Kapitel
27: Bosheit – Teil Fünf
Aaaaaahhhh!
Was
ist denn noch in den Wänden begraben?!
Erst
dann drehte sich Lan WangJi wieder nach vorne, der Blick war jedoch
noch leicht zur Seite gerichtet. Als er das sah, blinzelte Wei WuXian
mit den Augen und wollte sich aus irgendeinem Grund über ihn lustig
machen. Gerade, als er im Begriff war, Lan WangJi zu necken, kam ein
klapperndes Geräusch plötzlich vom Tisch. Sie standen beide auf, um
nachzusehen. Die Teetassen und die Teekanne lagen zerbrochen auf dem
Boden. Ein Qiankun-Beutel lag zwischen den weißen Scherben aus
Porzellan und dem Tee, der ausgelaufen war. Die Oberfläche des
Beutels ging auf und ab, als ob etwas im Inneren eingeschlossen wäre,
und versuchte, herauszukommen.
Obwohl
der Qiankun-Beutel nur so groß wie eine Faust war, war er speziell
für die Aufbewahrung von Gegenständen entwickelt worden. Komplexe
Beschwörungen waren sowohl auf die Innenseite als auch auf die
Außenseite genäht, und es waren zusätzlich noch weitere
Versiegelungsschichten angebracht worden.
Lan
WangJi hatte ursprünglich den Arm im Inneren des Beutels versiegelt
und diesen unter eine Tasse auf den Tisch gelegt. Jetzt, als sie
seine Erregung sahen, erinnerten sie sich schließlich daran, dass es
an der Zeit war, 'Ruhen' zu spielen. Wenn sie nicht ihre kurzen
nächtlichen Duette spielten, um es zu beruhigen, dann wäre es egal
wie stark die Unterdrückungskraft des Qiankun-Beutels wäre, denn
dieser würde die Geisterhand nicht allein gefangen halten können.
Wei
WuXian tastete nach seiner Bambusflöte, die an seiner Taille hing,
fand sie aber nicht. Als er sich umdrehte, sah er, dass Lan WangJi
die Flöte bereits in den Händen hielt. Lan WangJis Kopf neigte sich
leicht nach unten. Er reichte ihm erst die Flöte zurück, nachdem er
eine Weile an ihr auf eine sehr energische Weise geschnitzt hatte.
Wei
WuXian nahm die Flöte entgegen und bemerkte, dass er die Flöte
angepasst hatte, selbst die groben Details wie die Grifflöcher
waren nun viel feiner.
Lan
WangJi, „Spiel es richtig."
Sich
an das schreckliche Duett erinnernd, welches sie im Mingshi gespielt
hatten, und Lan QiRen so erzürnt hatte, dass er zunächst vor Wut
aus seinem Koma erwacht und dann wieder in Ohnmacht gefallen war,
ließ Wei WuXian so stark lachen, dass er fast auf den Boden gefallen
wäre und er bei sich dachte: Es muss hart für ihn gewesen sein
in den letzten Tagen, um das so lange zu tolerieren.
Er
hielt sich davon ab, länger herumzualbern und, mit einem ernsten
Ausdruck, hob die Flöte an seine Lippen. Allerdings, nachdem er nur
ein paar Töne gespielt hatte, vervielfachte sich der Qiankun-Beutel
plötzlich in seiner Größe und stand aufrecht auf dem Boden! Eine
Note wurde mit einem 'tut' abgeschnitten. Wei WuXian kommentierte:
„Hat es sich zu sehr an mein schlechtes Spiel gewöhnt? Da spiele
ich ausnahmsweise mal vernünftig, und es gefällt ihm nicht einmal."
Als
ob er ihm antworten würde, flog der Qiankun-Beutel auf Wei WuXian
zu. Lan WangJis Melodie nahm eine scharfe Kurve. Mit einer sanften
Geste vibrierten die sieben Saiten auf einmal und strahlten einen so
starken Impuls aus, dass es fast wie eine Lawine aussah. Nach dem Ton
fiel der Qiankun-Beutel wieder rückwärts auf den Boden. Als ob
nichts passiert wäre, fuhr Wei WuXian damit fort, weiterzuspielen.
Lan WangJis Bewegungen aus dem Handgelenk wurden weicher. Der Melodie
von 'Ruhen' folgend, wurde auch die Melodie der Guqin wieder ruhig
und verschmolz allmählich mit den Flötentönen.
Das
Lied endete, und der Qiankun-Beutel schrumpfte schließlich wieder
auf die Größe, die er zuvor gehabt hatte und blieb bewegungslos.
Wei WuXian steckte die Flöte wieder an seine Taille zurück, „In
den letzten Tagen war es noch nie so ungeduldig wie jetzt. Es
scheint, als ob es durch etwas provoziert werden würde."
Lan
WangJi nickte und wandte sich an ihn: „Und, es ist etwas an dir."
Wei
WuXian blickte sofort auf sich selbst nach unten. Seit heute gab es
nur eine Sache an ihm, die anders war – das Fluchzeichen, das er
von Jin Ling auf sich selbst übertragen hatte.
Jin
Lings hatte das Fluchzeichen wohl erhalten, als er in den Steinburgen
des Xinglu Grates war. Da er nun gesehen hatte, wie stark die
Geisterhand auf das Fluchzeichen reagierte, bedeutete das wohl,
dass.....
Wei
WuXian, „Meinst du, dass sich ein anderer Teil seines Körpers
innerhalb der Mauern des Nie-Sekten-Säbelsaals befindet?"
Am
nächsten Morgen brachen die beiden wieder auf und machten sich auf
den Weg zurück zum Xinglu Grat. Gestern war Nie HuaiSang erwischt
worden und hatte ihnen alles gestanden. Über Nacht hatte er wohl
alle zuverlässigen Schüler der Sekte zusammen gerufen, um das
Chaos, das die Eindringlinge verursacht hatten, zu beseitigen.
Als
Wei WuXian und Lan WangJi dort ankamen, war das Stück Mauer, aus dem
Wei WuXian Jin Ling heraus gegraben hatte, wohl gerade wieder
aufgefüllt und bereits eine neue Leiche hineingelegt worden. Beim
Betrachten der ordentlich gestapelten weißen Ziegelsteine, wischte
er sich etwas Schweiß von den Augenbrauen. Doch als er sich umdrehte
gaben beinahe seine Beine unter ihm nach. Er versuchte ein
zerknittertes Lächeln auf seinem Gesicht, „HanGuang-Jun...und
du...."
Wei
WuXian winkte mit den Händen, während er grinste: „Sektenführer
Nie, du baust die Wände wieder auf?"
Nie
HuaiSang wischte sich den Schweiß mit seinem Taschentuch weg und
rieb dabei so oft, dass er sich wohl fast eine Hautschicht dabei
entfernte, „Ja, ja..."
Wei
WuXian sagte mit einer Stimme, die mit viel Einfühlungsvermögen und
einem Hauch von Schüchternheit erfüllt war: „Ich bitte vielmals
um Verzeihung. Es tut mir wirklich leid für die Unannehmlichkeiten,
aber es könnte sein, dass du die Mauer danach nochmal aufbauen
musst."
Nie
HuaiSang, „Ja, ja.... Moment! Was?! Warte!"
Bevor
er seinen Satz beenden konnte, hatte sich Bichen schon aus seiner
Scheide gezogen. Nie HuaiSang starrte fassungslos, als er mit ansehen
musste, wie die Ziegelwand, die er gerade erst repariert hatte,
wieder aufgebrochen wurde.
Zerstörung
war immer einfacher als die Wiederherstellung. Wei WuXians
Geschwindigkeit, die Steine heraus zu reißen war unzählige Male
schneller als ihre Geschwindigkeit beim Stapeln der Steine. Nie
HuaiSang erzitterte, während er sich noch fester an seinen Fächer
klammerte und er fühlte sich so unwohl, dass er kurz davor stand, in
Tränen auszubrechen.
Doch
weil HanGuang-Jun an seiner Seite stand und nichts dazu sagte, wagte
er es auch nicht, etwas zu erwidern. Nachdem Lan WangJi ihm die
Situation kurz und bündig erklärt hatte, beschwor er sofort Himmel
und Hölle: „Unsinn! Das ist völliger Unsinn! Die Leichen, die wir
für unsere Säbelhalle benutzen, sind alle vollständig mit jedem
Glied. Es ist unmöglich, dass es dort eine armlose männliche Leiche
gibt. Wenn du mir nicht glaubst, werde ich die Mauer mit dir
zerlegen, um meine Unschuld zu beweisen. Aber danach musst du alles
so schnell wie möglich und ohne jegliche Verzögerung wieder
herrichten. Schließlich ist das hier unser angestammtes
Gräberfeld...."
Einige
Schüler der Nie-Sekte schlossen sich ihnen ebenfalls an. Nun, da es
andere Leute gab, die die Arbeit machten, wich Wei WuXian zurück,
stand an der Seite und wartete auf Ergebnisse. Nach einer Stunde
waren die Steinziegel an der Wand, in der Jin Ling begraben worden
war, größtenteils alle entfernt. Einige Jünger trugen
Gesichtsmasken, während andere spezielle rotfarbene Pillen
schluckten, so dass die Atmung der Jünger und ihre menschliche
Energie keine Verwandlungen bei den Leichen verursachen konnten.
Zwischen all dem schwarzen Schmutz, stieß dort mal eine Aschehand
oder an anderer Stelle ein geäderter Fuß hervor, zu den zusätzlich
überall sichtbaren wirren, unheimlichen Haaren, die alles
zupflasterten. Jeder einzelne männliche Leichnam wurde hastig
gereinigt und in eine Reihe auf den Boden gelegt.
Die
Leichen waren in allen Formen und Größen - einige waren bereits
Skelette, andere waren inmitten ihres Verrottungsprozesses, und
andere waren noch ganz frisch. Aber jeder einzelne von ihnen hatte
einen vollständigen Körper. Sie fanden keine männliche Leiche, der
ein linker Arm fehlte.
Nie
HuaiSang sprach vorsichtig: „Es reicht doch, dass wir diese eine
Mauer zerlegt haben, nicht wahr? Muss noch mehr entfernt werden?
Wahrscheinlich nicht, oder?"
Es
war in der Tat genug. Das Fluchzeichen auf Jin Lings Körper war
extrem dunkel gewesen und daher musste das Wesen, das es erschaffen
hatte, höchstwahrscheinlich in seiner unmittelbaren Nähe begraben
gewesen sein und die Reichweite würde definitiv nicht über diese
Wand hinaus reichen. Wei WuXian hockte sich vor der Reihe von Leichen
nieder. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, wandte er sich kurz
darauf an Lan WangJi, „Sollen wir den Qiankun-Beutel holen?"
Die
linke Hand aus dem Qiankun-Beutel zu nehmen, um den eigenen Körper
selbst zu identifizieren, wäre vielleicht keine schlechte Idee. Wenn
sie jedoch zu nah an den anderen Leichen dran wäre, dann wäre es
schwer zu vermeiden, dass sie diese aufwühlen und schlimmere
Situationen auslösen könnte. Und aufgrund des Überflusses an
dunkler Energie an diesem speziellen Ort würde sich das
Gefahrenniveau vervielfachen. Deshalb hatten sie nach sorgfältiger
Überlegung entschieden, tagsüber zu kommen. Wei WuXian schüttelte
den Kopf und dachte bei sich selbst: Das bedeutet nicht, dass der
Arm hier keinem Mann gehört, oder? Nein, das hier ist unmöglich.
Ich kann nicht einmal auf dem ersten Blick sagen, ob eine Hand einem
Mann oder einer Frau gehört.... Würde das dann bedeuten, dass der
Besitzer drei Arme hatte?!
Gerade
als er über seinen eigenen Gedanken lachen wollte, sprach Lan WangJi
wieder: „Die Beine."
Durch
seinen Hinweis erinnerte sich Wei WuXian schließlich daran. Er hatte
die Tatsache vernachlässigt, dass das Fluchzeichen sich bislang
nicht weiter ausgebreitet hatte als auf seine Beine. Er rief schnell:
„Zieht ihnen die Hosen aus! Zieht ihnen die Hosen aus!"
Nie
HuaiSang war schockiert: „Warum nimmst du solch beschämende Wörter
vor HanGuang-Jun in den Mund?"
Wei
WuXian antwortete: „Wie können sie denn beschämend sein? Wir sind
doch sowieso alles Männer hier. Hilf mir dabei allen Leichen die
Hosen auszuziehen. Aber nur den männlichen Leichen! Das hier hat
nichts mit den Weiblichen zu tun."
Während
er sprach, fing er an, nach den Gürtelschnallen der Leichen auf dem
Boden zu greifen. Das war wirklich unglücklich für Nie HuaiSang. Er
hatte überhaupt nicht erwartet, nachdem er ihnen gestern alles
gestanden hatte, dass er heute den Leichen in der Säbelhalle seiner
Vorfahren die Hosen ausziehen musste. Außerdem waren es männliche
Leichen. Mit einem Gesicht voller Tränen, dachte er, dass er nach
seinem Tod sicher einmal von jedem seiner Vorfahren in der
QingheNie-Sekte auf das Gesicht geschlagen werden würde und er dann
am Ende so schwer verletzt wäre, dass er sogar mit diesen
Verletzungen wiedergeboren wurde. Glücklicherweise wurde Wei WuXians
Tat von Lan WangJi gestoppt. So wie Nie HuaiSang im Begriff war zu
loben, wie würdig er seinem Titel HanGuang-Jun war, sprach dieser:
„Ich werde es tun."
Wei
WuXian, „Du willst es tun? Du willst so etwas wirklich tun?"
Die
Ecken von Lan WangJis Augenbrauen schienen leicht zu zucken, als ob
er sich etwas verkneifen würde. Er wiederholte: „Beweg dich nicht.
Ich werde es tun."
Das
war der schlimmste aller Schocks, den Nie HuaiSang heute miterleben
musste. Natürlich würde Lan WangJi nicht wirklich mit den Händen
die Hosen der Leichen ausziehen. Er benutzte einfach Bichen und
öffnete damit die zuvor leicht aufgeschnittene Kleidung der Leichen,
um die Haut darunter freizulegen. Das war bei einigen der Leichen
nicht einmal mehr nötig, da ihre Kleidung bereits ziemlich
zerklüftet war. Wenige Augenblicke später sagte er: „Ich habe es
gefunden."
Alle
blickten sofort auf den Boden. Auf beiden Oberschenkeln der Leiche
neben Lan WangJis weißen Stiefeln, befanden sich zwei helle,
kreisförmige Markierungen. Die Nähte der fleischfarbenen Fäden
waren sehr engmaschig. Es gab einen schwachen farblichen Unterschied
der Haut oberhalb und unterhalb der Naht. Offensichtlich gehörten
die Beine und der Oberkörper der Leiche nicht der gleichen Person.
Dieses Beinpaar war von jemandem angenäht worden!
Nie
HuaiSang war bereits sprachlos schockiert. Wei WuXian erkundigte
sich: „Wer sucht die Leichen aus, die für die Säbelhalle der
Nie-Sekte benutzt werden?"
Nie
HuaiSang antwortete mit einem glasigen Ausdruck: „Normalerweise
haben das die früheren Sektenführer zu ihren Lebzeiten entschieden
und sie dann eingelagert. Mein Bruder ist in einem sehr frühen Alter
gestorben. Er hatte noch nicht genug zurückgelegt, also habe ich ihm
auch geholfen, ein paar auszuwählen.... Ich habe einfach jede Leiche
genommen, die komplett und mit allen Gliedmaßen war. Ich weiß
nichts anderes als das...."
Es
wäre unmöglich, aus ihm herauszubekommen, wer genau die Leiche hier
herein geschmuggelt hatte. Unter den Leuten, die die Leichen den
Jüngern der Nie-Sekte zur Verfügung stellten, gab es unzählige
Verdächtige.
Es
war wahrscheinlich, dass die Wahrheit nur enthüllt werden würde,
wenn sie alle Leichenteile fanden und sie die Leiche und ihre Seele
wieder zusammensetzen würden.
Nachdem
es ihnen schließlich gelungen war, das Beinpaar und die andere
Hälfte der männlichen Leiche voneinander zu trennen, steckte Wei
WuXian sie in einen neuen Qiankun-Beutel, während er mit Lan WangJi
sprach: „Sieht ganz so aus als wäre unser lieber Freund hier in
Stücke geschnitten worden. Und nicht nur das, seine Teile sind auch
noch über das gesamte Gebiet verteilt - ein Stückchen hier und ein
Stückchen da. Wie viel Hass empfand wohl sein Mörder für ihn? Wir
können nur hoffen, dass die verbliebenen Stücke nicht allzu klein
sind."
Obwohl
Nie HuaiSang ihnen sagte, „Wir sehen uns", als sie losgingen,
so konnte man anhand seines verängstigten Gesichts davon ausgehen,
das er sie wahrscheinlich für den Rest seines Lebens nie wieder
sehen wollte. Die beiden verließen den Xinglu Grat und kehrten zum
Gasthaus zurück. Als sie an einem relativ sicheren Ort ankamen,
nahmen sie die drei Gliedmaßen heraus und begannen, sie zu
untersuchen. Wie sie erwartet hatten, waren die beiden Beine in der
gleichen Farbe wie der abgetrennte Arm. Und wenn man sie nah
beieinander legte, dann reagierten sie sehr stark darauf, fingen an,
ununterbrochen zu vibrieren, so als wollten sie sich zusammenfügen.
Aber alle Bemühungen waren nutzlos, solange es da noch einen Teil
des Körpers gab, der zwischen ihnen fehlte. Aber es war absolut
sicher, dass sie zu derselben Person gehörten.
Abgesehen
von der Tatsache, dass es sich um einen Mann mit einem hohen
Körperbau, langen Gliedmaßen, einem muskulösen Körper, und einem
hohen Maß an Kultivierung handelte, wussten sie nichts über diese
mysteriöse Leiche.
Glücklicherweise
zeigte die Geisterhand bald darauf, wohin sie die nächsten Schritte
ihrer Reise machen würden - nämlich nach Südwesten. Der
angegebenen Richtung folgend, machten sich Wei WuXian und Lan WangJi
auf den Weg nach Yueyang.
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