Kapitel 35: Gras – Teil Drei
Papierpuppengeschäft und klebriger Reisbrei
Er konnte nicht anders,
als seine Hand zu lockern, doch Wei WuXian rettete die Öllampe, kurz
bevor sie auf dem Boden zerschellte. Vollkommen ruhig strich er mit
dem brennenden Feuertalisman in seiner anderen Hand gegen sie, bis
sie aufleuchtete und er sie dann auf den Tisch abstellte: „Frau
Ladenbesitzerin, habt Ihr die gefertigt? Sie sind ziemlich gut
verarbeitet.“
Der Rest erkannte
schließlich, dass die Leute, die im Raum standen, keine echten
Menschen waren, sondern eigentlich nur Puppen aus Papier. Die Köpfe
und Körper der Puppen waren in feinster Handarbeit gefertigt worden,
und hatten die gleiche Größe wie die von echten Menschen. Es gab
Männer, Frauen und sogar Kinder. Alle Männer waren 'Niedrige
Schläger', hergestellt mit großen, robusten Körpern und wütenden
Gesichtsausdrücken. Alle Frauen waren richtige Schönheiten, mit
Haaren, die zu einzelnen oder doppelten Knoten hochgesteckt waren.
Auch wenn sie mit einer leger wirkenden Art von Papierkleidung
bedeckt waren, konnte man doch ihre anmutige Haltung sehen. Die
Muster auf der Kleidung waren fast feiner als die von echter
Brokatkleidung - einige waren mit reichhaltiger, anschaulicher Tinte
gefärbt; andere waren ungefärbt, in einem Aschgrau zurückgelassen.
Auf den Wangen jeder Puppe befanden sich zwei gerötete Striche, um
den rosigen Teint eines lebenden Menschen vorzutäuschen. Allerdings
hatte keiner von ihnen farbige Pupillen - die Augen waren noch völlig
weiß. Je verwegener die Errötung war, desto düsterer schauten sie.
Es gab noch einen
weiteren Tisch im Raum. Auf dem Tisch standen ein paar Kerzenhalter,
alle in jeweils unterschiedlichen Längen zueinander. Wei WuXian
zündete sie nacheinander an, und das gelbe Licht beleuchtete die
meisten Ecken des Hauses. Neben den Papierpuppen gab es auch zwei
Gebinde auf beiden Seiten des Raumes. Papiergold, Geistergeld und
Pagoden waren dort an der Wand entlang aufgetürmt worden.
Jin Ling hatte sein
Schwert bereits leicht herausgezogen. Als er sah, dass es nur ein
Laden war, der Grabbeigaben verkaufte, seufzte er mit dezenter
Erleichterung und steckte sein Schwert wieder ein. In der
Kultivierungswelt, auch wenn ein Kultivierender starb, beschäftigte
sich niemand mit den unheimlichen, chaotischen Trauerfeierlichkeiten
der gewöhnlichen Leute. Da sie so etwas noch nie zuvor gesehen
hatten, sprießte nach der anfänglichen Angst die Neugierde aus
ihren Herzen. Mit einer Haut, die mit Gänsehaut überzogen war,
spürten sie, dass es hier noch aufregender war als auf einer
Nachtjagd nach gewöhnlichen Monstern.
Egal wie dicht der Nebel
war, er konnte nicht in die Häuser sickern. Seitdem sie in die Stadt
Yi gekommen waren, war dies der erste Augenblick, in dem sie sich
gegenseitig in die Gesichter sehen konnten, was ihre Gedanken etwas
ausruhen ließ. Wei WuXian sah, dass sie sich entspannt hatten, und
fragte die alte Frau erneut, „Wäre es möglich, dass wir uns Ihre
Küche leihen?“
Die alte Frau starrte die
Lampe so intensiv an, als ob sie die Anwesenheit von Licht nicht
mögen würde, „Die Küche ist im hinteren Teil. Benutzen Sie sie,
wie Sie wollen.“
Nach ihren Worten wich
sie in einen anderen Raum aus, als ob sie der Pest ausweichen würde.
Sie schlug die Tür so laut zu, dass einige wenige sogar erzitterten.
Jin Ling rief aus: „Mit der Hexe stimmt definitiv etwas nicht!
Du....“
Wei WuXian antwortete:
„Okay. Ruhe. Ich brauche jemanden, der mir hilft. Irgendwelche
Freiwilligen?“
Lan SiZhui beeilte sich
zu sagen, „Ich kann mitkommen.“
Lan JingYi stand noch
immer so gerade da wie ein Stock, „Was soll ich dann tun?“
Wei WuXian, „Bleib
genau da stehen. Beweg dich nicht, wenn ich es dir nicht sage.“
Lan SiZhui folgte Wei
WuXian in die Küche im hinteren Teil des Hauses. Sobald sie
hineingegangen waren, wurden sie fast von einem üblen Gestank
überwältigt. Lan SiZhui hatte noch nie einen so schrecklichen
Geruch gerochen. Obwohl sich sein Kopf drehte, gelang es ihm, sich
selbst davon abzuhalten, wieder nach draußen zu eilen. Jin Ling war
ihnen ebenfalls gefolgt, sprang aber sofort nach seinem Eintritt
wieder nach draußen. Er fächelte in der Luft herum so schnell er
konnte: „Was in aller Welt soll das? Was machst du hier, anstatt
dir etwas auszudenken, wie wir die anderen heilen können?!“
Wei WuXian, „Hmm?
Perfektes Timing. Woher wusstest du, dass ich dich rufen würde? Hilf
mir mal.“
Jin Ling, „Ich bin
nicht hier, um zu helfen! Urgh! Hat hier jemand jemanden getötet,
aber dann vergessen, ihn zu begraben?“
Wei WuXian, „Junge
Herrin Jin, kommst du oder nicht? Wenn du kommst, dann komm rein und
hilf; wenn du nicht kommst, dann geh zurück und sag jemand anderem,
er soll herkommen.“
Jin Ling wurde wütend:
„Wen nennst du hier junge Herrin Jin? Sei vorsichtig, mit dem was
du sagst!“
Er kniff sich in seine
Nase, diskutierte mit sich selbst, ob er bleiben oder gehen sollte,
und schließlich brummte er: „Nun, ich will sehen, was um alles in
der Welt du hier versuchst zu tun.“
Damit stürmte er hinein.
Doch er hatte nicht erwartet, dass Wei WuXian mit einem Knall eine
Tür zu einer im Boden eingelassenen Truhe öffnete, aus der der
Gestank gekommen war. In dieser Truhe befand sich Schinken und
zerlegtes Huhn. Grüne Flecken waren auf dem ehemals roten Fleisch zu
sehen, während sich weiße, gepunktete Maden in diesem Grün wanden.
Jin Ling war gezwungen,
den Raum wieder zu verlassen. Wei WuXian zog die Truhe aus der
Vertiefung und gab sie an ihn weiter, „Wirf es weg. Ist egal,
wohin, solange wir es nicht riechen müssen.“
Mit einem aufgewühlten
Bauch und einem Kopf voller Zweifel brachte Jin Ling die Truhe weg,
so wie es ihm gesagt worden war. Er rieb sich anschließend heftig
die Finger mit einem Taschentuch ab, dann warf er dieses auch weg.
Nachdem er in die Küche zurückgekehrt war, sah er, das Wei WuXian
und Lan SiZhui die Küche mit zwei Eimern Wasser putzten, die sie aus
dem Brunnen im Hinterhof des Hauses geholt hatten. Jin Ling
verlangte: „Was macht ihr da?“
Lan SiZhui wischte
sorgfältig weiter: „Wie du sehen kannst, reinigen wir den
Küchenherd.“
Jin Ling, „Wozu ist es
gut, den Herd zu reinigen? Wir machen doch kein Essen oder so.“
Wei WuXian, „Wer hat
dir denn das gesagt? Wir machen Essen. Du kannst den Staub
wegfegen. Werde alle Spinnweben da oben los.“
Seine Worte klangen so
natürlich, so sicher, dass Jin Ling plötzlich mit einem Besen in
der Hand gehorchte und sich nach den Spinnweben streckte. Je mehr er
sauber machte, desto mehr spürte er, dass etwas nicht stimmte. Als
er schon gerade dabei war, den Staubwedel auf Wei WuXians Kopf zu
werfen, öffnete Wei WuXian eine weitere Kiste, und erschreckte ihn
damit so sehr, dass er schon wieder aus dem Raum flüchtete. Zum
Glück gab es diesmal keinen Gestank. Die drei arbeiteten schnell.
Nach kurzer Zeit sah die Küche ganz anders aus. Das Haus wirkte
endlich etwas lebendiger, nicht mehr gespenstisch und längst
verlassen. In einer Ecke gab es etwas bereits gehacktes Brennholz.
Sie stapelten es in den Herd und entzündeten es mit einem
Feuertalisman. Sie stellten einen großen Topf auf dem Herd ab, den
sie zuvor ausgewaschen hatten und fingen an, darin Wasser zu kochen.
Wei WuXian goss etwas klebrigen Reis aus einem Beutel aus seiner
Tasche, wusch ihn und legte ihn dann in den Topf.
Jin Ling, „Du machst
Reisbrei?“
Wei WuXian, „Uh-huh.“
Jin Ling warf das
Reinigungstuch auf den Boden. Wei WuXian kommentierte: „Sieh dich
an, wie sauer du bist, nur weil du ein bisschen gearbeitet hast? Und
sieh dir SiZhui an. Er arbeitete am Härtesten von uns und hat
bislang noch nicht einmal etwas gesagt. Was ist falsch an Reisbrei?“
Jin Ling, „Was ist
nicht falsch an Reisbrei? Es ist so wässrig und geschmacklos!
Warte.... Ich bin nicht sauer weil etwas mit dem Reisbrei nicht
stimmt!“
Wei WuXian, „Es ist
sowieso nicht für dich.“
Jin Ling war noch
wütender: „Was hast du gesagt? Ich habe hier so lange gearbeitet,
und ich kriege nicht einmal etwas davon?!“
Lan SiZhui, „Junger
Meister Mo, liegt es daran, dass Reisbrei Leichenvergiftungen heilen
kann?“
Wei WuXian lächelte:
„Ja, genau, aber es ist nicht der Reisbrei, der die
Leichenvergiftung heilen kann - es ist der Reis. Das ist
Volksmedizin. Normalerweise trägt man den klebrigen Reis auf die
zerkratzten oder gebissenen Körperteile auf. In Zukunft, wenn ihr
euch jemals wieder in einer solchen Situation befindet, könnt ihr
das ausprobieren. Obwohl es sehr wehtun wird, funktioniert es
definitiv effizient. Aber da sie das Pulver verschluckt haben,
anstatt gekratzt oder gebissen worden zu sein, können wir nur etwas
Reisbrei machen, den sie aufessen müssen.“
Lan SiZhui kam zur
Erkenntnis: „Deshalb wolltest du also in ein Haus, wo noch jemand
drin ist. Nur ein Haus mit jemandem, der darin lebt, könnte eine
Küche haben. Und nur in einer Küche könnte es klebrigen Reis
geben.“
Jin Ling, „Wer weiß,
wie lange dieser Reis hier schon gelegen hat? Kann man den überhaupt
noch essen? Diese Küche wurde seit mindestens einem Jahr nicht mehr
benutzt. Überall ist Staub und das Fleisch war sogar verfault. Sag
mir nicht, dass die Hexe seit einem Jahr nichts gegessen hat. Es ist
unmöglich, dass sie Inedia praktiziert. Wie hat sie also
überlebt?“
Wei WuXian, „Entweder
hier lebt wirklich niemand mehr und sie ist auch nicht diejenige, der
dieses Geschäft gehört.... oder sie braucht ganz einfach nichts
mehr zu essen.“
Lan SiZhui senkte seine
Stimme: „Wenn sie nichts mehr essen muss, dann wäre sie tot. Aber
die alte Frau atmet noch deutlich.“
Wei WuXian rührte mit
einem Löffel lässig im Topf mit dem Reisbrei herum und mischte aus
verschiedenen Flaschen und Gläsern noch die Zutaten rein, „Richtig.
Du hast eben noch nicht zu Ende erzählt. Warum seid ihr zusammen in
die Stadt Yi City gekommen? Es war kein Zufall, dass ihr euch zuerst
getroffen habt und dann uns, oder?“
Der Ausdruck der Jungen
wurde sofort ernst. Jin Ling antwortete: „Ich, die Jungs aus der
Lan-Sekte, und die von den anderen Sekten, haben alle etwas verfolgt.
Ich bin aus Richtung Qinghe gekommen.“
Lan SiZhui antwortete
auch: „Wir kamen aus Richtung Langya.“
Wei WuXian, „Was war
es?“
Lan SiZhui schüttelte
den Kopf: „Wir wissen es nicht. Es hat uns nie sein Gesicht
gezeigt. Wir wissen nicht einmal, wer oder was... oder welche
Organisation es genau war.“
Seitdem Jin Ling vor ein
paar Tagen, als er seinen Onkel angelogen und Wei WuXian gehen
gelassen hatte, war er besorgt gewesen, dass Jiang Cheng ihm diesmal
wirklich die Beine brechen würde, also hatte er beschlossen, sich
fort zu schleichen und für ein paar Tage zu verschwinden, um nicht
Jiang Cheng über den Weg zu laufen, bis dessen Zorn sich etwas
gelegt hatte. Er hatte sofort die Flucht ergriffen, nachdem er Zidian
an einem von Jiang Chengs Vertrauten übergeben hatte. Als er in
einer Stadt an der Grenze des Qinghe-Gebietes angekommen war, machte
er Rast. Auf der Suche nach dem Ort für seine nächste Nachtjagd
kehrte er in einem großen Gasthaus ein. Nachts, während er
versuchte sich Beschwörungsformeln in seinem Zimmer einzuprägen,
fing Fee, die an seiner Seite lag, plötzlich an die Tür anzubellen.
Es war bereits tief in der Nacht. Jin Ling befahl dem Hund,
aufzuhören, als er hörte, wie jemand an die Tür klopfte.
Obwohl Fee aufhörte zu
bellen, war er immer noch unruhig. Seine Krallen gruben sich in den
Boden, während er tief knurrte. Bereits in Alarmbereitschaft fragte
Jin Ling nach, wer vor der Tür sei. Es kam keine Antwort, also
ignorierte er es und lernte weiter. Doch nach einer Stunde ertönte
das Klopfen wieder. Jin Ling sprang zusammen mit Fee aus dem Fenster.
Er umrundete das Gebäude und ging nach oben in den ersten Stock, um
zu sehen, wer genau sich mitten in der Nacht mit ihm anlegen wollte.
Trotz seiner Bemühungen
war niemand da. Er wartete noch eine Weile ganz still, sah aber
trotzdem niemanden vor seiner Tür. Um das im Auge zu behalten ließ
er Fee die Tür bewachen. Er war bereit, die Person jederzeit
anzugreifen und blieb die ganze Nacht wach. Trotzdem passierte
nichts. Da waren nur einige seltsame Geräusche zu hören, als ob
irgendwo Wasser heruntertropfte.
Am nächsten Morgen
erklang ein Schrei vor seiner Tür. Jin Ling riss die Tür auf, nur
um in eine Blutlache zu treten. Etwas fiel vom oberen Türrahmen
herab. Nach hinten ausweichend, konnte Jin
Ling gerade verhindern,
dass es ihn traf. Es war eine schwarze Katze!
Jemand hatte vor nicht
allzu langer Zeit die Leiche einer toten Katze über seine Tür
genagelt. Das seltsame tropfende Geräusche, dass er die ganze Nacht
über gehört hatte, war das von dem Blut der Katze, das herunter
getropft war.
Jin Ling, „Es passierte
immer wieder dasselbe, nachdem ich in ein paar verschiedene
Gasthäuser gewechselt hatte, also ging ich in die Offensive. Wenn
ich hörte, dass die Leiche einer Katze zufällig irgendwo
auftauchte, dann wollte ich dort nachsehen, da ich einfach nur
herausfinden wollte, wer diese makaberen Scherze trieb.“
Wei WuXian wandte sich an
Lan SiZhui, „Bei euch auch?“
Lan SiZhui nickte: „Ja.
Vor ein paar Tagen gingen einige von uns auf Nachtjagd in Langya.
Während des Abendessen eines Tages fischten wir plötzlich den
ungehäuteten Kopf einer Katze aus der Suppe heraus..... Am Anfang
wussten wir nicht, ob sich das an uns richtete, aber in dieser Nacht,
nachdem wir in ein anderes Gasthaus gewechselt hatten, fanden wir die
Leiche einer Katze in unserer Bettwäsche. Es passierte immer wieder
das Gleiche für ein paar Tage. Wir verfolgten diese Hinweise, kamen
nach Yueyang und trafen auf den jungen Meister Jin. Wir fanden
heraus, dass wir nach der gleichen Sache suchten, also beschlossen
wir, zusammen zu arbeiten und sind erst heute in diesem Gebiet hier
angekommen. Wir fragten einen Jäger im Dorf, der vor einer
Steintafel stand, und uns wurde der Weg nach Yi gezeigt.“
Wei WuXian dachte bei
sich selbst: Ein Jäger?
Die Junioren hätten das
Dorf vor der Straßengabelung erst nach Lan WangJi und ihm passieren
dürfen. Allerdings hatten sie zu diesem Zeitpunkt keine Jäger
gesehen. Da waren nur diese verschüchterten Dorffrauen gewesen, die
ihre Hühner gefüttert hatten, und die gesagt hatten, dass ihre
Männer unterwegs seien, um Waren auszuliefern und für eine lange
Zeit nicht zurückkommen würden.
Je mehr Wei WuXian
darüber nachdachte, desto ausdrucksloser wurde sein Ausdruck. Von
der Erzählung her tat ihre Opposition nichts anderes, als Katzen zu
töten und deren Leichen auszulegen. Obwohl es sowohl beängstigend
aussah und auch klang, wurden sie alle nicht wirklich verletzt. In
der Tat, weckten diese Ereignisse ihre Neugierde, um der Sache auf
den Grund gehen zu wollen.
Auch diese Junioren
hatten sich in Yueyang getroffen. Wei WuXian und Lan WangJi waren
auch über Yueyang nach Shudong gekommen. Es schien fast so, als
hätte jemand absichtlich die verwirrten Junioren nach hier geführt,
damit sie auf sie beide treffen konnten.
Ein paar verwirrte
Junioren an einen gefährlichen Ort zu führen, um sie dort einer
gewalttätigen wilden Leiche entgegenzustellen - war das nicht genau
die gleiche Vorgehensweise wie das Ereignis im Dorf von Mo?
Und, das war nicht einmal
der komplizierteste Teil von alldem. Was Wei WuXian im Moment am
meisten fürchtete, war, dass... sich das Tiger Amulett ebenfalls in
diesem Moment in der Stadt Yi befinden könnte.
Obwohl Wei WuXian diese
Möglichkeit nicht wirklich akzeptieren wollte, war es dennoch die
vernünftigste Erklärung. Schließlich gab es auch jemanden, der die
Hälfte des Tiger-Amuletts wieder wiederherstellen konnte. Trotz des
Gesprächs, mit dem er konfrontiert worden war, wer wusste da schon
genau, wo das Siegel, dass wiederhergestellt worden war, hingekommen
war?
Plötzlich hob Lan
SiZhui, der sich auf den Boden gehockt hatte, um das Feuer weiterhin
zu schüren, seine Hand, „Senior Mo, ich denke, dass der Reisbrei
fertig ist?“
Er stoppte seine rasenden
Gedanken und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Er packte die
Schale, die Lan SiZhui ausgewaschen hatte und schmeckte mit einem
Löffel den Reisbrei ab, „Es ist fertig. Nimm es herunter. Gib
jedem, der vergiftet worden ist, davon eine Schüssel zu essen.“
Nachdem das Essen
verteilt worden war hatte Lan JingYi nur einen Bissen davon genommen,
bevor er es wieder ausspuckte, „Was ist das? Gift?!“
Wei WuXian, „Wie kann
das denn Gift sein? Es ist das Heilmittel! Klebriger Reisbrei.“
Lan JingYi, „Zuerst
einmal, ich weiß nicht, warum klebriger Reis ein Heilmittel sein
könnte, aber ich habe auch noch nie zuvor eine so scharfe Schüssel
Reisbrei gegessen!“
Der Rest der Jungen, die
von ihren Portionen gekostet hatten, nickten unisono, und in ihrer
aller Augen lagen Tränen. Wei WuXian strich über sein Kinn. Er war
in Yunmeng aufgewachsen. Die Leute aus Yunmeng waren alle ziemlich
würztolerant, aber Wei WuXians Vorliebe für Gewürze war jenseits
von Gut und Böse. Jedes Mal, wenn er in der Küche ausgeholfen
hatte, dann war das Essen so scharf gewesen, dass sogar Jiang Cheng
seine Schüssel nur mit einem Fluch zerschlagen konnte.
Doch aus irgendeinem
Grund hatte er sich nie zurückhalten können, Löffelchen um
Löffelchen voll mit Gewürzen hinzu zu fügen. Es schien, dass er
auch diesmal nicht in der Lage dazu gewesen war, seine Hände zu
kontrollieren. Aus Neugierde nahm Lan SiZhui eine Schale und
probierte einen Bissen. Selbst als sein Gesicht sich errötete und
seine Augen sich zusammenzogen, kniff er seine Lippen zusammen und
verzichtete darauf, es auszuspucken, wobei er dachte, Der
Geschmack.... ist so beängstigend, dass er bei mir fast ein Gefühl
von Déjà-vu hervorruft.
Wei WuXian, „Jede
Medizin ist bis zu einem gewissen Grad giftig. Das Gewürz darin wird
dich zum Schwitzen bringen, so dass es dir früher besser geht.“
Die awww-s, die von den
Jungen kamen, offenbarten ihren Unglauben. Nichtsdestotrotz, mit
angewiderten Gesichtern, aßen sie alle ihren Reisbrei auf. Innerhalb
von Sekunden röteten sich alle ihre Gesichter und auf ihrer Stirn
schimmerte es als würden sie unter Qualen leiden. Wei WuXian konnte
nicht anders, als das zu kommentieren: „Es kann doch nicht so
schlimm sein, oder? HanGuang-Jun kommt ebenfalls aus Gusu. Er
verträgt meine Gewürze sehr gut, also warum seid ihr Jungs so?“
Lan SiZhui antwortete mit
einer Hand, die seinen Mund bedeckte: „Nein, Senior. HanGuang-Juns
Geschmack ist sehr mild. Er isst nie gewürztes...“
Wei WuXian hielt einen
Moment inne, „Wirklich.“
Aber er konnte sich daran
erinnern, dass er in seinem früheren Leben, noch bevor er die
YunmengJiang-Sekte verraten hatte, sich einmal mit Lan WangJi in
Yiling getroffen hatte. Zu dieser Zeit, obwohl Wei WuXian da schon
weit und breit verunglimpft worden war, war es noch nicht so weit,
dass ihn bereits jeder verprügeln wollte. Genau zu dieser Zeit, um
Lan WangJi sein dickeres Gesicht zu zeigen, hatte er diesen zum
Abendessen eingeladen, damit sie sich gemeinsam an vergangene Zeiten
erinnern konnten. Alle Gerichte, die Lan WangJi da bestellt hatte,
waren mit Sichuan-Paprika gewürzt gewesen, und so hatte er immer
gedacht, dass Lan WangJis Geschmack für Gewürze so ziemlich
derselbe wäre wie der seine.
Jetzt, wo er so darüber
nachdachte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, ob Lan WangJi
damals überhaupt seine Ess-Stäbchen zur Hand genommen hatte oder
nicht. Andererseits vergaß er dort sogar, dass er gesagt hatte, dass
das Essen auf ihn ginge, daher hatte Lan WangJi am Ende trotzdem für
sie bezahlt. Deshalb war es nur natürlich, dass er solche Details
vergessen hatte. Er wusste nicht, warum, aber plötzlich überkam ihn
das Bedürfnis, dass er wirklich, wirklich sehr gerne Lan WangJis
Gesicht sehen wollte.
„....Senior, Senior
Mo!“
„Hmm?“ Wei WuXian
riss sich schließlich zusammen.
Lan SiZhui flüsterte,
„Die Tür der alten Frau.... hat sich geöffnet.“
Von irgendwoher kam eine
unheimliche Windböe, die die Tür des Raumes leicht öffnete. Die
Tür öffnete und schloss sich schaukelnd, enthüllte die vage Kontur
eines gebückten Schattens, der an einem Tisch in tiefster Dunkelheit
saß. Wei WuXian signalisierte, dass sie an Ort und Stelle bleiben
sollten und ging allein in den Raum.
Das schwache Licht der
Öllampe und der Kerzenhalter in der zentralen Kammer schien nach
innen hinein. Die alte Frau saß mit tief hängendem Kopf da, als ob
sie nicht bemerkte, dass jemand hereingekommen war. Ein Tuch lag auf
ihren Knien, eng eingespannt in einem Stickrahmen, was darauf
hindeutete, dass sie sich mit Handarbeit beschäftigte. Ihre beiden
Hände lagen steif beieinander, während sie versuchte, einen Faden
durch das Öhr einer Nadel zu führen.
Wei WuXian setzte sich zu
ihr an den Tisch: „Werte Frau, warum zündest du dir nicht die
Lampe an, wenn du eine Nadel einfädeln willst? Lass mich dir
helfen.“
Er übernahm die Nadel
und den Faden - der Faden ging sofort durch. Er gab es der alten Frau
wieder, ging aus dem Raum heraus, als wäre nichts passiert und
schloss die Tür hinter sich, „Es gibt keinen Grund,
hineinzugehen.“
Jin Ling, „Als du da
drinnen warst, hast du gesehen, ob die Hexe wirklich lebt oder
nicht?“
Wei WuXian, „Nenn sie
nicht eine Hexe. Das ist ziemlich unhöflich. Die alte Dame ist eine
lebende Leiche.“
Die Jungen sahen sich an.
Lan SiZhui fragte: „Was ist eine lebende Leiche?“
Wei WuXian, „Von Kopf
bis Fuß scheint einem alles zu sagen, dass sie eine Leiche ist, aber
der der Mensch lebt tatsächlich noch. Das ist es, was eine lebende
Leiche ist.“
Jin Ling war schockiert:
„Du willst uns sagen, dass sie noch am Leben ist?!“
Wei WuXian, „Hast du
mal reingeschaut?“
„Ja.“
„Was hast du gesehen?
Was hat sie gemacht?“
„Eine Nadel
eingefädelt.“
„Hat das funktioniert?“
„... Nein.“
„Richtig. Sie ist nicht
in der Lage, eine Nadel einzufädeln. Die Muskeln der Toten sind zu
steif, um sie zu bewegen und um komplexe Aktionen wie das Einfädeln
von Nadeln durchzuführen. Die Spuren auf ihrem Gesicht sind keine
Altersflecken, sondern livor mortis. Und sie muss auch nicht
essen. Nur die Tatsache, dass sie noch atmet, hält sie am Leben.“
Lan SiZhui, „A...Aber
die alte Dame ist schon ziemlich alt. Viele alte Damen haben
schlechtes Augenlicht und können keine Nadeln mehr selbst
einfädeln.“
Wei WuXian, „Also habe
ich ihr geholfen. Ist dir auch die andere Sache aufgefallen? Nach dem
Öffnen der Tür bis jetzt hat sie nicht ein einziges Mal
geblinzelt.“
Die Jungen blinzelten ein
paar Mal. Wei WuXian fuhr fort: „Lebende Menschen blinzeln, um zu
vermeiden, dass ihre Augen austrocknen. Tote hingegen brauchen das
nicht zu tun. Und, als ich die Nadel und den Faden rüber nahm, hat
da jemand bemerkt, wie sie mich ansah?“
Jin Ling, „Ihre
Augäpfel haben sich nicht bewegt... aber ihr Kopf schon!“
Wei WuXian, „Genau.
Wenn die meisten Menschen irgendwo hinschauen, bewegen sich ihre
Augäpfel normalerweise, egal wie klein die Bewegung auch sein mag.
Aber die Augen von Toten nicht. Das liegt daran, dass Tote keine so
subtilen Aktionen durchführen können, wie zum Beispiel die Bewegung
ihrer Augäpfel. Sie können stattdessen nur ihre Köpfe und Hälse
drehen.“
Lan JingYi war verblüfft:
„Sollen wir uns Notizen machen?“
Wei WuXian, „Das ist
eine gute Angewohnheit, aber denkst du, du hast Zeit, in deinen
Notizen nachzusehen, wenn du auf Nachtjagd bist? Behaltet es besser
in Erinnerung.“
Jin Ling sprach mit
zusammengebissenen Zähnen: „Wandelnde Leichen sind schon seltsam
genug. Warum gibt es solche Dinge wie lebende Leichen?!“
Wei WuXian, „Es gibt
viele Nachteile für tote Menschen: starre Muskeln, langsame
Bewegungen, und so weiter. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von
Vorteilen: den Mangel an Angst vor Schmerzen, die Unfähigkeit zu
denken, wie einfach sie zu kontrollieren sind. Jemand dachte, dass er
die Nachteile von Leichen ausgleichen und perfekte Leichenpuppen
erschaffen könnte. Das war der Grund, wie lebende Leichen entstanden
sind.“
Obwohl die Jungen nichts
gesagt hatten, war ihnen ein einziger Satz ins Gesicht geschrieben -
„Diese Person muss Wei! Wu! Xian! Sein.“
Wei WuXian wusste nicht,
ob er lachen oder sich schütteln sollte, daher dachte er schweigend,
Aber ich habe so etwas wirklich nicht getan!
Obwohl, es klang wirklich
sehr nach seiner Art, Dinge zu tun!
Er fuhr fort: „Ähm. In
Ordnung. Wei WuXian hat damit angefangen. Aber er hat Wen Ning
erfolgreich gemacht, oder auch den Geistergeneral. Um ehrlich zu
sein, wollte ich schon immer mal fragen, wer genau sich diesen Titel
ausgedacht hat? Der klingt so dämlich. Wie auch immer, es gab einige
andere Leute, die ihn nachahmen wollten, aber nicht gut genug darin
waren, also benutzten sie unangemessene Mittel. Sie zielten es auf
lebende Menschen ab und entwickelten lebende Leichen daraus.“
Er schloss: „Also eine
Art gescheiterter Nachahmungen.“
Als er Wei WuXians Namen
hörte, erstarrte Jin Lings Gesicht zu Eis. Er schnaubte, „Wei Ying
selbst benutzte unangemessene Mittel.“
Wei WuXian, „Ja. Aber
dann benutzten die, die diese lebenden Leichen entwickelten, die
unangemessensten aller unangemessensten Mittel!“
Lan SiZhui, „Senior Mo,
was sollen wir jetzt tun?“
Wei WuXian, „Einige
lebende Leichen wissen vielleicht gar nicht, dass sie bereits tot
sind. Ich denke, dass dies bei der alten Dame der Fall ist und sie
eine der verwirrten Leichen ist. Lasst sie uns vorerst nicht stören.“
Aus heiterem Himmel
erklang eine Reihe von pochenden Geräuschen eines Bambusrohrs, das
plötzlich auf den Boden klopfte.
Der Ton kam aus der Nähe
eines der Fenster, das mit schwarzen Holzlatten verschlossen worden
war. Alle Jünger in der zentralen Kammer wurden blass um ihre Nasen.
Seitdem sie in dieser Stadt waren, wurden sie ständig von diesem
Klang geplagt. Sie gerieten jetzt in Panik, wann immer sie es hörten.
Wei WuXian deutete an, dass sie ruhig bleiben sollten. Sie alle
hielten den Atem an, während sie Wei WuXian beobachteten, wie er zum
Fenster ging und durch einen schmalen Schlitz zwischen zwei Latten
nach draußen blickte.
Sobald Wei WuXian sich
dem Schlitz näherte, konnte er eine weiße Fläche sehen. Er dachte,
dass der Nebel draußen zu dicht wäre, als dass er etwas sehen
könnte. Plötzlich jedoch, schien dieses Weiß schnell nach hinten
auszuweichen. Er sah ein Paar weiße, hässliche Augen, die auf den
Schlitz zwischen den Brettern starrten. Der weiße Bereich, den er
gesehen hatte, war kein Nebel, sondern ein Paar pupillenloser Augen.
Informationen
Senior:
Dies ist eine weitere ehrenvolle Anrede, die man auch als „senpai“
aus Japan kennt.
Lebende
Leiche: In den vergangenen Kapiteln war immer nur von wandelnden
Leichen die Rede. Nun werden jedoch diese in unterschiedliche
Kategorien aufgeteilt und somit wird es nun „Lebende Leichen“ wie
hier erklärt, aber auch weiterhin die „wandelnden Leichen“
geben.
Inedia:
Eine esoterische Methode, bei der nach Vorstellung ihrer Anhänger
der Mensch die lebensnotwendige Energie anstatt aus Nahrung und
Wasser aus Licht bezieht (=Lichtnahrung)
Livor
mortis: Livor mortis ist eine Ansiedlung des Blutes im abhängigen
Teil des Körpers nach dem Tod, was zu einer violetten Rotfärbung
der Haut führt (was bedeutet, dass die alte Dame mit dem Gesicht
nach unten starb = als abhängiger Teil ihres Körpers) (Wikipedia).
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