Kapitel
36: Gras – Teil Vier
Wer ist da vor der Tür? Klopfender Bambus
Jin Ling und
die Jungen innerhalb der Gruppe hatten das Gefühl, dass ihnen ihre
Herzen gleich aus ihren Brustkörben springen würden, während sie
befürchteten, dass Wei WuXian etwas zugestoßen sein könnte, als er
nach draußen geschaut hatte und nun mit einer Hand die Augen
bedeckend auf den Boden gesunken war. Als dann auch noch ein
gehauchtes Ah erklang, setzten bei einigen der Jungen gar die
Herzschläge aus. Sogar die Haare schienen bei manch einem hoch zu
stehen, „Was? Ist etwas passiert?!“
Wei WuXian
sprach so leise wie möglich: „Shh. Nicht reden. Ich schaue es mir
an.“
Jin Ling
senkte seine Stimme, so dass sie noch leiser war als die von Wei
WuXian, „Was hast du gesehen? Was ist das für ein Ding vor der
Tür?“
Wei WuXian
wandte weder seinen Blick ab noch gab er eine klare Antwort:
„Hmmm.....Ja.... Das ist unglaublich. Wirklich erstaunlich.“
Der
Ausdruck, den man von der Seite seines Gesichts aus sehen konnte,
schien von Freude erfüllt zu sein, und beides, sein Lob und sein
Ausruf klangen, als kämen sie von ganzem Herzen. Die Neugierde der
Schüler überstieg sofort ihre Nervosität. Lan SiZhui konnte nicht
anders, als zu fragen, „... Senior Mo, was ist wirklich
erstaunlich?“
Wei WuXian,
„Wow! Es ist so schön. Seid still, Jungs. Scheucht es mir nicht
weg. Ich bin noch nicht fertig damit, es mir näher anzusehen.“
Jin Ling,
„Beweg dich! Ich will es sehen.“
„Ich
auch!“
Wei WuXian,
„Seid ihr sicher?“
„Ja!“
Wei WuXian
nahm sich Zeit, um zur Seite zu treten, als ob er nicht bereit wäre
zu gehen. Jin Ling war der Erste, der herüberkamen. Er blickte nach
draußen durch den dünnen Schlitz zwischen den Holzlatten. Es war
schon Nacht. In dieser kalten Atmosphäre hatte sich selbst der Nebel
in der Stadt Yi etwas aufgelöst, so dass man gerade etwas von der
Straße bis auf wenige Meter Entfernung sehen konnte. Jin Ling
starrte für eine Weile nach draußen. Da er das 'erstaunliche',
'hübsche' Ding nicht fand, war er ziemlich enttäuscht, und dachte
bei sich selbst, Ich habe es doch jetzt nicht verjagt, weil ich
geredet habe, oder?
Gerade als
er es aufgeben wollte, blitzte eine kleine, gebückte Gestalt
plötzlich vor dem Schlitz auf. Nachdem er das gesamte
Erscheinungsbild der Entität ohne jegliche Vorwarnung gesehen hatte,
kribbelte Jin Lings Kopfhaut von dem Schock. Er hätte fast
aufgeschrien, aber irgendwie war es ihm gelungen, den Ausruf noch in
seiner Brust zu unterdrücken, und er schaffte es tatsächlich, still
zu bleiben in seiner steifen, gebogenen Haltung. Nachdem das Kribbeln
über seinem Kopf vorüber war, wandte er sich trotz allem von selbst
an Wei WuXian. Wei WuXian, der die Wurzel dieser ganzen Aufregung
war, lehnte am Rahmen des Fensters neben der Tür. Mit einem
Mundwinkel, der sich nach oben zog, hob er seine Augenbrauen an und
schenkte Jin Ling ein amüsiertes Lächeln, „Sieht es nicht schön
aus?“
Jin Ling
starrte ihn an. In dem Wissen, dass er sich absichtlich über sie
lustig gemacht hatte, biss Jin Ling die Zähne zusammen, „...
Ja...“
Mit einem
Sinneswandel richtete er sich auf und antwortete beiläufig: „Es...
es ist bestenfalls normalerweise so, dass die kaum einen Blick wert
sind!“
Nach dem
Kommentar ging er zur Seite und wartete darauf, dass der Nächste
hereingelegt wurde. Ihre täuschenden Worte brachte die Neugierde im
Rest der Gruppe auf einem Höhepunkt. Lan SiZhui konnte sich selbst
nicht davon abhalten, still zu bleiben und näherte sich auch dem
Ort. Gerade als sich seine Augen dem Schlitz näherten, entkam ihm
ein "ah!", aber dieses spiegelte im Gegensatz zu den beiden
vorherigen sein ehrliches Empfinden wieder. Mit der Panik ins Gesicht
geschrieben, war er im Schock nach hinten gesprungen. Er fand erst
Blickkontakt mit Wei WuXian, nachdem er sich einige Male schwindelig
umher gedreht hatte und beschwerte sich dann: „Senior Mo! Da ist
ein.... ein...“
Wei WuXian
antwortete mit absoluter Ernsthaftigkeit: „Da ist Ein, richtig? Du
musst es nicht laut aussprechen, sonst wäre es keine angenehme
Überraschung mehr für die anderen. Jeder soll es sich selbst
ansehen.“
Nun war es
jedoch für die anderen unmöglich, es noch zu wagen, hinüberzugehen,
nachdem sie Lan SiZhuis verängstigten Zustand gesehen hatten. Eine
angenehme Überraschung sollte dies sein? Wohl eher ein böser
Schrecken. Alle winkten mit den Händen ablehnend ab, „Nein danke.
Nein, danke.“
Jin Ling
spuckte aus: „Die Situation ist schon so und du spielst hier immer
noch Streiche. Was um alles in der Welt denkst du dir dabei?“
Wei WuXian,
„Du hast doch gerade auch mitgemacht, nicht wahr? Imitiere nicht
den Ton deines Onkels. SiZhui, war es beängstigend?“
Lan SiZhui
nickte gehorsam, „Ja.“
Wei WuXian,
„Das ist gut. Dies ist eine ausgezeichnete Gelegenheit für eure
Kultivierung. Warum erschrecken Geister die Leute? Nun, weil, wenn
die Menschen Angst haben, dann verblasst ihr Bewusstsein, während
ihre spirituelle Energie aufsteigt, was es dann wiederum einfach
macht, ihre Yang-Energie herauszusaugen. Das ist der Grund, warum
Geister die meiste Angst vor denjenigen haben, die furchtlos sind und
die keine Angst vor ihnen haben. Dort gibt es für sie keine
Gelegenheit dazu, also gibt es nichts, was Geister mit ihnen machen
können. Daher ist es das wichtigste Ziel für die Jünger des
Kultivierungsweges, mutiger zu werden!“
Froh, dass
er aufgrund seiner Bewegungsunfähigkeit keinen neugierigen Blick
nach draußen hatte werfen können, murmelte Lan JingYi, „Tapferkeit
und Mut wird bei der Geburt bestimmt. Was kann man da schon tun, wenn
man als Feigling geboren wurde?“
Wei WuXian,
„Wurdest du mit dem Wissen geboren, wie man auf Schwertern fliegt?
Die Leute wissen nur, wie man etwas macht, nachdem sie es immer und
immer wieder geübt haben. Ebenso können sich die Menschen an die
Dinge gewöhnen, vor denen sie Angst haben. Stinkt das Nebengebäude?
Ist es ekelhaft? Vertrau mir, wenn du einen Monat lang in einem
solchen Nebengebäude lebst, dann wirst du sogar in der Lage sein,
deine Mahlzeiten da drin zu essen.“
Die Jungs
waren vollkommen schockiert. Sie lehnten diese Erklärung unisono ab:
„Nein, das kannst du nicht! Das ist unmöglich!!!!!“
Wei WuXian,
„Das war nur ein Beispiel. Okay, ich gebe zu, dass ich noch nie in
einem Nebengebäude gelebt habe. Ich weiß nicht, ob du wirklich da
drin essen kannst. Ich habe keine Beweise. Doch ihr müsst es mit dem
vor der Tür versuchen. Ihr müsst es euch nicht nur ansehen, sondern
ihr solltet auch genau hinsehen. Achtet auch auf die Details. Findet
aus diesen Details in kürzester Zeit die versteckten möglichen
Schwächen heraus. Ihr müsst die Situation ruhig angehen und nach
Chancen für einen Gegenangriff suchen. In Ordnung, habe ich nun
genug gesagt, damit ihr es versteht? Die wenigsten Leute hatten je
die Gelegenheit von mir etwas zu lernen. Nutzt es aus. Niemand bewegt
sich weiter weg. Bildet nun eine Reihe, bitte. Schaut euch das einer
nach dem anderen an.“
„.. Müssen
wir das wirklich?“
Wei WuXian,
„Natürlich. Ich scherze nie herum. Ich lege auch keine Leute
herein. Fangen wir mit JingYi an. Sowohl Jin Ling als auch SiZhui
haben beide schon geguckt.“
Lan JingYi,
„Was? Ich muss doch nicht schauen, oder? Menschen mit
Leichenvergiftung dürfen sich nicht bewegen. Das hast du selbst
gesagt.“
Wei WuXian,
„Lass mich mal deine Zunge sehen. Ah.“
Lan JingYi,
„Ah.“
Wei WuXian,
„Herzlichen Glückwunsch. Du bist geheilt. Mache mutig deinen
ersten Schritt nach vorne. Komm schon!“
Lan JingYi,
„Ich bin schon geheilt?! Du machst Witze, oder?!“
Nachdem
seine Proteste allesamt abgelehnt worden waren, blieb ihm nichts
anderes übrig, als zum Fenster zu gehen. Er sah einmal hinaus, dann
schaute er weg. Er schaute noch einmal hinaus, dann sah er wieder
weg. Wei WuXian klopfte auf das Brett: „Wovor hast du Angst? Ich
stehe doch hier. Es wird nicht durch das Brett durchbrechen,
geschweige denn deine Augäpfel oder so auffressen.“
Lan JingYi
sprang zurück, „Ich bin fertig mit Suchen!“
Es folgte
mit jedem, der danach an der Reihe war, ein scharfes, verängstigtes
Einatmen. Nachdem alle einmal hinausgesehen hatten, sprach Wei WuXian
wieder, „Alle fertig mit gucken? Dann erzählt nun ein jeder in der
Gruppe, was für Details ihm aufgefallen sind. Das fassen wir dann
zusammen.“
Jin Ling
riss sich förmlich darum, als Erster sprechen zu dürfen: „Weiße
Augen. Weiblich. Klein und dünn. Zierliche Gestalt. Hält ein
Bambusrohr.“
Lan SiZhui
dachte für einen Moment nach: „Die Größe des Mädchens reicht
bis an meine Brust. Sie trägt nur Lumpen und sieht nicht allzu
sauber aus, angezogen wie ein Bettler, der durch die Straßen
streift. Der Bambusstab scheint ein weißer Rohrstock zu sein. Es ist
möglich, dass ihre weißen Augen nicht erst nach dem Tod gebildet
wurden, sondern weil sie, bevor sie starb, bereits blind war.“
Wei WuXian
kommentierte: „Jin Lings Aussage hatte mehr Quantität, während
SiZhuis mehr Qualität hatte.“
Jin Lings
Lippen zuckten unzufrieden. Ein Junge sagte: „Das Mädchen ist nur
etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Sie hat ein ovales Gesicht,
mit einem rosigen Hauch über ihren zarten Gesichtszügen. Sie hat
ihre langen Haare mit einer hölzernen Haarnadel, an deren Ende ein
kleiner Fuchskopf geschnitzt ist, hochgesteckt. Sie ist nicht nur
klein - ihre Figur ist auch sehr schlank. Obwohl sie nicht so
ordentlich ist, ist sie auch nicht schmutzig. Nach ein wenig Pflege
und Wasser wäre sie ein reizendes Mädchen und eine gute Partie.“
Als Wei
WuXian dies hörte, spürte er sofort, dass dieser Junge eine sehr
vielversprechende Zukunft haben würde. Er lobte energisch: „Gut
gemacht, gut gemacht. Die Beobachtungen sind sowohl detailliert als
auch einzigartig. Kind, du wirst definitiv der empfindsame Typ sein,
wenn du groß bist.“
Der Junge
errötete und drehte sich zur Wand und ignorierte das Lachen seiner
Kollegen. Noch ein Junge sprach: „Es sieht so aus, als ob die
Geräusche des Bambusrohres, das auf den Boden klopft, nur zu hören
sind wenn sie geht. Wenn sie blind gewesen ist, bevor sie starb, dann
war sie nicht in der Lage zu sehen, wohin sie geht und kann es auch
jetzt nicht, nachdem sie ein Geist geworden ist, also kann sie sich
nur auf den weißen Rohrstock verlassen.“
Ein anderer
der Jungen argumentierte: „Aber wie ist das möglich? Ihr habt alle
schon einmal blinde Menschen gesehen, nicht wahr? Da sie ihre Augen
nicht benutzen können, bewegen und gehen sie langsam, für den Fall,
dass sie gegen etwas stoßen könnten. Wie auch immer, der Geist vor
der Tür macht jedoch schnelle Bewegungen. Ich habe noch nie zuvor
einen so wendigen Blinden gesehen.“
Wei WuXian
lächelte: „Gute Arbeit. Respekt, dass du darüber nachgedacht
hast. Genau so sollte man so etwas analysieren. Verzichtet nicht auf
Verdachtsmomente. Nun, laden wir sie ein, hereinzukommen, um uns
einige Antworten zu geben.“
Sobald er
seinen Satz beendet hatte, nahm er sofort eines der Bretter ab. Nicht
nur die
Jungen
drinnen, auch der Geist vor dem Fenster sprang erschrocken zurück
aufgrund dieser plötzlichen Bewegung, und hob vorsichtig den
Bambusstab.
Wei WuXian
begrüßte zuerst den Geist und fragte dann: „Junges Fräulein,
hast du hier etwas zu erledigen, nachdem du uns den ganzen Weg
hierher gefolgt bist?“
Die Augen
des Mädchens wurden groß. Wenn sie noch ein lebendiger Mensch
gewesen wäre, dann hätte sie nun so bezaubernd wie nur irgend
möglich ausgesehen. Doch ohne Pupillen und nur zwei
durchschimmernden, roten Adern, die von ihren Augen ausgingen, ließ
es sie erschreckender denn je aussehen. Einige der Jungen im
Hintergrund schnappten nach Luft. Wei WuXian tröstete sie: „Wovor
habt ihr Angst? Ihr solltet euch daran gewöhnen, denn ihr werdet
noch einige Leute aus ihren sieben Qiao bluten sehen in Zukunft. Es
sind nur zwei der sieben, die derzeit bluten. Ihr könnt damit nicht
umgehen? Deshalb sage ich euch, ihr solltet mehr erleben und euch
abhärten.“
Zuvor war
das Mädchen irritiert vor ihrem Fenster auf und ab gelaufen und
hatte mit ihrer Stange auf dem Boden geklopft, mit den Füßen
gestampft, alle angestarrt und mit den Armen herum gewunken. Jetzt
aber veränderte sich ihre Handlungen. Sie gestikulierte, als wollte
sie etwas ausdrücken. Jin Ling fragte sich: „Seltsam. Kann sie
nicht reden?“
Als sie das
hörte, hielt der Geist des Mädchens inne und öffnete dann ihren
Mund. Aus ihrem leeren Mund strömte Blut. Ihre Zunge war ihr von
ihrer Wurzel an herausgerissen worden. Die Jünger waren mit
Gänsehaut bedeckt, aber sie empfanden alle Mitgefühl, Das war
der Grund, warum sie nicht sprechen konnte. Sowohl blind als auch
stumm - wie bedauerlich.
Wei WuXian,
„Benutzt sie Zeichensprache? Versteht das jemand?“
Niemand
verstand sie. Das Mädchen war so aufgewühlt, dass sie mit den Füßen
stampfte und ihre Stange benutzte, um auf dem Boden zu schreiben und
zu kritzeln. Dennoch war sie eindeutig nicht aus einer angesehenen
und somit gebildeten Familie. Sie war Analphabetin und konnte somit
nichts schreiben. Mit nur einer Reihe von Strichmännchen konnte
niemand verstehen, was sie versuchte, ihnen zu sagen.
Plötzlich
erklangen vom anderen Ende der Straße die sprintenden Schritte und
der keuchende Atem eines Menschen. Der Geist des Mädchens verschwand
plötzlich. Sie würde wahrscheinlich wiederkommen, also war Wei
WuXian deswegen nicht beunruhigt. Er setzte schnell das Brett zurück
und fuhr damit fort, durch den Schlitz nach draußen zu schauen. Der
Rest der Jünger wollte die Situation dort draußen auch sehen, und
daher rückten sie alle dicht beisammen an der Tür. Somit entstand
eine Reihe von Köpfen, die von oben nach unten gestapelt waren und
die gesamte Fläche der Tür blockierten.
Obwohl sich
der Nebel für eine Weile verdünnt hatte, begann er in diesem Moment
wieder dichter zu werden. Eine Gestalt brach ungeschickt durch den
Nebel und eilte hinüber. Die Person war schwarz gekleidet. Als ob er
verletzt worden wäre, taumelte er, während er rannte. Ein Schwert
hing an seiner Taille, das ebenfalls mit schwarzem Stoff umhüllt
war. Lan JingYi flüsterte: „Ist das dieser Totengräber?“
Lan SiZhui
flüsterte zurück: „Wahrscheinlich nicht. Der nebulöse Mann
bewegte sich im Gegensatz zu dieser Person ganz anders.“
Eine Gruppe
von wandelnden Leichen verfolgte die Person. Sie bewegten sich
schnell und holten ihn bald ein. Die Person stellte sich ihren
Angriffen, indem sie ihr Schwert aus der Scheide zog. Sein helles,
klares Schwert schnitt blendend durch den Nebel. Wei WuXian jubelte
leise, Was für ein guter Zug!
Nach dem
Angriff ertönte jedoch wieder das seltsame, aber vertraute Geräusch
von Spritzern. Das schwarz-rote Pulver schoss aus den abgetrennten
Gliedmaßen der Leichen. Die Person war plötzlich davon umgeben. Da
er sich nirgendwo verstecken konnte, stand er da, wo er war, und
wurde sofort von dem Pulver verschlungen. Lan SiZhui war von der
Szene schockiert. Er forderte mit gedämpfter Stimme: „Senior Mo,
dieser Mann, wir....“
Eine weitere
Gruppe von wandelnden Leichen ging hinüber und umzingelte die
Person. Der Kreis um ihn zog sich immer weiter zusammen. Sein Schwert
schlug wieder zu, was noch mehr Leichenvergiftungspulver verteilte.
Er atmete dadurch auch mehr von dem Pulver ein und es sah so aus, als
würde er anfangen, sein Gleichgewicht zu verlieren. Wei WuXian
sagte: „Wir müssen ihm helfen.“
Jin Ling,
„Wie willst du ihm helfen? Wir können jetzt nicht da rüber gehen.
Das Leichenvergiftungspulver ist überall. Du wirst vergiftet, wenn
du da auch nur in die Nähe gehst.“
Nach einem
Moment des Nachdenkens verließ Wei WuXian das Fenster und ging in
die Mitte der Kammer. Die Jungs konnten nicht anders, als ihm mit den
Augen zu folgen. Verschieden gestaltete Papierpuppen standen
schweigend in zwei Reihen vor ihm. Wei WuXian ging diese beiden
Reihen ab und hielt vor einem Paar weiblicher Puppen an. Jede der
Papierpuppen sah anders aus. Dennoch schien dieses Paar, als ob sie
bewusst zu zwei Zwillingsschwestern gemacht worden waren. Ihr
Make-up, ihre Kleidung und ihre Gesichtszüge waren absolut
identisch. Mit ihren geschwungenen Brauen und lächelnden Ausdrücken
auf dem Gesicht konnte man fast ihr "hee-hee"-Gekicher
hören. Sie trugen zwei hochgesteckte Zöpfe, rote Ohrringe,
Goldarmbänder und bestickte Schuhe, die dem Paar eines
Dienstmädchens aus einer wohlhabenden Familie sehr ähnlich waren.
Wei WuXian,
„Wie wäre es mit diesen beiden?“
Er strich
leicht mit seiner Hand über das ungeschützte Schwert eines Jungen
und verursachte somit einen Schnitt an seinem Daumen. Als er sich
umdrehte, schmierte er damit zwei Augenpaare, vier Pupillen, auf die
Papierpuppen. Dann machte er einen Schritt zurück. Mit einem
schwachen Lächeln rief er aus: „Augen hinter deinen langen
Wimpern, die Lippen trennen sich, lächele vor Vergnügen. Kümmere
dich nicht um das Gute oder Böse, mit verschmierten Augen beschwöre
ich dich.“
Aus heiterem
Himmel wehte eine kühle Brise durch das gesamte Geschäft. Die Jungs
konnten nicht anders, als sich fest an ihre Schwerter zu klammern.
Plötzlich erzitterten die beiden Papierpuppen-Schwestern. Im
nächsten Moment erklang das "hee-hee"-Kichern wirklich von
ihren hell getönten Lippen!
Es war die
Beschwörung der bemalten Augen!
Als ob sie
etwas urkomisches gesehen oder gehört hätten, kicherten die beiden
Puppen aus Papier unaufhörlich. Gleichzeitig hüpften die mit
menschlichem Blut bemalten Pupillen schnell im Inneren des Auges. Der
Anblick war wirklich atemberaubend, aber auch wirklich beängstigend.
Da er direkt vor ihnen stand, senkte Wei WuXian seinen Kopf zur
Begrüßung.
Respektvoll
verbeugte sich auch das Puppenpaar aus Papier leicht und bezeugte
somit ein höheres Niveau. Wei WuXian zeigte vor die Tür: „Bringt
mir die lebende Person dort draußen wieder hinein. Außer ihm dürft
ihr alles andere dort draußen eliminieren.“
Schrilles
Gelächter kam aus den Mündern der Papierpuppen. Eine unheimliche
Windböe warf die Türen auf! Seite an Seite fegten die beiden
Papierpuppen nach draußen und in den Kreis der wandelnden Leichen.
Es war unglaublich, obwohl es sich um Puppen aus Papierstücken
handelte, dass sie solch starke Kräfte hatten. Mit zierlichen
Schuhen und wehenden Ärmeln trennten sie den Arm einer Leiche mit
nur einem Hieb ihrer Hand ab, während die andere den halben Kopf
einer anderen Leiche spaltete - es war, als ob die Papierhüllen zu
scharfen Klingen verarbeitet worden wären. Das kokette Kichern
hallte weiter über die gesamte Länge der Straße, was sowohl
Entsetzen als auch Verlockung hervorrief.
Bald darauf
waren die fünfzehn oder sechzehn wandelnden Leichen in zerhackte
Stückchen geschnitten worden, die überall auf dem Boden verteilt
lagen! Die beiden Papiermädchen errangen einen vollständigen Sieg.
Sie gehorchten dem Befehl und trugen den geschwächten Flüchtling
ins Innere. Dann, als sie wieder nach draußen sprangen, schloss sich
die Tür von selbst.
Jeder von
ihnen bewachte eine Seite des Eingangs, als wären sie Löwenstatuen,
die ein Heiligtum bewachten und beruhigten sich schließlich. Die
Jünger im Raum waren sprachlos schockiert. Sie hatten bislang nur
Beschreibungen solcher unsachgemäßer Kultivierungsmethoden in
Büchern gesehen oder von ihren Senioren gehört. Damals konnten sie
es nicht verstehen, Wenn diese Methoden so unangemessen sind,
warum wollen dann so viele Menschen sie noch erlernen? Warum sollte
der YiLing Patriarch dann noch so viele Nachahmer haben?
Und jetzt,
nachdem sie es mit eigenen Augen gesehen hatten, erkannten sie
schließlich die Faszination für diese Art von Praktiken. Außerdem
war dies nur die Spitze des Eisbergs - die 'Beschwörung der bemalten
Augen'. Nachdem die Jungs also über das Problem des anfänglichen
Schocks hinweggekommen waren, gab es keine Anzeichen mehr von
Ablehnung auf ihren Gesichtern, sondern eher Aufregung, die nicht
verborgen werden konnte. Sie fühlten, dass das hier ihre Erfahrungen
bereicherte und ihnen in Zukunft mehr Gespräche zwischen ihren
Junioren und ihnen ermöglichen würde. Jin Ling war der Einzige, der
nicht so gut aussah.
Lan SiZhui
ging zu Wei WuXian hinüber, um ihm mit dem Fremden zu helfen. Wei
WuXian sprach: „Niemand kommt näher. Achtet darauf, dass ihr nicht
mit dem Leichenvergiftungspulver in Kontakt kommt. Es ist möglich,
dass es euch sogar über den Körperkontakt vergiften kann.“
Als der Mann
von den Papierpuppen hineingetragen worden war, war er bereits in
einem Zustand von Halbbewusstsein, was den Eindruck erweckte, als ob
nur noch wenig Energie in ihm übrig wäre. Jetzt schien aber sein
Verstand wieder etwas klarer geworden zu sein. Er hustete ein paar
Mal und bedeckte seinen Mund mit seiner Hand, als ob er versuchte, zu
verhindern, dass irgendein Pulver, das er ausgehustet hatte, andere
Menschen beeinträchtigte. Er sprach in einem tiefen Ton: „Wer seid
ihr?“
Die Stimme
klang extrem müde. Er stellte die Frage nicht nur, weil er nicht
wusste, wer die Leute im Raum waren, sondern auch, weil er nichts
sehen konnte. Eine dicke Schicht weißer Verbände umwickelte die
Augen des Mannes. Er war wahrscheinlich blind. Und ganz zu schweigen
davon, dass er nicht nur blind sondern auch relativ gut aussehend
war. Mit hohem Nasenrücken und dünnen Lippen, die den Farbton eines
weichen Rottons hatten, konnte er fast als attraktiv bezeichnet
werden. Er sah auch ziemlich jung aus, irgendwo zwischen einem Jungen
und einem Mann, was ihm natürlich die Vorteile der Sympathie von
jedem, dem er begegnete, einbrachte. Wei WuXian fragte sich selbst:
Warum treffe ich in den letzten Tagen so viele blinde Menschen?
Beides gehört und gesehen; beides lebendig und tot.
Plötzlich
rief Jin Ling aus: „Hey. Wir wissen immer noch nicht, wer er ist,
ob er ein Freund oder ein Freund ist. Warum sollten wir ihn ohne
Rückversicherung retten? Wenn er ein Bösewicht ist, würden wir
dann nicht die Schlange ins Haus lassen?“
Obwohl dies
in der Tat der Fall war, klang es ziemlich unangenehm, wenn es in
einer so direkten Art angesprochen wurde und dann noch in einem Ton
direkt vor der Person selbst. Seltsamerweise schien die Person
darüber nicht wütend noch besorgt darüber zu sein, dass man ihn
wieder vor die Tür setzen würde. Er lächelte und enthüllte die
kleinen Spitzen von zwei Eckzähnen, „Junger Meister, du hast
völlig Recht. Es wäre das Beste, wenn ich gehe.“
Da Jin Ling
diese Art von Reaktion überhaupt nicht erwartet hatte, hielt er eine
Sekunde inne. Ohne eine Ahnung, was er nun sagen sollte, schnaubte er
hastig. Lan SiZhui beeilte sich, um zwischen den beiden zu
vermitteln: „Aber es ist auch möglich, dass er kein schlechter
Mensch ist. Egal was nun ist, einem sterbenden Menschen nicht zu
helfen, ist gegen die Regeln unserer Sekte.“
Jin Ling
fuhr hartnäckig fort: „Gut. Ihr seid die Guten. Wenn jemand
stirbt, ist es nicht mein Fehler.“
Lan JingYi
kochte, „Du....“
Noch bevor
er seinen Satz beenden konnte, war es, als ob er seine Zunge
verschluckt hätte. Das lag daran, weil er das Schwert gesehen hatte,
mit dem sich der Mann gegen den Tisch stützte. Das schwarze Tuch,
womit es zuvor umwickelt worden war, war etwas abgefallen, und der
Körper des Schwertes war zu sehen.
Das Schwert
war mit unvergleichlicher Geschicklichkeit geschmiedet worden. Die
Hülle war in der Farbe von Bronze, mit einem komplizierten Muster
von Frostkristallen, die darin ausgehöhlt waren. Durch dieses Muster
konnte man den Körper des Schwertes durchleuchten sehen, als ob es
aus Silbersternen bestehen würde, die mit schneeflockenförmigen
Flecken erstrahlten. Es lag ein reiner, aber strahlender Sinn für
Schönheit darin. Lan JingYi weitete seine Augen, als wolle er etwas
ausplaudern. Auch wenn Wei WuXian nicht wusste, was er sagen wollte,
da der Mann sein Schwert mit dem schwarzen Stoff bedeckte, als wollte
er eindeutig nicht, dass jemand es sah. Instinktiv, da er den Fremden
nicht alarmieren wollte, bedeckte er mit einer Hand Lan JingYis Mund
und legte den Zeigefinger seiner anderen Hand auf seine eigenen
Lippen, was den anderen erstaunten Jungen signalisieren sollte, keine
Geräusche zu machen.
Jin Ling
sprach zwei Silben in seine Richtung, dann benutzte er seine Hand, um
die beiden Schriftzeichen auf den staubigen Tisch zu schreiben:
'Shuanghua'
...das
Shuanghua-Schwert?
Wei WuXian
bewegte seine Lippen, ohne einen Ton zu sprechen, Xiao XingChens
Schwert – dieses Shuanghua?
Jin Ling und
der Rest nickten zur Bestätigung. Die Jungs hatten Xiao XingChen nie
selbst gesehen, aber 'Shuanghua' war beides, einmalig als auch
bekannt. Es war nicht nur stark in der spirituellen Kraft, sondern
sah auch atemberaubend kompliziert aus. Es war in unzähligen
Versionen von Schwertkatalogen illustriert worden, weshalb jeder von
ihnen davon wusste. Wei WuXian dachte nach: Wenn das Schwert
Shuanghua ist und die Person blind ist....
Einer der
Jungs dachte wohl auch daran. Er konnte nicht anders, als nach den
Verbänden zu greifen, die um die Augen der Person gewickelt waren,
in der Hoffnung, sie auszuziehen, damit er sehen konnte, ob seine
Augen noch da waren oder nicht. Doch gerade als seine Hand die
Verbände berührte, erschien ein schmerzhafter Ausdruck auf dem
Gesicht des Mannes. Er schob sich leicht nach hinten, so als hätte
er Angst davor, dass seine Augen berührt würden. Als der Junge
seine eigene Unhöflichkeit bemerkte, nahm er sofort seine Hand weg:
„Tut mir leid, tut mir leid.... Es war nicht absichtlich.“
Die Person
hob ihre linke Hand, die einen dünnen, schwarzen Handschuh trug. Er
wollte sich die Augen verdecken, aber er hatte wohl Angst davor. Es
lag wahrscheinlich daran, dass schon eine leichte Berührung zu
unerträglichen Schmerzen führte - eine dünne Schweißschicht war
bereits auf seiner Stirn aufgetreten. Er versuchte mit diesen
Schwierigkeiten zurechtzukommen, „Es ist in Ordnung....“
Seine Stimme
zitterte jedoch schwach. Bei einem solchen Verhalten konnte man fast
darauf schließen, dass es sich bei dieser Person um Xiao XingChen
handelte, der seit dem Fall des YueyangChang-Clans verschwunden war.
Xiao XingChen wusste nicht, dass seine Identität noch nicht gelüftet
war. Nachdem die Schmerzen abgeklungen waren, tastete er suchend nach
Shuanghua. Wei WuXian zog schnell das schwarze Tuch, das herunter
gerutscht war, wieder darüber. Mit Shuanghua in der Hand nickte Xiao
XingChen: „Danke für eure Hilfe. Ich gehe jetzt besser.“
Wei WuXian,
„Bleib vorerst hier. Du hast eine Leichenvergiftung.“
Xiao
XingChen, „Ist das sicher?“
Wei WuXian,
„Ziemlich sicher.“
Xiao
XingChen, „Wenn es sicher ist, was bringt es dann noch zu bleiben?
Ich bin lange über meine Hoffnungen hinaus. Warum dann nicht noch
ein paar Leichen töten, bevor ich auch zu einer werde?“
Als sie
hörten, wie er sich nicht um sein eigenes Leben kümmerte, spürten
die Jungen, wie ihr Blut vor Entrüstung brannte. Aus Lan JingYi
brach es heraus: „Wer hat gesagt, dass du lange über die Hoffnung
hinaus bist? Bleibt hier! Er wird dich heilen!“
Wei WuXian,
„Ich? Tut mir leid, aber hast du von mir gesprochen?“
Er konnte
wirklich nicht die Wahrheit sprechen - Xiao XingChen hatte bereits
viel zu viel von dem Leichenvergiftungspulver eingeatmet. Mit dieser
dunkelroten Färbung seines Teints war er höchstwahrscheinlich schon
zu krank, als dass Reis als Heilmittel geeignet war. Xiao XingChen,
„Ich habe bereits eine ganze Reihe von Leichen in dieser Stadt
getötet. Sie folgten mir und neue folgten auf diese, kurz nachdem
die alten starben. Wenn ich bleibe, dann werdet ihr hier früher oder
später in einem Meer aus Leichen ertrinken.“
Wei WuXian,
„Weißt du, warum das hier in der Stadt Yi passiert ist?“
Xiao
XingChen schüttelte den Kopf, „Nein. Ich bin nur ein reisender
Kulti.... Reisender, der durch die Gegend streift. Ich hörte von den
seltsamen Ereignissen hier und beschloss, in dieser Stadt nachts zu
jagen. Du glaubst gar nicht wie viele, wie mächtig die hier lebenden
und wandelnden Leichen sind. Einige bewegen sich so schnell, dass du
nicht einmal Vorsichtsmaßnahmen treffen kannst. Andere, wenn sie
getötet wurden, geben dieses Leichenvergiftungspulver frei, das
schon bei Berührung giftig für die Menschen ist. Wenn du sie jedoch
nicht tötest, dann stürzen sie sich auf dich und greifen an. Beides
führt zu Vergiftungen, was den Umgang mit ihnen wirklich schwierig
macht. Nach euren Stimmen zu urteilen, gibt es einige junge Meister
in eurer Gruppe, richtig? Es wäre am besten, wenn ihr so schnell wie
möglich von hier verschwindet.“
Gerade als
er seinen Satz beendete, kam das finstere Kichern der
Papierpuppen-Schwestern von vor der Tür. Diesmal war das Lachen
schärfer denn je.
Informationen
Qiao:
Dies wurde in der Vergangenheit bereits erwähnt. Falls du unter
Gedächtnisverlust leidest: Es handelt sich um die sieben Öffnungen
am Kopf eines Menschen (Nase, Ohren, Augen, Mund)
Beschwörung
von bemalten Augen: Dies ist auf die Geschichte eines Mannes
zurückzuführen, der auf seinen Bildern den Drachen Pupillen in die
Augen malte, und daraufhin wurden die Drachen lebendig. Die
Beschwörung ist hier zum Teil abgeleitet von He SiChengs Gedicht –
Das Treffen einer Schönheit in Nanyuan. Da er kein bekannter Poet
ist und es sich um ein relativ unbekanntes Gedicht handelt, gibt es
bislang noch keine Übersetzungen in eine andere Sprache, weswegen
hier die Übersetzung auch nicht zu 100% passend ist.
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