekannt.
Je tiefer
sie in den Wald gingen, desto dicker wurden die Äste über ihren
Köpfen, und desto größer wurden die Schatten unter ihnen.
Abgesehen von den Geräuschen von Blättern und ihren Schritten
konnten sie nichts anderes hören. Das Gezwitscher von Vögeln, die
Geräusche der Tiere und Käfer wären inmitten dieser Stille
ungewöhnlich wahrnehmbar gewesen.
Nach einer
Weile traf die Gruppe auf einen Bach. Über das gurgelnde Wasser
verteilt schwammen Ahornblätter. Die Harmonie des Klangs und des
Anblicks schwächte unmerklich die trostlose Atmosphäre etwas ab.
Unter ihnen war auch vereinzelt kicherndes Gelächter zu hören.
Während Wei
WuXian und Jiang Cheng gingen, beleidigten sie die Wen-Hunde in jeder
erdenklichen Weise. Versehentlich drehte Wei WuXian sich um, blickte
hinüber und sah eine in Weiß gekleidete Gestalt. Lan WangJi war
nicht weit von ihm entfernt.
Aufgrund
seines langsamen Tempos war Lan WangJi am hinteren Ende ihrer Reihe.
In den letzten Tagen wollte sich Wei WuXian ihm viele Male nähern
und sich bei ihm erkundigen, was passiert war. Lan WangJi wandte sich
jedoch ab, wann immer er ihn sah, und Jiang Cheng hatte auch in ihn
hinein geprügelt, nicht mit ihm herumzuspielen. Jetzt, da sie
einander näher waren, konnte er nicht anders, als ihm mehr
Aufmerksamkeit zu schenken. Wei WuXian erkannte plötzlich, dass,
obwohl Lan WangJi versuchte, so normal wie möglich zu gehen, man
immer noch sehen konnte, dass sein rechtes Bein den Boden leichter
berührte als sein linkes, als ob er keinen Druck auf ihm ausüben
könnte.
Als Wei
WuXian dies sah, verlangsamte er seinen Schritt, so dass er neben Lan
WangJi war. Er ging Schulter an Schulter mit ihm und fragte: „Was
ist mit deinem Bein passiert?“
Informationen
JinZhu
und YinZhu: JinZhu bedeutet "goldene Perle", während
YinZhu "silberne Perle" bedeutet.
Meine
Schöne: Die wörtliche Übersetzung wäre hier einfach nur
"Frau", im unschönsten Fall sogar „Weib“ oder höher
angesehen "Dame". Später könnte man es auch noch als
"Dritte Frau" oder "Dritte Dame" interpretieren.
Schon beim Subben der Animationsserie hat mich dies ungemein gestört,
da ich alle diese Bezeichnungen etwas seltsam finde. Bereits in der
Serie habe ich mich für „Meine Schöne“ entschieden, da ich
trotz des Charakters von Herrin Yu der Meinung bin, das Jiang
FengMian seine Frau liebt und sie, als die Herrin über das Lotus
Pier, nicht als Weib oder bei dem Titel, den sie in ihrem Heimatclan
getragen hatte, bezeichnen würde. Anderssprachige Übersetzungen
beschränken sich da auf die wörtliche Übersetzung oder verwenden
„MyLady“, was mich jedoch zu sehr an alte englische Schlager
erinnert und sich als „Meine Dame“ übersetzt auch nicht wirklich
besser anhört. Zudem sollte man bedenken, dass Herrin Yu für ihr
Alter (man müsste sie auf Mitte 40 einschätzen) wirklich eine sehr
schöne Frau ist.
Wen Chao:
Chao ist in der Regel ein Nachname ohne Bedeutung und kein Vorname.
Allerdings ist das Schriftzeichen des Namens tatsächlich mit dem
Symbol der Sonne verbunden.
Wen
ZhuLiu: ZhuLiu bedeutet "dem Strom hinterherlaufen".
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