Dienstag, 9. Juli 2019

Kapitel 36

Kapitel 36




Kapitel 36: Gras – Teil Vier

Wer ist da vor der Tür? Klopfender Bambus


Jin Ling und die Jungen innerhalb der Gruppe hatten das Gefühl, dass ihnen ihre Herzen gleich aus ihren Brustkörben springen würden, während sie befürchteten, dass Wei WuXian etwas zugestoßen sein könnte, als er nach draußen geschaut hatte und nun mit einer Hand die Augen bedeckend auf den Boden gesunken war. Als dann auch noch ein gehauchtes Ah erklang, setzten bei einigen der Jungen gar die Herzschläge aus. Sogar die Haare schienen bei manch einem hoch zu stehen, „Was? Ist etwas passiert?!“

Wei WuXian sprach so leise wie möglich: „Shh. Nicht reden. Ich schaue es mir an.“

Jin Ling senkte seine Stimme, so dass sie noch leiser war als die von Wei WuXian, „Was hast du gesehen? Was ist das für ein Ding vor der Tür?“

Wei WuXian wandte weder seinen Blick ab noch gab er eine klare Antwort: „Hmmm.....Ja.... Das ist unglaublich. Wirklich erstaunlich.“

Der Ausdruck, den man von der Seite seines Gesichts aus sehen konnte, schien von Freude erfüllt zu sein, und beides, sein Lob und sein Ausruf klangen, als kämen sie von ganzem Herzen. Die Neugierde der Schüler überstieg sofort ihre Nervosität. Lan SiZhui konnte nicht anders, als zu fragen, „... Senior Mo, was ist wirklich erstaunlich?“

Wei WuXian, „Wow! Es ist so schön. Seid still, Jungs. Scheucht es mir nicht weg. Ich bin noch nicht fertig damit, es mir näher anzusehen.“

Jin Ling, „Beweg dich! Ich will es sehen.“

Ich auch!“

Wei WuXian, „Seid ihr sicher?“

Ja!“

Wei WuXian nahm sich Zeit, um zur Seite zu treten, als ob er nicht bereit wäre zu gehen. Jin Ling war der Erste, der herüberkamen. Er blickte nach draußen durch den dünnen Schlitz zwischen den Holzlatten. Es war schon Nacht. In dieser kalten Atmosphäre hatte sich selbst der Nebel in der Stadt Yi etwas aufgelöst, so dass man gerade etwas von der Straße bis auf wenige Meter Entfernung sehen konnte. Jin Ling starrte für eine Weile nach draußen. Da er das 'erstaunliche', 'hübsche' Ding nicht fand, war er ziemlich enttäuscht, und dachte bei sich selbst, Ich habe es doch jetzt nicht verjagt, weil ich geredet habe, oder?

Gerade als er es aufgeben wollte, blitzte eine kleine, gebückte Gestalt plötzlich vor dem Schlitz auf. Nachdem er das gesamte Erscheinungsbild der Entität ohne jegliche Vorwarnung gesehen hatte, kribbelte Jin Lings Kopfhaut von dem Schock. Er hätte fast aufgeschrien, aber irgendwie war es ihm gelungen, den Ausruf noch in seiner Brust zu unterdrücken, und er schaffte es tatsächlich, still zu bleiben in seiner steifen, gebogenen Haltung. Nachdem das Kribbeln über seinem Kopf vorüber war, wandte er sich trotz allem von selbst an Wei WuXian. Wei WuXian, der die Wurzel dieser ganzen Aufregung war, lehnte am Rahmen des Fensters neben der Tür. Mit einem Mundwinkel, der sich nach oben zog, hob er seine Augenbrauen an und schenkte Jin Ling ein amüsiertes Lächeln, „Sieht es nicht schön aus?“

Jin Ling starrte ihn an. In dem Wissen, dass er sich absichtlich über sie lustig gemacht hatte, biss Jin Ling die Zähne zusammen, „... Ja...“

Mit einem Sinneswandel richtete er sich auf und antwortete beiläufig: „Es... es ist bestenfalls normalerweise so, dass die kaum einen Blick wert sind!“

Nach dem Kommentar ging er zur Seite und wartete darauf, dass der Nächste hereingelegt wurde. Ihre täuschenden Worte brachte die Neugierde im Rest der Gruppe auf einem Höhepunkt. Lan SiZhui konnte sich selbst nicht davon abhalten, still zu bleiben und näherte sich auch dem Ort. Gerade als sich seine Augen dem Schlitz näherten, entkam ihm ein "ah!", aber dieses spiegelte im Gegensatz zu den beiden vorherigen sein ehrliches Empfinden wieder. Mit der Panik ins Gesicht geschrieben, war er im Schock nach hinten gesprungen. Er fand erst Blickkontakt mit Wei WuXian, nachdem er sich einige Male schwindelig umher gedreht hatte und beschwerte sich dann: „Senior Mo! Da ist ein.... ein...“

Wei WuXian antwortete mit absoluter Ernsthaftigkeit: „Da ist Ein, richtig? Du musst es nicht laut aussprechen, sonst wäre es keine angenehme Überraschung mehr für die anderen. Jeder soll es sich selbst ansehen.“

Nun war es jedoch für die anderen unmöglich, es noch zu wagen, hinüberzugehen, nachdem sie Lan SiZhuis verängstigten Zustand gesehen hatten. Eine angenehme Überraschung sollte dies sein? Wohl eher ein böser Schrecken. Alle winkten mit den Händen ablehnend ab, „Nein danke. Nein, danke.“

Jin Ling spuckte aus: „Die Situation ist schon so und du spielst hier immer noch Streiche. Was um alles in der Welt denkst du dir dabei?“

Wei WuXian, „Du hast doch gerade auch mitgemacht, nicht wahr? Imitiere nicht den Ton deines Onkels. SiZhui, war es beängstigend?“

Lan SiZhui nickte gehorsam, „Ja.“

Wei WuXian, „Das ist gut. Dies ist eine ausgezeichnete Gelegenheit für eure Kultivierung. Warum erschrecken Geister die Leute? Nun, weil, wenn die Menschen Angst haben, dann verblasst ihr Bewusstsein, während ihre spirituelle Energie aufsteigt, was es dann wiederum einfach macht, ihre Yang-Energie herauszusaugen. Das ist der Grund, warum Geister die meiste Angst vor denjenigen haben, die furchtlos sind und die keine Angst vor ihnen haben. Dort gibt es für sie keine Gelegenheit dazu, also gibt es nichts, was Geister mit ihnen machen können. Daher ist es das wichtigste Ziel für die Jünger des Kultivierungsweges, mutiger zu werden!“

Froh, dass er aufgrund seiner Bewegungsunfähigkeit keinen neugierigen Blick nach draußen hatte werfen können, murmelte Lan JingYi, „Tapferkeit und Mut wird bei der Geburt bestimmt. Was kann man da schon tun, wenn man als Feigling geboren wurde?“

Wei WuXian, „Wurdest du mit dem Wissen geboren, wie man auf Schwertern fliegt? Die Leute wissen nur, wie man etwas macht, nachdem sie es immer und immer wieder geübt haben. Ebenso können sich die Menschen an die Dinge gewöhnen, vor denen sie Angst haben. Stinkt das Nebengebäude? Ist es ekelhaft? Vertrau mir, wenn du einen Monat lang in einem solchen Nebengebäude lebst, dann wirst du sogar in der Lage sein, deine Mahlzeiten da drin zu essen.“

Die Jungs waren vollkommen schockiert. Sie lehnten diese Erklärung unisono ab: „Nein, das kannst du nicht! Das ist unmöglich!!!!!“

Wei WuXian, „Das war nur ein Beispiel. Okay, ich gebe zu, dass ich noch nie in einem Nebengebäude gelebt habe. Ich weiß nicht, ob du wirklich da drin essen kannst. Ich habe keine Beweise. Doch ihr müsst es mit dem vor der Tür versuchen. Ihr müsst es euch nicht nur ansehen, sondern ihr solltet auch genau hinsehen. Achtet auch auf die Details. Findet aus diesen Details in kürzester Zeit die versteckten möglichen Schwächen heraus. Ihr müsst die Situation ruhig angehen und nach Chancen für einen Gegenangriff suchen. In Ordnung, habe ich nun genug gesagt, damit ihr es versteht? Die wenigsten Leute hatten je die Gelegenheit von mir etwas zu lernen. Nutzt es aus. Niemand bewegt sich weiter weg. Bildet nun eine Reihe, bitte. Schaut euch das einer nach dem anderen an.“

.. Müssen wir das wirklich?“

Wei WuXian, „Natürlich. Ich scherze nie herum. Ich lege auch keine Leute herein. Fangen wir mit JingYi an. Sowohl Jin Ling als auch SiZhui haben beide schon geguckt.“

Lan JingYi, „Was? Ich muss doch nicht schauen, oder? Menschen mit Leichenvergiftung dürfen sich nicht bewegen. Das hast du selbst gesagt.“

Wei WuXian, „Lass mich mal deine Zunge sehen. Ah.“

Lan JingYi, „Ah.“

Wei WuXian, „Herzlichen Glückwunsch. Du bist geheilt. Mache mutig deinen ersten Schritt nach vorne. Komm schon!“

Lan JingYi, „Ich bin schon geheilt?! Du machst Witze, oder?!“

Nachdem seine Proteste allesamt abgelehnt worden waren, blieb ihm nichts anderes übrig, als zum Fenster zu gehen. Er sah einmal hinaus, dann schaute er weg. Er schaute noch einmal hinaus, dann sah er wieder weg. Wei WuXian klopfte auf das Brett: „Wovor hast du Angst? Ich stehe doch hier. Es wird nicht durch das Brett durchbrechen, geschweige denn deine Augäpfel oder so auffressen.“

Lan JingYi sprang zurück, „Ich bin fertig mit Suchen!“

Es folgte mit jedem, der danach an der Reihe war, ein scharfes, verängstigtes Einatmen. Nachdem alle einmal hinausgesehen hatten, sprach Wei WuXian wieder, „Alle fertig mit gucken? Dann erzählt nun ein jeder in der Gruppe, was für Details ihm aufgefallen sind. Das fassen wir dann zusammen.“

Jin Ling riss sich förmlich darum, als Erster sprechen zu dürfen: „Weiße Augen. Weiblich. Klein und dünn. Zierliche Gestalt. Hält ein Bambusrohr.“

Lan SiZhui dachte für einen Moment nach: „Die Größe des Mädchens reicht bis an meine Brust. Sie trägt nur Lumpen und sieht nicht allzu sauber aus, angezogen wie ein Bettler, der durch die Straßen streift. Der Bambusstab scheint ein weißer Rohrstock zu sein. Es ist möglich, dass ihre weißen Augen nicht erst nach dem Tod gebildet wurden, sondern weil sie, bevor sie starb, bereits blind war.“

Wei WuXian kommentierte: „Jin Lings Aussage hatte mehr Quantität, während SiZhuis mehr Qualität hatte.“

Jin Lings Lippen zuckten unzufrieden. Ein Junge sagte: „Das Mädchen ist nur etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Sie hat ein ovales Gesicht, mit einem rosigen Hauch über ihren zarten Gesichtszügen. Sie hat ihre langen Haare mit einer hölzernen Haarnadel, an deren Ende ein kleiner Fuchskopf geschnitzt ist, hochgesteckt. Sie ist nicht nur klein - ihre Figur ist auch sehr schlank. Obwohl sie nicht so ordentlich ist, ist sie auch nicht schmutzig. Nach ein wenig Pflege und Wasser wäre sie ein reizendes Mädchen und eine gute Partie.“

Als Wei WuXian dies hörte, spürte er sofort, dass dieser Junge eine sehr vielversprechende Zukunft haben würde. Er lobte energisch: „Gut gemacht, gut gemacht. Die Beobachtungen sind sowohl detailliert als auch einzigartig. Kind, du wirst definitiv der empfindsame Typ sein, wenn du groß bist.“

Der Junge errötete und drehte sich zur Wand und ignorierte das Lachen seiner Kollegen. Noch ein Junge sprach: „Es sieht so aus, als ob die Geräusche des Bambusrohres, das auf den Boden klopft, nur zu hören sind wenn sie geht. Wenn sie blind gewesen ist, bevor sie starb, dann war sie nicht in der Lage zu sehen, wohin sie geht und kann es auch jetzt nicht, nachdem sie ein Geist geworden ist, also kann sie sich nur auf den weißen Rohrstock verlassen.“

Ein anderer der Jungen argumentierte: „Aber wie ist das möglich? Ihr habt alle schon einmal blinde Menschen gesehen, nicht wahr? Da sie ihre Augen nicht benutzen können, bewegen und gehen sie langsam, für den Fall, dass sie gegen etwas stoßen könnten. Wie auch immer, der Geist vor der Tür macht jedoch schnelle Bewegungen. Ich habe noch nie zuvor einen so wendigen Blinden gesehen.“

Wei WuXian lächelte: „Gute Arbeit. Respekt, dass du darüber nachgedacht hast. Genau so sollte man so etwas analysieren. Verzichtet nicht auf Verdachtsmomente. Nun, laden wir sie ein, hereinzukommen, um uns einige Antworten zu geben.“

Sobald er seinen Satz beendet hatte, nahm er sofort eines der Bretter ab. Nicht nur die
Jungen drinnen, auch der Geist vor dem Fenster sprang erschrocken zurück aufgrund dieser plötzlichen Bewegung, und hob vorsichtig den Bambusstab.

Wei WuXian begrüßte zuerst den Geist und fragte dann: „Junges Fräulein, hast du hier etwas zu erledigen, nachdem du uns den ganzen Weg hierher gefolgt bist?“

Die Augen des Mädchens wurden groß. Wenn sie noch ein lebendiger Mensch gewesen wäre, dann hätte sie nun so bezaubernd wie nur irgend möglich ausgesehen. Doch ohne Pupillen und nur zwei durchschimmernden, roten Adern, die von ihren Augen ausgingen, ließ es sie erschreckender denn je aussehen. Einige der Jungen im Hintergrund schnappten nach Luft. Wei WuXian tröstete sie: „Wovor habt ihr Angst? Ihr solltet euch daran gewöhnen, denn ihr werdet noch einige Leute aus ihren sieben Qiao bluten sehen in Zukunft. Es sind nur zwei der sieben, die derzeit bluten. Ihr könnt damit nicht umgehen? Deshalb sage ich euch, ihr solltet mehr erleben und euch abhärten.“

Zuvor war das Mädchen irritiert vor ihrem Fenster auf und ab gelaufen und hatte mit ihrer Stange auf dem Boden geklopft, mit den Füßen gestampft, alle angestarrt und mit den Armen herum gewunken. Jetzt aber veränderte sich ihre Handlungen. Sie gestikulierte, als wollte sie etwas ausdrücken. Jin Ling fragte sich: „Seltsam. Kann sie nicht reden?“

Als sie das hörte, hielt der Geist des Mädchens inne und öffnete dann ihren Mund. Aus ihrem leeren Mund strömte Blut. Ihre Zunge war ihr von ihrer Wurzel an herausgerissen worden. Die Jünger waren mit Gänsehaut bedeckt, aber sie empfanden alle Mitgefühl, Das war der Grund, warum sie nicht sprechen konnte. Sowohl blind als auch stumm - wie bedauerlich.

Wei WuXian, „Benutzt sie Zeichensprache? Versteht das jemand?“

Niemand verstand sie. Das Mädchen war so aufgewühlt, dass sie mit den Füßen stampfte und ihre Stange benutzte, um auf dem Boden zu schreiben und zu kritzeln. Dennoch war sie eindeutig nicht aus einer angesehenen und somit gebildeten Familie. Sie war Analphabetin und konnte somit nichts schreiben. Mit nur einer Reihe von Strichmännchen konnte niemand verstehen, was sie versuchte, ihnen zu sagen.

Plötzlich erklangen vom anderen Ende der Straße die sprintenden Schritte und der keuchende Atem eines Menschen. Der Geist des Mädchens verschwand plötzlich. Sie würde wahrscheinlich wiederkommen, also war Wei WuXian deswegen nicht beunruhigt. Er setzte schnell das Brett zurück und fuhr damit fort, durch den Schlitz nach draußen zu schauen. Der Rest der Jünger wollte die Situation dort draußen auch sehen, und daher rückten sie alle dicht beisammen an der Tür. Somit entstand eine Reihe von Köpfen, die von oben nach unten gestapelt waren und die gesamte Fläche der Tür blockierten.


Obwohl sich der Nebel für eine Weile verdünnt hatte, begann er in diesem Moment wieder dichter zu werden. Eine Gestalt brach ungeschickt durch den Nebel und eilte hinüber. Die Person war schwarz gekleidet. Als ob er verletzt worden wäre, taumelte er, während er rannte. Ein Schwert hing an seiner Taille, das ebenfalls mit schwarzem Stoff umhüllt war. Lan JingYi flüsterte: „Ist das dieser Totengräber?“

Lan SiZhui flüsterte zurück: „Wahrscheinlich nicht. Der nebulöse Mann bewegte sich im Gegensatz zu dieser Person ganz anders.“

Eine Gruppe von wandelnden Leichen verfolgte die Person. Sie bewegten sich schnell und holten ihn bald ein. Die Person stellte sich ihren Angriffen, indem sie ihr Schwert aus der Scheide zog. Sein helles, klares Schwert schnitt blendend durch den Nebel. Wei WuXian jubelte leise, Was für ein guter Zug!

Nach dem Angriff ertönte jedoch wieder das seltsame, aber vertraute Geräusch von Spritzern. Das schwarz-rote Pulver schoss aus den abgetrennten Gliedmaßen der Leichen. Die Person war plötzlich davon umgeben. Da er sich nirgendwo verstecken konnte, stand er da, wo er war, und wurde sofort von dem Pulver verschlungen. Lan SiZhui war von der Szene schockiert. Er forderte mit gedämpfter Stimme: „Senior Mo, dieser Mann, wir....“

Eine weitere Gruppe von wandelnden Leichen ging hinüber und umzingelte die Person. Der Kreis um ihn zog sich immer weiter zusammen. Sein Schwert schlug wieder zu, was noch mehr Leichenvergiftungspulver verteilte. Er atmete dadurch auch mehr von dem Pulver ein und es sah so aus, als würde er anfangen, sein Gleichgewicht zu verlieren. Wei WuXian sagte: „Wir müssen ihm helfen.“

Jin Ling, „Wie willst du ihm helfen? Wir können jetzt nicht da rüber gehen. Das Leichenvergiftungspulver ist überall. Du wirst vergiftet, wenn du da auch nur in die Nähe gehst.“

Nach einem Moment des Nachdenkens verließ Wei WuXian das Fenster und ging in die Mitte der Kammer. Die Jungs konnten nicht anders, als ihm mit den Augen zu folgen. Verschieden gestaltete Papierpuppen standen schweigend in zwei Reihen vor ihm. Wei WuXian ging diese beiden Reihen ab und hielt vor einem Paar weiblicher Puppen an. Jede der Papierpuppen sah anders aus. Dennoch schien dieses Paar, als ob sie bewusst zu zwei Zwillingsschwestern gemacht worden waren. Ihr Make-up, ihre Kleidung und ihre Gesichtszüge waren absolut identisch. Mit ihren geschwungenen Brauen und lächelnden Ausdrücken auf dem Gesicht konnte man fast ihr "hee-hee"-Gekicher hören. Sie trugen zwei hochgesteckte Zöpfe, rote Ohrringe, Goldarmbänder und bestickte Schuhe, die dem Paar eines Dienstmädchens aus einer wohlhabenden Familie sehr ähnlich waren.

Wei WuXian, „Wie wäre es mit diesen beiden?“

Er strich leicht mit seiner Hand über das ungeschützte Schwert eines Jungen und verursachte somit einen Schnitt an seinem Daumen. Als er sich umdrehte, schmierte er damit zwei Augenpaare, vier Pupillen, auf die Papierpuppen. Dann machte er einen Schritt zurück. Mit einem schwachen Lächeln rief er aus: „Augen hinter deinen langen Wimpern, die Lippen trennen sich, lächele vor Vergnügen. Kümmere dich nicht um das Gute oder Böse, mit verschmierten Augen beschwöre ich dich.“

Aus heiterem Himmel wehte eine kühle Brise durch das gesamte Geschäft. Die Jungs konnten nicht anders, als sich fest an ihre Schwerter zu klammern. Plötzlich erzitterten die beiden Papierpuppen-Schwestern. Im nächsten Moment erklang das "hee-hee"-Kichern wirklich von ihren hell getönten Lippen!


Es war die Beschwörung der bemalten Augen!

Als ob sie etwas urkomisches gesehen oder gehört hätten, kicherten die beiden Puppen aus Papier unaufhörlich. Gleichzeitig hüpften die mit menschlichem Blut bemalten Pupillen schnell im Inneren des Auges. Der Anblick war wirklich atemberaubend, aber auch wirklich beängstigend. Da er direkt vor ihnen stand, senkte Wei WuXian seinen Kopf zur Begrüßung.

Respektvoll verbeugte sich auch das Puppenpaar aus Papier leicht und bezeugte somit ein höheres Niveau. Wei WuXian zeigte vor die Tür: „Bringt mir die lebende Person dort draußen wieder hinein. Außer ihm dürft ihr alles andere dort draußen eliminieren.“

Schrilles Gelächter kam aus den Mündern der Papierpuppen. Eine unheimliche Windböe warf die Türen auf! Seite an Seite fegten die beiden Papierpuppen nach draußen und in den Kreis der wandelnden Leichen. Es war unglaublich, obwohl es sich um Puppen aus Papierstücken handelte, dass sie solch starke Kräfte hatten. Mit zierlichen Schuhen und wehenden Ärmeln trennten sie den Arm einer Leiche mit nur einem Hieb ihrer Hand ab, während die andere den halben Kopf einer anderen Leiche spaltete - es war, als ob die Papierhüllen zu scharfen Klingen verarbeitet worden wären. Das kokette Kichern hallte weiter über die gesamte Länge der Straße, was sowohl Entsetzen als auch Verlockung hervorrief.

Bald darauf waren die fünfzehn oder sechzehn wandelnden Leichen in zerhackte Stückchen geschnitten worden, die überall auf dem Boden verteilt lagen! Die beiden Papiermädchen errangen einen vollständigen Sieg. Sie gehorchten dem Befehl und trugen den geschwächten Flüchtling ins Innere. Dann, als sie wieder nach draußen sprangen, schloss sich die Tür von selbst.

Jeder von ihnen bewachte eine Seite des Eingangs, als wären sie Löwenstatuen, die ein Heiligtum bewachten und beruhigten sich schließlich. Die Jünger im Raum waren sprachlos schockiert. Sie hatten bislang nur Beschreibungen solcher unsachgemäßer Kultivierungsmethoden in Büchern gesehen oder von ihren Senioren gehört. Damals konnten sie es nicht verstehen, Wenn diese Methoden so unangemessen sind, warum wollen dann so viele Menschen sie noch erlernen? Warum sollte der YiLing Patriarch dann noch so viele Nachahmer haben?

Und jetzt, nachdem sie es mit eigenen Augen gesehen hatten, erkannten sie schließlich die Faszination für diese Art von Praktiken. Außerdem war dies nur die Spitze des Eisbergs - die 'Beschwörung der bemalten Augen'. Nachdem die Jungs also über das Problem des anfänglichen Schocks hinweggekommen waren, gab es keine Anzeichen mehr von Ablehnung auf ihren Gesichtern, sondern eher Aufregung, die nicht verborgen werden konnte. Sie fühlten, dass das hier ihre Erfahrungen bereicherte und ihnen in Zukunft mehr Gespräche zwischen ihren Junioren und ihnen ermöglichen würde. Jin Ling war der Einzige, der nicht so gut aussah.

Lan SiZhui ging zu Wei WuXian hinüber, um ihm mit dem Fremden zu helfen. Wei WuXian sprach: „Niemand kommt näher. Achtet darauf, dass ihr nicht mit dem Leichenvergiftungspulver in Kontakt kommt. Es ist möglich, dass es euch sogar über den Körperkontakt vergiften kann.“

Als der Mann von den Papierpuppen hineingetragen worden war, war er bereits in einem Zustand von Halbbewusstsein, was den Eindruck erweckte, als ob nur noch wenig Energie in ihm übrig wäre. Jetzt schien aber sein Verstand wieder etwas klarer geworden zu sein. Er hustete ein paar Mal und bedeckte seinen Mund mit seiner Hand, als ob er versuchte, zu verhindern, dass irgendein Pulver, das er ausgehustet hatte, andere Menschen beeinträchtigte. Er sprach in einem tiefen Ton: „Wer seid ihr?“

Die Stimme klang extrem müde. Er stellte die Frage nicht nur, weil er nicht wusste, wer die Leute im Raum waren, sondern auch, weil er nichts sehen konnte. Eine dicke Schicht weißer Verbände umwickelte die Augen des Mannes. Er war wahrscheinlich blind. Und ganz zu schweigen davon, dass er nicht nur blind sondern auch relativ gut aussehend war. Mit hohem Nasenrücken und dünnen Lippen, die den Farbton eines weichen Rottons hatten, konnte er fast als attraktiv bezeichnet werden. Er sah auch ziemlich jung aus, irgendwo zwischen einem Jungen und einem Mann, was ihm natürlich die Vorteile der Sympathie von jedem, dem er begegnete, einbrachte. Wei WuXian fragte sich selbst: Warum treffe ich in den letzten Tagen so viele blinde Menschen? Beides gehört und gesehen; beides lebendig und tot.

Plötzlich rief Jin Ling aus: „Hey. Wir wissen immer noch nicht, wer er ist, ob er ein Freund oder ein Freund ist. Warum sollten wir ihn ohne Rückversicherung retten? Wenn er ein Bösewicht ist, würden wir dann nicht die Schlange ins Haus lassen?“

Obwohl dies in der Tat der Fall war, klang es ziemlich unangenehm, wenn es in einer so direkten Art angesprochen wurde und dann noch in einem Ton direkt vor der Person selbst. Seltsamerweise schien die Person darüber nicht wütend noch besorgt darüber zu sein, dass man ihn wieder vor die Tür setzen würde. Er lächelte und enthüllte die kleinen Spitzen von zwei Eckzähnen, „Junger Meister, du hast völlig Recht. Es wäre das Beste, wenn ich gehe.“

Da Jin Ling diese Art von Reaktion überhaupt nicht erwartet hatte, hielt er eine Sekunde inne. Ohne eine Ahnung, was er nun sagen sollte, schnaubte er hastig. Lan SiZhui beeilte sich, um zwischen den beiden zu vermitteln: „Aber es ist auch möglich, dass er kein schlechter Mensch ist. Egal was nun ist, einem sterbenden Menschen nicht zu helfen, ist gegen die Regeln unserer Sekte.“

Jin Ling fuhr hartnäckig fort: „Gut. Ihr seid die Guten. Wenn jemand stirbt, ist es nicht mein Fehler.“

Lan JingYi kochte, „Du....“

Noch bevor er seinen Satz beenden konnte, war es, als ob er seine Zunge verschluckt hätte. Das lag daran, weil er das Schwert gesehen hatte, mit dem sich der Mann gegen den Tisch stützte. Das schwarze Tuch, womit es zuvor umwickelt worden war, war etwas abgefallen, und der Körper des Schwertes war zu sehen.

Das Schwert war mit unvergleichlicher Geschicklichkeit geschmiedet worden. Die Hülle war in der Farbe von Bronze, mit einem komplizierten Muster von Frostkristallen, die darin ausgehöhlt waren. Durch dieses Muster konnte man den Körper des Schwertes durchleuchten sehen, als ob es aus Silbersternen bestehen würde, die mit schneeflockenförmigen Flecken erstrahlten. Es lag ein reiner, aber strahlender Sinn für Schönheit darin. Lan JingYi weitete seine Augen, als wolle er etwas ausplaudern. Auch wenn Wei WuXian nicht wusste, was er sagen wollte, da der Mann sein Schwert mit dem schwarzen Stoff bedeckte, als wollte er eindeutig nicht, dass jemand es sah. Instinktiv, da er den Fremden nicht alarmieren wollte, bedeckte er mit einer Hand Lan JingYis Mund und legte den Zeigefinger seiner anderen Hand auf seine eigenen Lippen, was den anderen erstaunten Jungen signalisieren sollte, keine Geräusche zu machen.

Jin Ling sprach zwei Silben in seine Richtung, dann benutzte er seine Hand, um die beiden Schriftzeichen auf den staubigen Tisch zu schreiben:
'Shuanghua'

...das Shuanghua-Schwert?

Wei WuXian bewegte seine Lippen, ohne einen Ton zu sprechen, Xiao XingChens Schwert – dieses Shuanghua?

Jin Ling und der Rest nickten zur Bestätigung. Die Jungs hatten Xiao XingChen nie selbst gesehen, aber 'Shuanghua' war beides, einmalig als auch bekannt. Es war nicht nur stark in der spirituellen Kraft, sondern sah auch atemberaubend kompliziert aus. Es war in unzähligen Versionen von Schwertkatalogen illustriert worden, weshalb jeder von ihnen davon wusste. Wei WuXian dachte nach: Wenn das Schwert Shuanghua ist und die Person blind ist....

Einer der Jungs dachte wohl auch daran. Er konnte nicht anders, als nach den Verbänden zu greifen, die um die Augen der Person gewickelt waren, in der Hoffnung, sie auszuziehen, damit er sehen konnte, ob seine Augen noch da waren oder nicht. Doch gerade als seine Hand die Verbände berührte, erschien ein schmerzhafter Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes. Er schob sich leicht nach hinten, so als hätte er Angst davor, dass seine Augen berührt würden. Als der Junge seine eigene Unhöflichkeit bemerkte, nahm er sofort seine Hand weg: „Tut mir leid, tut mir leid.... Es war nicht absichtlich.“

Die Person hob ihre linke Hand, die einen dünnen, schwarzen Handschuh trug. Er wollte sich die Augen verdecken, aber er hatte wohl Angst davor. Es lag wahrscheinlich daran, dass schon eine leichte Berührung zu unerträglichen Schmerzen führte - eine dünne Schweißschicht war bereits auf seiner Stirn aufgetreten. Er versuchte mit diesen Schwierigkeiten zurechtzukommen, „Es ist in Ordnung....“

Seine Stimme zitterte jedoch schwach. Bei einem solchen Verhalten konnte man fast darauf schließen, dass es sich bei dieser Person um Xiao XingChen handelte, der seit dem Fall des YueyangChang-Clans verschwunden war. Xiao XingChen wusste nicht, dass seine Identität noch nicht gelüftet war. Nachdem die Schmerzen abgeklungen waren, tastete er suchend nach Shuanghua. Wei WuXian zog schnell das schwarze Tuch, das herunter gerutscht war, wieder darüber. Mit Shuanghua in der Hand nickte Xiao XingChen: „Danke für eure Hilfe. Ich gehe jetzt besser.“

Wei WuXian, „Bleib vorerst hier. Du hast eine Leichenvergiftung.“

Xiao XingChen, „Ist das sicher?“

Wei WuXian, „Ziemlich sicher.“

Xiao XingChen, „Wenn es sicher ist, was bringt es dann noch zu bleiben? Ich bin lange über meine Hoffnungen hinaus. Warum dann nicht noch ein paar Leichen töten, bevor ich auch zu einer werde?“

Als sie hörten, wie er sich nicht um sein eigenes Leben kümmerte, spürten die Jungen, wie ihr Blut vor Entrüstung brannte. Aus Lan JingYi brach es heraus: „Wer hat gesagt, dass du lange über die Hoffnung hinaus bist? Bleibt hier! Er wird dich heilen!“

Wei WuXian, „Ich? Tut mir leid, aber hast du von mir gesprochen?“

Er konnte wirklich nicht die Wahrheit sprechen - Xiao XingChen hatte bereits viel zu viel von dem Leichenvergiftungspulver eingeatmet. Mit dieser dunkelroten Färbung seines Teints war er höchstwahrscheinlich schon zu krank, als dass Reis als Heilmittel geeignet war. Xiao XingChen, „Ich habe bereits eine ganze Reihe von Leichen in dieser Stadt getötet. Sie folgten mir und neue folgten auf diese, kurz nachdem die alten starben. Wenn ich bleibe, dann werdet ihr hier früher oder später in einem Meer aus Leichen ertrinken.“

Wei WuXian, „Weißt du, warum das hier in der Stadt Yi passiert ist?“

Xiao XingChen schüttelte den Kopf, „Nein. Ich bin nur ein reisender Kulti.... Reisender, der durch die Gegend streift. Ich hörte von den seltsamen Ereignissen hier und beschloss, in dieser Stadt nachts zu jagen. Du glaubst gar nicht wie viele, wie mächtig die hier lebenden und wandelnden Leichen sind. Einige bewegen sich so schnell, dass du nicht einmal Vorsichtsmaßnahmen treffen kannst. Andere, wenn sie getötet wurden, geben dieses Leichenvergiftungspulver frei, das schon bei Berührung giftig für die Menschen ist. Wenn du sie jedoch nicht tötest, dann stürzen sie sich auf dich und greifen an. Beides führt zu Vergiftungen, was den Umgang mit ihnen wirklich schwierig macht. Nach euren Stimmen zu urteilen, gibt es einige junge Meister in eurer Gruppe, richtig? Es wäre am besten, wenn ihr so schnell wie möglich von hier verschwindet.“

Gerade als er seinen Satz beendete, kam das finstere Kichern der Papierpuppen-Schwestern von vor der Tür. Diesmal war das Lachen schärfer denn je.




Informationen
Qiao: Dies wurde in der Vergangenheit bereits erwähnt. Falls du unter Gedächtnisverlust leidest: Es handelt sich um die sieben Öffnungen am Kopf eines Menschen (Nase, Ohren, Augen, Mund)
Beschwörung von bemalten Augen: Dies ist auf die Geschichte eines Mannes zurückzuführen, der auf seinen Bildern den Drachen Pupillen in die Augen malte, und daraufhin wurden die Drachen lebendig. Die Beschwörung ist hier zum Teil abgeleitet von He SiChengs Gedicht – Das Treffen einer Schönheit in Nanyuan. Da er kein bekannter Poet ist und es sich um ein relativ unbekanntes Gedicht handelt, gibt es bislang noch keine Übersetzungen in eine andere Sprache, weswegen hier die Übersetzung auch nicht zu 100% passend ist.



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