Donnerstag, 27. Juni 2019

Kapitel 22

Kapitel 22



Kapitel 22: Zufriedenheit – Teil Vier
Menschenfressender Grat

Das Geräusch kam von überall um sie herum.

Es war ein Meer aus Flüstern, Knistern und Kichern, von vorne und hinten, von oben und unten. Die Stimmen waren männlich und weiblich, alt und jung, laut und leise. Wei WuXian konnte sogar ein paar fragmentarische Sätze hören, aber sie kamen und gingen und erlaubten es ihm nicht, bestimmte Wörter zu verstehen.

Es war wirklich zu laut.

Wei WuXian drückte weiterhin mit einer Hand auf seine Schläfe und benutzte die andere, um sich einen Handflächengroßen 'Kompass des Bösen' aus dem Qiankun-Beutel zu ziehen. Die Zeiger auf dem Kompass wackelten zweimal, dann begannen sie, sich immer schneller zu drehen. Wenige Augenblicke später drehten sie sich wie verrückt!

Letztes Mal, auf dem Berg Dafan, war es schon seltsam gewesen, als der 'Kompass des Bösen' nicht die Richtung finden konnte. Diesmal ging er sogar so weit, sich ganz von selbst zu drehen, ohne dabei eine einzige Pause einzulegen. Diese Situation war noch unglaublicher als Zeiger, die sich überhaupt nicht bewegten!

Der unheilvolle Schatten auf Wei WuXians Herzen wurde immer dichter. Er rief laut: „Jin Ling!"

Die beiden waren bereits eine Weile in die steinerne Burg hineingegangen, aber sie hatten niemanden gesehen. Wei WuXian hatte ein paar Mal geschrien, ohne eine Antwort zu erhalten. Die ersten Steinzimmer waren alle leer, aber als sie tiefer in eines der Zimmer hineingingen, war in der Mitte des Raumes ein schwarzer Sarg.

Es war schon seltsam, dass hier ein Sarg auftauchte. Das verwendete Holz war jedoch tiefschwarz und die Form deutete ebenfalls auf hohe handwerkliche Kunst hin. Als Wei WuXian das sah, spürte er eine außergewöhnliche starke Affinität zu ihm. Er konnte nicht anders, als ihn ein paar Mal zu tätscheln. Das Holz war stabil und der Klang war fest. Er lobte ihn: „Was für ein schöner Sarg."

Lan WangJi und Wei WuXian standen auf gegenüberliegenden Seiten des Sarges. Nach einem kurzen Blickwechsel zwischen ihnen, streckten sie gleichzeitig ihre Arme aus und öffneten den Deckel.

In dem Moment, als der Deckel geöffnet wurde, vervielfachte sich der Lärm um sie herum plötzlich und überschwemmte Wei WuXians Ohren wie eine große Flutwelle. Es war, als wären sie schon vorher heimlich von unzähligen Augenpaaren beobachtet worden - die Besitzer dieser Augen beobachteten und überwachten sie stillschweigend, diskutierten jedes Wort, das sie sprachen, jede Handlung, die sie durchführten, und wurden plötzlich aufgeregt, als sie sahen, dass der Sarg bald geöffnet werden sollte. Wei WuXian dachte an einige Dutzend Möglichkeiten, bereits darauf vorbereitet, sich gegen starke Gerüche von Ranzigkeit und gegen Krallen von Monstern, ein Überlauf von giftigem Wasser, giftiger Rauch, der sich schnell verteilte, oder Angriffen von verärgerten Geistern zu wehren. Natürlich war es sein größter Wunsch, Jin Ling zu sehen. Trotzdem, es passierte nichts. Nichts. Überraschenderweise war dies ein leerer Sarg.















Wei WuXian war ein wenig erschrocken, aber auch ein wenig enttäuscht über die Tatsache, dass Jin Ling nicht hier drin steckte. Lan WangJi ging etwas näher heran. Bichen zog sich noch für ein paar Zentimeter mehr von selbst heraus, damit sein kaltes Licht bis auf den Boden des Sarges scheinen konnte. Erst da bemerkte Wei WuXian, dass der Sarg nicht leer war, sondern dass das Objekt im Inneren viel kleiner war als das, was er erwartet hatte und sich im tiefsten Teil des Sarges versteckt hielt.

Im Inneren des Sarges lag ein langer Säbel.



Der Säbel hatte keine Scheide. Der Griff schien aus Gold gegossen worden zu sein, was den Anschein erweckte, als wäre er ziemlich schwer im Gewicht. Sein Körper war schlank und seine Klinge glänzte. Auf einer roten Schicht Stoff ruhend am Boden des Sarges, reflektierte er in einem blutig scharlachroten Farbton und strahlte einen kühlen Hauch von Zerstörung aus.
Ein Säbel war anstatt einer Leiche in den Sarg gelegt worden. Es gab wirklich keinen Ort, an dem es eigenartiger erschienen wäre als in diesen Steinburgen am Xinglu Grat, wo mit jedem Schritt, den sie taten, mehr Geheimnisse offenbart wurden.

Die beiden schlossen den Sargdeckel und gingen weiter. Sie fanden andere Särge wie diesen in anderen Räume. Betrachtete man die Textur des Holzes, so waren sie unterschiedlichen Alters. Und, in jedem Sarg befand sich ein langer Säbel. Selbst als sie bis in den letzten Raum gegangen waren gab es immer noch keine Spur von Jin Ling. Wei WuXian schloss den Deckel des Sarges und fühlte sich leicht besorgt an.

Als Lan WangJi seine zusammengezogenen Augenbrauen sah, dachte er für einen Moment nach, legte dann seine Guqin horizontal auf dem Sarg und hob seine Hand. Eine Melodie strömte aus seinen Fingern. Er spielte nur einen kurzen Ausschnitt und nahm dann seine rechte Hand von der Guqin weg. Er starrte aufmerksam auf die noch schwingenden Saiten.
Plötzlich zitterten die Saiten, und eine Note erklang von selbst.

Wei WuXian fragte: „Anfrage?"

Die Anfrage war ein berühmtes Stück, das von einem Vorfahren in der GusuLan-Sekte komponiert wurde. Anders als 'Heraufbeschwörung', wurde es verwendet, wenn die Identität des Opfers unbekannt war und es kein Medium gab. Der Spieler benutzte Noten des Guqins, um Fragen an das Opfer zu stellen, während die Antworten des Opfers durch die 'Anfrage' in Melodien umgewandelt und auf den Saiten dargestellt wurden.

Wenn die Saiten von selbst vibrierten, bedeutete das, dass Lan WangJi bereits einen Geist mit in das Schloss gebracht hatte. Danach begannen die beiden mit den Fragen und Antworten in der Sprache des Guqins.

Die Sprache des Guqins war eine besondere Fertigkeit, die einzigartig für die GusuLan-Sekte war. Obwohl Wei WuXian eine Vielzahl von Dingen wusste, so gab es doch einiges, was er nie hatte erlernen können, wie z.B. die Sprache des Guqin. Er flüsterte: „HanGuang-Jun, hilf mir es zu fragen, was das hier für ein Ort ist? Wofür er da ist und wer ihn gebaut hat."

Da er die Sprache beherrschte, spielte Lan WangJi ohne zu zögern selbstbewusst einige wenige klare Noten. Nach ein paar Augenblicken spielten die Saiten zwei Töne von allein. Wei WuXian fragte schnell: „Was hat es gesagt?"

Lan WangJi, „Ich weiß es nicht."

Wei WuXian, „Was?"

Lan WangJi antwortete in aller Ruhe: „Es hat gesagt: 'Ich weiß es nicht'."

..."

Wei WuXian sah ihn an und erinnerte sich plötzlich an ein Gespräch über 'was auch immer' von vor ein paar Jahren. Seine Nase antippend, war er sprachlos und dachte: Lan Zhan ist so gescheit. Er hat sogar gelernt, wie man mich sprachlos macht.

Nach der ersten unbeantworteten Frage spielte Lan WangJi einen weiteren Satz. Die Saiten antworteten erneut, mit den gleichen zwei Noten wie zuvor. Wei WuXian konnte das diesmal erkennen, die Antwort war auch 'Ich weiß es nicht'. Er fragte: „Was hast du diesmal gefragt?"

Lan WangJi, „Wie es starb."

Wei WuXian, „Wenn es hinterrücks getötet würde, weil es nicht aufpasst hat, dann würde es erklären, warum es nicht weiß, wie es gestorben ist. Warum fragst du es nicht, ob es weiß, wer es getötet hat?"

Lan WangJi hob die Hände, um eine weitere Phrase zu spielen. Doch die Antwort waren die gleichen beiden Töne - „Ich weiß es nicht."

Es war ein Geist, der hier gefangen war, aber der nicht wusste, wo er war, wie er starb und wer ihn getötet hatte. Dies war auch das erste Mal, dass Wei WuXian eine so verstorbene Person traf. Nach einem kurzen Gedankenwechsel, sprach er wieder: „Dann fragen wir etwas anderes. Frag es, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Es gibt keine Möglichkeit, dass es das nicht weiß."

Lan WangJi tat, was ihm gesagt wurde. Nachdem er seine Hände weggenommen hatte, erklang eine weitere Saite auf starke Art und Weise. Lan WangJi übersetzte: „Ein Mann."

Wei WuXian, „Nun wissen wir endlich etwas, was? Frag noch einmal, ob ein Junge von fünfzehn oder sechzehn Jahren hier rein gekommen ist."

Es antwortete: „Ja."

Wei WuXian fragte erneut: „Wo ist er dann gerade?"

Die Saiten hielten einen Moment inne und antworteten dann. Wei WuXian beeilte sich und fragte: „Was hat er gesagt?"

Lan WangJis Gesicht war ernst: „Er sagte: 'Genau hier'."

Wei WuXian war verblüfft. 'Hier' bezog sich wahrscheinlich auf diese Steinburg. Aber sie hatten zuvor den ganzen Ort hier abgesucht und hatten Jin Ling nicht gesehen. Wei WuXian sprach: „Er kann nicht lügen, oder?"

Lan WangJi, „Ich bin hier, also kann er das nicht."

Tatsächlich konnte es das nicht. Die nachfragende Person war HanGuang-Jun. Unter seiner Kontrolle, konnte der Geist, der kam, nicht lügen und hatte definitiv mit der Wahrheit geantwortet. Wei WuXian fuhr damit fort, diesen Raum zu durchsuchen und suchte nach irgendwelchen Mechanismen oder geheimen Räumen, die er übersehen haben könnte. Nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte, spielte er noch ein paar weitere Sätze. Aber nachdem er die Antwort erhalten hatte, änderte sich sein Gesichtsausdruck leicht. Als Wei WuXian dies sah, fragte er: „Was hast du diesmal gefragt?"
Lan WangJi, „Wie alt er war, und wo er herkam."

Beide Fragen waren Versuche, die Identität des Geistes herauszufinden. Wei WuXian wusste, dass er definitiv eine Art unkonventionelle Antwort erhalten würde: „Und was kam raus?"

Lan WangJi, „Fünfzehn, aus Lanling."

Auch der Ausdruck von Wei WuXian änderte sich.
Die Seele, die die 'Anfrage' gefunden hatte, war Jin Ling?!
Er hörte aufmerksam zu. Inmitten des Lärms, der hier zu sein schien, waren wirklich ein paar schwache Schreie von Jin Ling zu hören. Sie waren jedoch zu schwach und undeutlich. Lan WangJi fragte weiter. Wei WuXian wusste, dass er nach dem genauen Standort fragte, also starrte er fest auf die Saiten der Guqin und wartete auf Jin Lings Antwort.

Diesmal kam die Antwort etwas langsamer. Nachdem er mit dem Zuhören fertig war, sprach Lan WangJi zu Wei WuXian, „'Steh da, wo du bist, schaue nach Südwesten und höre auf die Saiten. Nachdem eine Note gespielt wird, gehe einen Schritt vorwärts. Wenn der Ton aufhört, befindet es sich direkt vor dir'."

Ohne ein Wort zu sagen, wandte sich Wei WuXian dem Südwesten zu. Hinter ihm erklangen sieben Noten des Guqin, also ging er sieben Schritte vorwärts. Wie auch immer, es erschien nichts vor ihm. Die Noten gingen weiter, aber die Pause zwischen ihnen wurde immer länger, und so ging er auch immer langsamer und langsamer. Ein weiterer Schritt, und ein weiterer, und ein weiterer, und ein weiterer.....
Nach dem sechsten Schritt war die Guqin schließlich still. Es ertönte kein Ton mehr.
Und vor ihm gab es nur eine Mauer.

Die Wand bestand aus grau-weißen Felssteinen, die eng aneinandergereiht waren. Wei WuXian drehte sich herum, „.... er ist in der Wand?!"

Bichen löste sich sofort aus seiner Ummantelung. Vier Streifen blauen Lichts fegten vorbei, und ein ordentlich geschnitztes Zeichen war auf der Wand zu sehen. Die beiden gingen nach vorne, um die Ziegel auseinanderzunehmen. Nachdem sie einige von ihnen entfernt hatten wurde ein großes Stück schwarzen Schmutzes freigelegt.
Es schien, dass die Steinburg zweischichtig gebaut wurde, angefüllt mit Schmutz zwischen den zwei harten Schichten aus Steinen. Wei WuXian grub mit bloßen Händen einen großen Teil des Drecks heraus und umgeben von dem kohlschwarzen Schmutz lag das Gesicht eines Menschen mit fest geschlossenen Augen.

Es war der vermisste Jin Ling!

Als sein Gesicht nicht länger von Schmutz umhüllt war, strömte Luft in Jin Lings Mund und Nase. Er begann sofort zu husten und zu atmen. Als Wei WuXian sah, dass er noch am Leben war, beruhigte sich sein Herz endlich. Jin Ling wäre wirklich fast gestorben. Ansonsten hätte die 'Anfrage' die immer noch lebende Seele nicht fangen können, die im Begriff gewesen war, seinen Körper zu verlassen. Das Gute daran war, dass nur eine kurze Zeit vergangen war, nachdem er in der Wand begraben worden war. Wenn es noch länger gedauert hätte, dann wäre er in der Wand erstickt.

Die beiden beeilten sich, ihn aus der Wand zu holen. Aber wer hätte gewusst, dass, als würde sich Schmutz an einer Karotte festhalten, die aus dem Boden gezogen wird, in dem Moment, als Jin Lings Oberkörper aus dem Dreck auftauchte, das Schwert auf seinem Rücken anfing, sich an etwas anderem abzustoßen und ihn so herausdrückte.
Es war ein aschgrauer Knochen eines anderen menschlichen Armes!
Lan WangJi legte Jin Ling flach auf den Boden und fühlte nach seinem Puls. Wei WuXian nahm andererseits die Scheide von Bichen und fing geschickt an, im Dreck entlang der Länge des Knochens herumzustochern. Nach kurzer Zeit tauchte ein komplettes Skelett vor ihren Augen auf.

Dieses Skelett war in der gleichen Position wie Jin Ling ausgesehen hatte, als er stehend begraben in der Wand gewesen war. Mit grässlich blassen Knochen und pechschwarzem Schmutz - der Kontrast war deutlich und doch wirkte es grell auf das Auge. Wei WuXian grub ein wenig mehr durch den Boden und brach dabei ein paar Stücke der Ziegelsteine an der Seite ab. Nachdem er noch mehr herum gegraben hatte, fand er in der Nähe noch ein weiteres Skelett.

Dieses war noch nicht vollständig verfallen. Da war noch etwas Fleisch auf den Knochen, und es befand sich langes, schmutziges Haar auf dem Schädel. Anhand der zerklüfteten Kleidung in der Farbe eines verdünnten Rottons konnte man erkennen, dass dies eine Frau gewesen war. Aber sie stand nicht, denn ihr Skelett beugte sich nach unten. Der Grund dafür war, dass es neben ihr ein drittes Skelett gab, das sich an
ihre Füße geklammert hatte.

Wei WuXian hörte auf, weiter zu graben.

Er machte ein paar Schritte zurück. Das Geräusch in seinen Ohren war so wild und turbulent wie Flutwellen. Er konnte sich fast sicher sein. Das komplette Innere der dicken Mauern dieser Steinburg war übersät mit menschlichen Leichen.

Ob oben, unten, Südost, Nordwest; Stehend, sitzend, liegend, hockend.....

Was um alles in der Welt war das hier?!








Informationen
Anfrage (Inquiry): Die wörtliche Bedeutung davon ist "einen Geist zu fragen".

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