Kapitel 34: Gras – Teil Zwei
Papierpuppen
Die plötzlichen
seltsamen Geräusche eines Bambusrohrs, das auf den Boden klopfte,
klangen mal laut und dann leise, mal weit weg und mal ganz nah, so
dass es unmöglich war, festzustellen, von wo genau oder wer sie
verursachte.
Wei WuXian, „Ihr alle,
kommt her. Bleibt ganz nah beieinander. Nicht bewegen und nicht
angreifen.“
Würden die Junioren in
diesem Nebel alle ihre Schwerter ziehen und versuchen anzugreifen,
wäre es möglich, dass sie sich selbst und nicht den Feind
verletzten. Nach einem kurzen Augenblick stoppte das Geräusch.
Nachdem er einige Sekunden lang schweigend gewartet hatte, sprach ein
Schüler mit stockendem Atem, „Es ist wieder so.... Wie lange wird
es uns noch folgen?!“
Wei WuXian, „Es ist
euch gefolgt?“
Lan SiZhui, „Nachdem
wir die Stadt betreten hatten war der Nebel so dicht, dass es einfach
gewesen wäre, das wir uns verlieren, daher hatten wir beschlossen,
eng zusammen zu gehen. Dann hörten wir plötzlich das Geräusch. Da
war es noch nicht so schnell. Es war ziemlich langsam, ein Klopfen
nach dem anderen. Durch den Nebel haben wir direkt vor uns auch einen
kleinen Schatten vorbeihuschen sehen. Aber als wir es verfolgt haben
ist er verschwunden. Nur dieses Geräusch verfolgt uns seitdem.“
Wei WuXian, „Wie
klein?“
Lan SiZhui gestikulierte
auf seiner Brust, „Sehr klein. Fast winzig.“
Wei WuXian, „Wie lange
seid ihr schon hier?“
Lan SiZhui, „Etwa
fünfzehn Minuten.“
„Fünfzehn Minuten?“
Wei WuXian fragte: „HanGuang-Jun, wie lange sind wir schon hier?“
Lan WangJis Stimme
erklang hinter dem Nebel: „Etwa dreißig Minuten.“
„Schaut mal“, Wei
WuXian fuhr fort, „Wir sind schon länger hier als ihr. Wie ist es
dann also möglich, dass ihr vor uns gewesen seid und uns erst
begegnet seid, als ihr euch umgedreht habt?“
Jin Ling konnte nicht
anders, als zu antworten: „Wir haben uns nie umgedreht. Wir sind
immer geradeaus gelaufen und diesem Weg gefolgt.“
Wenn sie beide immer
vorwärts gegangen waren, wäre es dann möglich, dass jemand den Weg
verhext und ihn in ein zyklisches Labyrinth verwandelt hatte? Wei
WuXian fragte erneut: „Habt ihr eure Schwerter benutzt und seid
einmal nach oben geflogen, um nachzusehen?“
Lan SiZhui, „Ja. Ich
dachte, dass ich ein ganzes Stück nach oben geflogen wäre, aber es
war eigentlich gar nicht so hoch. Und es gab auch einige unscharfe
Schatten, die von hier nach da huschten. Ich wusste nicht, was es war
und ich hatte Angst, dass ich nicht mit ihnen fertig werden würde,
also bin ich wieder runter gekommen.“
Als sie alle das hörten,
schwiegen sie eine Weile. Da das Shudong-Gebiet sowieso immer neblig
war, hatten sie nie viel über den Nebel in der Stadt nachgedacht.
Nun schien es ganz so, als ob dieser Nebel nicht natürlichen
Ursprungs war, sondern wirklich ein geisterhafter Dunst. Lan JingYi
war schockiert: „Der Nebel ist aber nicht giftig, oder?!“
Wei WuXian, „Das ist er
wahrscheinlich nicht. Wir sind schon eine ganze Weile hier drin und
wir sind noch am Leben.“
Jin Ling, „Ich hätte
Fee mitnehmen sollen. Es ist alles wegen deines verdammten Esels.“
Als er den Namen des
Hundes hörte, kletterte ein eiskalter Schauer über den ganzen
Rücken von Wei WuXian. Dann hörte er Lan JingYi rufen: „Wir haben
deinem Hund noch nicht einmal die Schuld gegeben! Er hat zuerst
seinen Mund geöffnet, um zu beißen, und dann hat er erst Kleiner
Apfels Huf abbekommen. Wessen Fehler war das nun? Wie auch immer,
keiner von den beiden kann sich nun bewegen.“
Wei WuXian, „Was?! Mein
Kleiner Apfel wurde von einem Hund gebissen?!“
Jin Ling, „Wie kann
dieser Esel wichtiger sein als mein spiritueller Hund? Fee wurde mir
von meinem jüngsten Onkel gegeben. Wenn ihm etwas zustößt, könnten
nicht einmal zehntausend Esel seinen Preis wieder gutmachen!“
Wei WuXian erwiderte in
aller Absurdität: „Benutze nicht den Namen von LianFang-Zun, um
die Leute abzuschrecken. Nun, mein Kleiner Apfel ist ein Geschenk von
HanGuang-Jun. Wie konntet ihr Kleiner Apfel mit auf eine Nachtjagd
nehmen? Und dann auch noch zulassen, dass er verletzt wird?!“
Die Junioren der
Lan-Sekte antworteten unisono: „Lügner!“
Sie würden niemals
glauben, dass jemand wie HanGuang-Jun ein solches Geschenk für
jemand anderen wählen würde. Selbst wenn Lan WangJi gerade dazu
nichts sagte, weigerten sie sich entschieden, so etwas zu glauben.
Lan SiZhui versuchte aufzuklären, „Uhh.... Entschuldigung, Junger
Meister Mo. Dein Kleiner Apfel.... Dein Esel hat jeden Tag sehr viel
Lärm in den Wolkenschluchten gemacht, und die Senioren haben sich
ständig beschwert und uns befohlen, ihn während dieser Nachtjagd
loszuwerden. Also, wir....“
Jin Ling glaubte auch
nicht, dass der Esel ein Geschenk von Lan WangJi war: „Ich mag mir
nicht einmal diesen Esel genauer ansehen. Und dann heißt er noch
'Kleiner Apfel'. Das klingt ja schon nach total dämlich!“
Lan JingYi dachte, wenn
es wirklich ein Geschenk von HanGuang-Jun wäre, dann wären sie
jetzt in Schwierigkeiten. Er sprach sich sofort dafür aus, „Was
ist falsch an 'Kleiner Apfel'? Er isst halt gerne Äpfel, also passt
doch der Name Kleiner Apfel. Das ist doch sehr bodenständig. Das ist
zehnmal besser, als deinen fetten Hund 'Fee' zu rufen!“
Jin Ling, „Wo ist Fee
denn bitte fett?! Versuch mir auch nur einen einzigen spirituellen
Hund zu finden, der in einer besseren Verfassung ist als....“
Plötzlich hörte das
ganze Geschwätz auf. Ein paar Sekunden später fragte Wei WuXian:
„Ist noch jemand da?“
Eine Reihe von Oh-Hmpf-s
und Mmn-s kamen aus seiner näheren Umgebung, was bedeutete, dass
jeder von ihnen noch da war. Lan WangJi sagte kalt: „Zu laut.“
.... Wie konnte er sie
alle auf einmal zum Schweigen bringen? Wei WuXian konnte nicht
anders, als seine Lippen zu berühren, und sich ziemlich glücklich
zu fühlen.
Plötzlich kam das
Geräusch von Schritten durch den Nebel von vorne links. Die Schritte
taumelten auf eine ungemein schwerfällige Weise. Plötzlich kamen
die gleichen Geräusche von vorne, von vorne rechts, von den Seiten
und von hinten. Obwohl der Nebel viel zu zäh war, um überhaupt
irgendwelche Umrisse sehen zu können, war der ranzige Gestank
bereits deutlich wahrnehmbar.
Natürlich machte sich
Wei WuXian keine Sorgen um ein paar wandelnde Leichen. Er pfiff
leicht, und endete auf einer nach oben gekrümmten Note, die
signalisierte, dass sie sich zurückziehen sollten. Wie er es
erwartet hatte, hielten die Leichen hinter dem Nebel kurz inne, als
sie das Pfeifen hörten. Doch einen Moment später eilten sie zu
ihnen hinüber!
Wei WuXian hatte das
überhaupt nicht erwartet. Der Befehl funktionierte nicht nur nicht,
sondern provozierte sie tatsächlich auch noch. Er hätte niemals die
beiden verschiedenen Befehle des 'Zurückziehens' und der
'Stimulation' miteinander verwechselt! Doch im Moment blieb ihm keine
Zeit zum Nachdenken. Sieben oder acht gekrümmte Gestalten waren
bereits aus dem weißen Nebel erschienen. Nach der Dichte des Nebels
in der Stadt Yi zu urteilen, war die Tatsache, dass sie sie sehen
konnten, gleichbedeutend damit, dass die Leichen bereits extrem nah
an ihnen dran waren!
Bichens eisblauer
Schwertblick riss den Nebel auf. Um die Gruppe herum zog es einen
deutlich abgrenzenden Kreis in der Luft, zerschnitt alle wandelnden
Leichen in zwei Hälften und kehrte dann in seine Hülle zurück.
Wei WuXian stieß einen
erleichterten Seufzer aus, während Lan WangJi seine Stimme senkte:
„Warum?“
Wei WuXian fragte sich
auch, warum, Warum konnte mein Kommando diese Leichen nicht
kontrollieren? Mit ihrem langsamen Tempo und diesem ranzigen Duft
waren sie definitiv keine hochrangigen Leichen. Ich hätte sie mit
einem Schnipsen vertreiben müssen. Es ist unmöglich, dass mein
Pfeifen plötzlich nicht mehr funktioniert, da es sowieso keine
spirituellen Kräfte nutzt. Eine Situation wie diese hat es noch
nie.....
Plötzlich erinnerte er
sich an etwas. Eine dünne Schicht eiskalten Schweißes perlte seinen
Rücken hinunter. Nein. Es war nicht so, dass 'es eine solche
Situation noch nie zuvor gegeben hatte'. In Wirklichkeit war es in
der Tat schon einmal passiert, und auch nicht nur einmal. Es gab da
wirklich eine Art Leiche oder Geist, die er nicht befehlen konnte –
und zwar Leichen oder Geister, die bereits unter der Kontrolle des
Stygischen Tiger Amuletts standen!
Lan WangJi hob den
Schweigezauber auf, und Lan SiZhui konnte wieder sprechen:
„HanGuang-Jun, ist die Situation wirklich gefährlich? Sollen wir
die Stadt sofort verlassen?“
„Aber der Nebel ist so
dicht. Wir können den Weg nicht benutzen und rausfliegen geht auch
nicht....“
Ein Schüler rief aus:
„Ich glaube, da kommen noch mehr Leichen!“
„Wo? Ich habe keine
Schritte gehört.“
„Ich glaube, ich höre
seltsame Atemgeräusche...“ Der Junge bemerkte erst, was für eine
lächerliche Bemerkung er da gemacht hatte, nachdem er es schon
gesagt hatte, und hielt sofort vor Verlegenheit seinen Mund. Ein
anderer Junge antwortete: „Du bist schon ein besonders Schlauer,
nicht wahr? Atemgeräusche. Die Leichen sind tot, wie kann es sein,
dass da überhaupt irgendwelche Atemgeräusche sind?“
Bevor er fertig war,
stürzte eine weitere große Gestalt auf sie zu. Mit Bichen, das sich
wieder aus seiner Ummantelung gelöst hatte, wurde der Kopf des
Schattens von seinem Körper getrennt. Zur selben Zeit konnte man
seltsame plätschernde Geräusche hören. Die Jünger, die in der
Nähe dieser Szene waren, schrien alle vor Schreck auf. Aus Angst,
dass sich jemand von ihnen verletzt hatte, rief Wei WuXian sofort:
„Was ist passiert?“
Lan JingYi, „Etwas ist
aus dem Körper der Leiche heraus gespritzt. Ich glaube, es war eine
Art Pulver. Es schmeckt sowohl bitter als auch süß. Und faulig!“
Das war sehr unglücklich
für ihn. Seitdem er wieder sprechen konnte, hatte er natürlich
seinen Mund geöffnet, und so eine ganze Menge Pulver hinein
bekommen. Sich nicht darum kümmernd, wie er dabei aussah, spuckte er
sofort ein paar Mal. Das, was da aus den Leichen herausgekommen war
waren zweifellos keine trivialen Dinge. Das Pulver lag noch in der
Luft. Wenn es versehentlich in die Lunge gesaugt wurde, dann wäre es
noch schwerer gewesen, damit umzugehen, als wenn es nur in den Mund
genommen wurde. Wei WuXian wies sie an: „Ihr alle, bleibt von
diesem Bereich da weg! Kommt schnell her. Lass mich dich ansehen.“
Lan JingYi, „Okay. Aber
ich kann dich nicht sehen. Wo bist du?“
Man konnte nicht einmal
seine eigene Hand sehen, selbst wenn sie direkt vor einem war,
geschweige denn durch diesem Nebel gehen. Wei WuXian erinnerte sich,
dass, wenn Bichen nicht ummantelt war, sein Schwertblick diesen
weißen Nebel durchdringen konnte. Er wandte sich an Lan WangJi, der
an seiner Seite stand: „HanGuang-Jun, zieh bitte dein Schwert für
einen Moment, damit er herüberkommen kann.“
Plötzlich erhellte ein
klarer, blauer Schwertblick einen Bereich, der etwa sieben Schritte
von ihm entfernt war.
.... Lan WangJi war da?
Wer war denn dann die
Person, die die ganze Zeit still neben ihm gestanden hatte?!
Plötzlich blitzte ein Schatten vor Wei WuXians Augen auf. Ein
dunkles Gesicht näherte sich ihm von vorne. Es war dunkel, weil auf
dem Gesicht eine dicke Schicht schwarzen Nebels lag!
Der neblige Mann griff
nach dem Qiankun-Beutel, der an seiner Seite hing. Aber nachdem er
ihn sich gegriffen hatte, schwoll der Qiankun-Beutel plötzlich an.
Die Schnur, die den Beutel fest gebunden hatte, riss zur Hälfte ein,
und drei wütende Geister schossen nach vorne. Sie bildeten ein
wirres Durcheinander und stürzten sich auf den Fremden!
Wei WuXian lachte:
„Wolltest du den Qiankun-Beutel? Dann muss dein Sehvermögen
wirklich sehr schlecht sein. Warum hast du stattdessen meinen
Spirituellen-Fallen-Beutel genommen?“
Seitdem sie dem
Totengräber auf dem YueyangChang-Sekten Friedhof den frisch
ausgegrabenen Torso aus den Händen gerissen und dieser sich
frustriert zurückgezogen hatte, waren Wei WuXian und Lan WangJi die
ganze Zeit auf der Hut gewesen. Sie wussten in weiser Voraussicht,
dass er nicht aufgeben würde und stattdessen nach jeder Gelegenheit
Ausschau halten würde, um ihn zurückzubekommen. Wie sie es erwartet
hatten, sobald sie die Stadt Yi betreten hatten, griff der
Totengräber sie an in der Absicht, den dichten Nebel und das
Durcheinander auszunutzen.
Tatsächlich
funktionierte sein Angriff, aber Wei WuXian hatte längst den
Qiankun-Beutel, in dem sich der linke Arm befand, mit dem
Spirituellen-Fallen-Beutel ausgetauscht.
Mit einem Klack
sprang der Gegner nach hinten und zog sein Schwert aus der Scheide.
Sofort erklangen die hasserfüllten Schreie der Geister, als ob diese
Handlung sie an den Rand der Zerstreuung drängen würde. Wei WuXian
dachte bei sich selbst, Also ist er wirklich jemand mit einem
hohen Maß an Kultivierung.
Er rief sofort:
„HanGuang-Jun, der Totengräber ist da!“
Ohne daran erinnert
werden zu müssen, wusste Lan WangJi allein durch das Hören, dass
etwas passiert war. Er blieb still. Bichens schneller, heftiger
Schwung diente als Antwort. Die aktuelle Situation war alles andere
als optimistisch zu sehen. Ein schwarzer Nebel bedeckte das Schwert
des Totengräbers, so dass der Schein des Schwertes nicht durch den
dichten weißen Nebel drang und es sich somit perfekt darin
verstecken konnte. Andererseits konnte der Schwertblick von Lan
WangJis Bichen nicht verborgen bleiben. Er war im Freien, während
der Feind im Dunkeln versteckt war. Außerdem war der Feind nicht nur
in Bezug auf die Kultivierung hoch qualifiziert, sondern er war auch
mit Schwertkampfstil der GusuLan-Sekte sehr vertraut. Und obwohl sie
beide blind im Nebel kämpften, konnte er tun, was immer er wollte,
aber Lan WangJi musste zudem noch vorsichtig sein, damit er nicht
versehentlich jemanden auf seiner eigenen Seite verletzte. Wenn man
all diese Punkte in Betracht zog, war Lan WangJi wirklich im
Nachteil. Nachdem er ein paar Zusammenstöße der Klingen gehört
hatte, zog sich Wei WuXians Herz plötzlich zusammen. Er schrie
heraus: „Lan Zhan? Bist du verletzt?!“
Aus der Ferne kam ein
gedämpftes Grunzen, als hätte jemand eine schwere Verletzung
erlitten. Es war aber ganz klar nicht Lan WangJis Stimme.
Lan WangJi, „Natürlich
nicht.“
Wei WuXian grinste: „So
sieht's aus!“
Es klang, als ob die
andere Person bitter gelacht hätte. Er griff erneut an. Die
klirrenden Geräusche von Bichen und dem anderen Schwert waren nun
immer weiter entfernt. Wei WuXian wusste, dass
Lan WangJi sie nicht
versehentlich verletzen wollte und lenkte daher bewusst den Kampf in
eine andere Richtung, um mit dem Totengräber alleine fertig zu
werden. Natürlich lag der Rest nun bei Wei WuXian. Er drehte sich
um, „Wie geht es denjenigen, die das Pulver eingeatmet haben?“
Lan SiZhui, „Sie haben
Schwierigkeiten mit dem Aufstehen!“
Wei WuXian, „Kommt in
die Mitte und zählt euch durch.“
Es war wohl Glück, dass,
nachdem sie die Welle von wandelnden Leichen zurückgeschlagen und
den Totengräber nun abgelenkt hatten, nichts anderes mehr kam, um
sie zu stören. Das Geräusch der Bambusstange kam auch nicht mehr,
um Ärger zu machen. Die übrigen Jünger versammelten sich und
zählten sich durch. Niemand fehlte. Wei WuXian nahm Lan JingYi an
die Hand und befühlte seine Stirn. Sie war ein bisschen warm. Dann
fühlte er auch an die Stirn der anderen Jungen, die das Pulver der
Leiche eingeatmet hatten. Sie waren alle gleich warm. Er hob Lan
JingYis Augenlider an: „Zeige mir deine Zunge. Ahh.“
Lan JingYi, „Ahh.“
Wei WuXian, „Jap.
Herzlichen Glückwunsch. Du hast eine Leichenvergiftung.“
Jin Ling, „Wie kann man
jemandem dazu beglückwünschen?!“
Wei WuXian, „Es ist
eine weitere Lebenserfahrung. Es wird ein toller Einstieg für
Gespräche sein wenn du mal älter bist.“
Die Leichenvergiftung war
meist darauf zurückzuführen, dass man von einer wandelnden Leiche
verwundet wurde oder man eine Wunde hatte, die mit nekrotischem Blut
in Berührung gekommen war. Die Kultivierenden ließen es
normalerweise nicht zu, dass wandelnde Leichen so nah an sie heran
kamen, dass sie verwundet werden konnten, also hatte es sich niemand
zur Gewohnheit gemacht, Elixiere bei sich zu tragen, die
Leichenvergiftungen heilten.
Lan SiZhui machte sich
Sorgen: „Junger Meister Mo, wird ihnen etwas passieren?“
Wei WuXian, „Im Moment
noch nichts. Wenn es jedoch in den Blutkreislauf gelangt und sich
dadurch im gesamten Körper verteilt und so das Herz befällt, dann
könnte nichts mehr helfen.“
Lan SiZhui, „W-was wird
dann passieren?“
Wei WuXian, „Was auch
immer mit den Leichen passiert, wird dann auch mit dir passieren.
Wenn du Glück hast, wirst du nur ein bisschen vor dich hin
verrotten. Wenn du kein Glück hast, wirst du vielleicht ein
langhaariger Zombie werden, der für den Rest seines Lebens zu nichts
anderem mehr fähig ist, als herumzuspringen.“
Alle vergifteten Jünger
keuchten. Wei WuXian, „Also wollt ihr wohl geheilt werden?“
Alle nickten. Wei WuXian
fuhr fort: „Wenn ihr es heilen wollt, dann hört zu. Von jetzt an
müsst ihr euch alle benehmen und genau auf das hören, was immer ich
sage. Jeder einzelne von euch.“
Obwohl viele der Jungs
immer noch nicht mit ihm vertraut waren, hatten sie gesehen, dass er
HanGuang-Jun intimerweise bei seinem Geburtsnamen gerufen hatte, als
würden sie aus der gleichen Generation stammen, dass sie inmitten
einer bedrohlich nebligen Stadt standen, in der es spukte, und dass
sie sowohl vergiftet als auch fiebrig waren, was sie sich besonders
ängstlich fühlen ließ und daher wollten sie instinktiv von
jemandem abhängig sein. Und da alles, was aus Wei WuXians Mund kam,
irgendwie einen vertrauenerweckenden Ton hatte, der alle Sorgen
beseitigte, konnten sie nicht anders, als auf seine Worte zu hören
und unisono zu antworten, „Ja!“
Wei WuXian drängte
weiter: „Ihr müsst alles tun, was ich euch sage. Seid gehorsam.
Verstanden?“
„Ja!“
Wei WuXian klatschte,
„Steht auf. Diejenigen, die nicht vergiftet sind, können die
tragen, die es sind, vorzugsweise über die Schulter. Wenn ihr sie
nur an ihrer Vorderseite anheben können, denkt daran, sie so zu
positionieren, dass der Kopf und das Herz höher sind als der Rest
des Körpers.“
Lan JingYi, „Aber ich
kann doch noch gehen. Warum müssen wir getragen werden?“
Wei WuXian, „Bruder,
wenn du hier herum springst, wird dein Blut schneller zirkulieren,
und es wird sich schneller verbreiten und somit wird es früher in
dein Herz eindringen. Also solltest du dich nicht zu sehr bewegen. Es
ist am besten, wenn ihr euch alle nicht von der Stelle bewegt.“
Die Jungen standen sofort
so still wie Bretter und erlaubten es ihren Freunden, sie
hochzuheben. Auf den Schultern anderer Schüler aus seiner Sekte,
murmelte ein Junge: „Die Leiche, die das giftige Pulver über uns
gestreut hat, hat aber wirklich noch geatmet.“
Der Junge, der ihn trug,
beschwerte sich, während er dabei keuchte: „Ich habe es dir
bereits gesagt. Wenn es wüsste, wie man atmet, dann wäre es ein
lebendiger Mensch.“
Lan SiZhui, „Junger
Meister Mo, wir haben nun alle. Wohin gehen wir?“
Lan SiZhui war der
netteste, gehorsamste und am wenigsten beunruhigendste unter ihnen.
Wei WuXian antwortete: „Im Moment können wir die Stadt definitiv
nicht verlassen. Lasst uns an ein paar Türen klopfen.“
Jin Ling, „An was denn
für Türen klopfen?“
Wei WuXian dachte einen
Moment lang nach: „Gibt es denn noch etwas anderes, das Türen hat,
außer einem Haus?“
Jin Ling, „Du willst
wirklich, dass wir diese Häuser betreten? Es ist schon so gefährlich
hier draußen. Wer weiß, was in diesen Räumen verborgen ist, uns
beobachtet und nur auf uns wartet.“
Nachdem er gesprochen
hatte, spürten alle, dass der Nebel wirklich Augen zu haben schien
und ihnen wohl Blicke aus den Häusern folgten, um jede ihrer
Bewegungen, jedes ihrer Worte genau beobachten zu können. Sie
konnten nicht anders, als vor Angst zu erschaudern. Wei WuXian
antwortete: „Das ist wahr. Es ist schwer zu sagen, ob es außerhalb
der Häuser oder innerhalb der Häuser gerade gefährlicher ist.
Aber, da es hier draußen schon so ist, kann das Innere eigentlich
doch nicht viel schlimmer sein. Los geht's. Wir dürfen keine Zeit
verlieren. Wir müssen noch immer die Vergiftungen loswerden.“
Die Gruppe musste tun,
was man ihnen sagte. Auf Anweisung von Wei WuXian hin hielten sie die
Schwertscheiden von sich gestreckt, damit sie nicht der Person
jeweils vor sich im dichten Nebel aufliefen. Von Haus zu Haus
klopften sie an die Türen. Jin Ling hämmerte eine Weile, konnte
aber keine Antwort aus dem Haus hören: „Es scheint niemand in
diesem Haus zu sein. Lasst uns reingehen.“
Wei WuXians Stimme
driftete zu ihm hinüber: „Wer hat dir gesagt, du sollst eintreten,
wenn niemand drin ist? Klopf weiter. Wir müssen in ein Haus gehen,
in dem jemand drin ist.“
Jin Ling, „Willst du
etwa eins finden wo jemand drin ist?“
Wei WuXian, „Ja. Klopf
schön freundlich an. Deine Schläge waren zu stark. Das ist ziemlich
unhöflich.“
Jin Ling war so gereizt,
dass er fast die Holztür eingetreten hätte. Am Ende stampfte er nur
wütend auf den Boden. Jeder Haushalt an dieser Straße hatte seine
Tür fest verschlossen und verzichtete darauf, sie zu öffnen, egal
wie sehr sie klopften. Je mehr Jin Ling klopfte, desto ärgerlicher
wurde er, aber je mehr er klopfte ließ auch die von ihm ausgeübte
Kraft deutlich nach. Auf der anderen Seite blieb Lan SiZhui
vollkommen ruhig. Beim dreizehnten Geschäft wiederholte er den Satz,
den er bereits unzählige Male wiederholt hatte, „Entschuldigung.
Ist jemand da drinnen?“
Plötzlich bewegte sich
die Tür. Ein dünner, schwarzer Schlitz war geöffnet worden. Es war
sehr dunkel auf der anderen Seite der Tür, so dass man niemanden
erkennen konnte, der da hinter dem Schlitz war. Die Person, die die
Tür öffnete, sprach auch nicht. Die Jungs, die vorne weg standen,
konnten nicht anders, als einen Schritt zurück zu gehen. Lan SiZhui
fand seine Gelassenheit zurück: „Entschuldigen Sie uns, aber sind
Sie der Besitzer dieses Ladens?“
Ein Moment verging, und
eine alte, bizarre Stimme ertönte aus dem Schlitz, „Ja.“
Wei WuXian ging näher
heran und klopfte Lan SiZhui auf die Schulter, was diesem
signalisierte, zurückzutreten und sprach: „Werter Ladenbesitzer,
es ist unser erstes Mal, dass wir nach hier gekommen sind. Der Nebel
war so dicht, dass wir uns auf unserem Weg verlaufen haben. Wir sind
schon seit langem unterwegs und ziemlich müde. Wäre es möglich,
dass Sie uns Ihren Laden leihen könnten, damit wir uns ein wenig
ausruhen können?“
Die bizarre Stimme
antwortete: „Mein Laden ist nicht zum Ausruhen für Reisende.“
Wei WuXian sah aus, als
ob er überhaupt nichts Seltsames an dieser Situation fand, und
sprach mit seinem üblichen Ausdruck, „Aber in der Gegend gibt es
keinen anderen Laden, in dem sich jemand befindet. Werter
Ladenbesitzer, sind Sie wirklich nicht bereit, uns einen Gefallen zu
tun? Wir sind auch bereit zu zahlen.“
Aus Jin Ling schoss es
heraus: „Wie willst du denn an das Geld kommen, um das zu bezahlen?
Lass uns das direkt klarstellen - ich werde dir kein Geld leihen.“
Wei WuXian wedelte mit
einem fein verarbeiteten Beutel vor seinen Augen, „Schau nur, was
ich hier habe.“
Lan SiZhui war
schockiert: „Wie kannst du es wagen? Das ist HanGuang-Juns!“
Während sie
argumentierten, öffnete sich der Schlitz etwas weiter. Obwohl sie
immer noch nicht die Einrichtung in diesem Raum sehen konnten, so
konnten sie sehen, dass eine grauhaarige, ausdruckslose Frau hinter
der Türe stand. Obwohl die alte Frau einen gebeugten Rücken hatte,
der sie auf den ersten Blick wesentlich älter aussehen ließ, hatte
sie eigentlich nicht viele Falten oder Altersflecken. Es wäre sogar
möglich, sie als eine Dame mittleren Alters zu beschreiben. Sie
öffnete die Tür und ging aus dem Weg. Es sah so aus, als wäre sie
bereit, sie hereinzulassen. Jin Ling war erstaunt. Er flüsterte:
„Sie ist wirklich bereit, uns reinzulassen?“
Wei WuXian flüsterte
auch: „Natürlich. Einer meiner Füße war im Türspalt, also
konnte sie die Tür nicht schließen, auch wenn sie es gewollt hätte.
Wenn sie mich immer noch nicht reingelassen hätte, dann hätte ich
einfach die Türe aufgetreten.“
Jin Ling, „....“
Die Stadt Yi war schon
beängstigend und eigenartig; und die Menschen, die hier lebten,
waren definitiv auch keine gewöhnlichen Menschen. Als sie sahen,
wie misstrauisch sie die alte Frau aussah, flüsterten die Jünger
alle nur noch miteinander. Obwohl sie überhaupt nicht hineingehen
wollten, blieb ihnen keine andere Wahl. Sie konnten nur ihre
Kameraden auflesen, die aufgrund der Vergiftung zu verängstigt
waren, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, und dann einer
nach dem anderen durch die Türe eintreten. Die alte Frau stand an
der Seite und sah sie kalt an. Als alle drin waren, schloss sie
sofort die Tür. Der Raum war wieder pechschwarz. Wei WuXian fragte:
„Werte Ladenbesitzerin, warum machen Sie denn kein Licht an?“
Die alte Frau raunte:
„Das Licht steht auf dem Tisch. Zündet es euch selbst an.“
Lan SiZhui stand nur
zufällig an einem Tisch. Langsam fühlend, fand er eine Öllampe,
die mit einer dicken Staubschicht bedeckt war. Er fischte einen
Feuertalisman heraus und zündete ihn an. Als er den Talisman in
Richtung des Lampendorns bewegte, sah er sich unbeabsichtigt im Raum
um, und ein kalter Schauer breitete sich bei ihm von den Füßen bis
zum Kopf aus. Seine Kopfhaut kribbelte vor Schreck. Innerhalb des
Hauptraums des Ladens war das Zimmer mit Menschen vollgestopft, die
Schulter an Schulter, und Ferse an Ferse standen. Jeder einzelne von
ihnen hatte seine Augen weit geöffnet, und starrte sie ohne ein
einziges Augenzwinkern an!
Informationen
Spiritueller-Fallen-Beutel:
Früher nannte man ihn den Spirituellen-Gefangenen-Beutel und er
diente dem Fangen und Versiegeln (auf Zeit) kleinerer spiritueller
Wesen und Geister.
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