Kapitel
112: WangXian – Teil Zwei
Süß
Drei Monate später, in
Guangling.
In einem Berggebiet
befand sich eine größere Menge an Dorfbewohnern, die mit Fackeln
und landwirtschaftlichen Werkzeugen bewaffnet langsam einen Waldweg
auf einen Berg hinauf marschierten.
Auf diesem Berg befand
sich ein namenloser Friedhof, der in den letzten Monaten nicht mehr
ganz so friedlich gewesen war. Nachdem sie ständig von Geistern
verfolgt worden waren, hatten es die Dorfbewohner am Fuße des Berges
nicht mehr länger ertragen können und ein paar vorbeikommende
Kultivierende darum gebeten, mit ihnen gemeinsam den Berg
hinaufzugehen und die Wurzel des Übels zu zerstören.
Mit dem Einbruch der
Dunkelheit wurde das Zirpen der Insekten immer deutlicher. Ab und zu
hörte man Rascheln aus dem hüfthohen Gras, als ob eine unbekannte
Kreatur darin lauern würde, jederzeit bereit zum Angriff. Aber wenn
man sich das Gras nervös näher betrachtete und man im Schein der
Fackel genauer hinsah, erwies es sich als ein weiterer Fehlalarm.
Die Kultivierenden
hielten ihre Schwerter erhoben und führten die Dorfbewohner
vorsichtig durch das Gras und in den Wald.
Direkt im Wald befand
sich der Friedhof. Die Grabsteine aus Stein oder Holz waren teilweise
verrottet oder umgefallen. Ein finsterer, eisiger Wind schien über
die ganze Szenerie zu wehen. Die Kultivierenden tauschten einen Blick
miteinander aus, nahmen ihre Talismane heraus und bereiteten sich
darauf vor, die Geister zu exorzieren. Einige der Dorfbewohner sahen
ihre ruhige Gelassenheit und seufzten erleichtert auf und folgerten
daraus, dass die Situation nicht allzu schwierig war.
Aber noch bevor sie sich
zu sehr erleichtert fühlen konnten, hörten sie einen lauten Knall.
Eine stark verstümmelte Leiche knallte in einen Haufen Dreck genau
vor ihnen.
Der Dorfbewohner, der dem
Dreckhaufen am nächsten war, kreischte laut auf und warf seine
Fackel weg, ehe er die Beine in die Hand nahm und davon stürmte.
Unmittelbar danach fielen ihnen auch eine zweite, eine dritte und
eine vierte blutverschmierte Leiche vor die Füße. Fast so, als ob
sie vom Himmel herabregnen würde, fielen die Leichen unaufhörlich
zu Boden. Schreie ertönten sofort im ganzen Wald. Die Kultivierenden
hatten eine solche Situation noch nie zuvor gesehen, aber sie blieben
trotz des Schocks furchtlos. Der Anführer rief: „Lauft nicht weg!
Keine Panik! Es sind nur ein paar kleinere Geister....“
Bevor er fertig
gesprochen hatte, und als hätte man ihm den Hals zugedrückt,
erstarb seine Stimme. Er blickte zu einen Baum. Eine Person saß in
diesem Baum mit baumelnden Beinen und schwarzen Roben. Einer der
schlanken, schwarzen Stiefel schwang leicht hin und her, als ob
derjenige vollkommen entspannt, ja, fast amüsiert wäre.
An der Taille der Person
befand sich eine dunkle, glänzende Flöte, und an dieser Flöte hing
eine blutrote Quaste, die langsam entlang seines Beines mitschwang.
Der Gesichtsausdruck der
Kultivierenden änderte sich sofort.
Die Dorfbewohner schienen
bereits ihren Verstand zu verlieren. Nach dem Ausruf zuvor schienen
sie sich etwas beruhigt zu haben, doch nun sahen sie die bleichen
Kultivierenden, wurden sofort wieder panisch und stürzten einer
Windböe gleich aus dem Wald und den Berg hinunter. Sie ließen die
Kultivierenden in der Annahme zurück, dass sich auf dem Berg eine
schreckliche Kreatur befinden müsse, die nicht einmal diese
Kultivierenden bewältigen konnten. Im Handumdrehen verstreuten sie
sich wie eine Horde verängstigter Tiere. Einer der Dorfbewohner lief
etwas langsamer und fiel zurück, als er auf dem Boden stolperte und
mit seinem Gesicht im Schlamm landete. Er dachte, dass sei nun sein
Ende, da er allein zurückgelassen worden war, aber plötzlich sah er
einen jungen Mann in Weiß vor sich stehen. Seine Augen erhellten
sich sofort.
Der Mann, der ein Schwert
an seiner Taille trug, schien von einem schummrigen Licht umgeben zu
sein, das fast himmlisch inmitten des dunklen Waldes wirkte. Er
schien nicht wie ein normaler Mensch zu sein. Der Dorfbewohner
beeilte sich, um ihn um Hilfe zu bitten: „Junger Meister! Junger
Meister! Hilf mir, da ist ein Geist! S-s-s-schnell und....“
Bevor er fertig geworden
war, landete eine weitere Leiche genau vor ihnen. Mit blutigen
Gesichtszügen starrte sie ihm direkt in die Augen. Gerade als der
Dorfbewohner kurz davor stand, vor Angst ohnmächtig zu werden, sagte
der Mann ein Wort zu ihm: „Geh.“
Es war nur ein einziges
Wort, aber der Dorfbewohner spürte ein unerklärliches Gefühl der
Erleichterung, fast so, als wäre er vor dem sicheren Tod errettet
worden. Neue Kraft strömte plötzlich wieder in seinen Körper,
während er sich aufraffte und floh, ohne zurückzuschauen.
Der Mann in Weiß blickte
auf die Leichen, die durch das Unterholz des Waldes krabbelten, als
ob er nicht wüsste, was er davon halten sollte. Er blickte auf. Die
schwarzgekleidete Person, die auf dem Baum gesessen hatte, hüpfte
ebenfalls herunter, huschte sofort neben ihn und nagelte ihn an einem
Baum fest. Er flüsterte: „Huh, ist das nicht der reine und edle
HanGuang-Jun, Lan WangJi? Was führt dich in diese Gegend?“
Umgeben von Leichen, die
auf dem Boden herumkrochen, die entweder nur grausam oder verwirrt
oder einfach nur aus Pflichtgefühl da waren, stützte sich die
Person mit einer Hand an dem Baumstamm ab. Lan WangJi steckte in dem
Raum zwischen seinem Arm und dem Baum fest, zeigte dabei jedoch
keinerlei Regung.
Die Person fuhr fort: „Da
du ja schon von dir aus zu mir gekommen bist, werde ich... Hey, hey,
hey!“
Mit einer einzigen Hand
hatte Lan WangJi seine beiden Handgelenke eingefangen.
Er hatte den Spieß
herumgedreht. Der Schwarzgekleidete rief, nachdem er überwältigt
worden war, aus: „Gütiger Himmel, HanGuang-Jun, du bist zu
mächtig. Ich kann es nicht glauben - das ist schockierend, das ist
undenkbar! Du hast mich mit nur einer Hand erobert und ich kann dem
überhaupt nichts entgegensetzen! Was für ein beängstigender Mann
du doch bist!“
Lan WangJi, „....“
Seine Hände strafften
sich unwillkürlich, und die Überraschung des anderen verwandelte
sich in Schrecken: „Au, das ist so schmerzhaft. Lass mich los,
HanGuang-Jun. Ich werde es nie wieder wagen, so etwas zu tun. Fass
mich nicht so an, und bitte fessel mich nicht, oder zwinge mich auf
den Boden....“
Als seine Worte und Taten
noch übertriebener wurden, zuckte Lan WangJis Augenbraue. Er
unterbrach ihn schließlich, „....hör auf, herumzuspielen.“
Wei WuXian war mitten in
seiner Bitte und hielt überrascht inne: „Warum? Ich bin noch nicht
fertig mit dem Betteln um Gnade.“
„…“
Lan WangJi, „Du
bettelst jeden Tag um Gnade. Hör auf, herumzuspielen.“
Wei WuXian näherte sich
ihm an und flüsterte: „Ist es nicht das, was du wolltest... Jeden
Tag heißt jeden Tag.“
Sein Gesicht war ihm so
nah, dass es so aussah, als würde er Lan WangJi küssen wollen, aber
er weigerte sich, direkten Kontakt aufzunehmen. Ihre Lippen waren
sich nah und doch auseinander, getrennt durch einen Spalt breit genug
für ein einfaches Blatt Papier, als ob ein verliebter, aber
hartnäckiger Schmetterling um ein einziges Blütenblatt
herumflatterte und ihm einen Kuss verweigerte. Durch das Necken
flackerte es in Lan WangJis hellen Augen. Er bewegte sich leicht, als
könnte er sich nicht mehr zurückhalten, und als wollte das
Blütenblatt schließlich aus eigenem Antrieb die Flügel des
Schmetterlings berühren. Doch Wei WuXian wandte sein Gesicht auf
einmal ab und wich seinen Lippen aus.
Er kräuselte seine
Stirn, „Nenn mich Gege.“
Lan WangJi, „....“
Wei WuXian, „Nenn mich
Gege. Ich lasse mich von dir küssen, wenn du es tust.“
Lan WangJis Lippen
bebten, „...“
Er hatte diese sanfte,
liebevolle Bezeichnung noch nie benutzt, um jemanden zu rufen. Selbst
wenn er mit Lan XiChen sprach, hatte er immer Xiongzhang
benutzt. Wei WuXian versuchte ihn, zu überreden: „Lass mich
einfach hören, wie du es sagst. Ich habe es dir schon so oft gesagt.
Wir könnten nach dem Kuss auch andere Dinge tun, wenn du es sagst.“
Auch wenn Lan WangJi es
beinahe gesagt hätte, so hieße das, das er dennoch von Wei WuXian
besiegt worden wäre und daher konnte er seinen Mund nicht öffnen.
Nach einer langen Zeit der Stille kam nur ein: „...schamlos!“
über seine Lippen.
Wei WuXian, „Bist du es
nicht leid, mich mit einer Hand festzuhalten? Es ist doch so lästig,
alles mit nur einer Hand zu erledigen.“
Da Lan WangJi seine
Gelassenheit wiedererlangt hatte, fragte er daher höflich: „Was
soll ich dann tun?“
Wei WuXian, „Lass es
mich dir beibringen. Wäre es nicht praktisch, wenn du das Stirnband
abnimmst und meine Hände damit fesselst?“
Lan WangJi sah
stillschweigend auf das grinsende Gesicht. Er nahm langsam sein
Stirnband ab und hielt es vor Wei WuXian hoch, damit dieser es sehen
konnte.
Und dann, blitzschnell,
fesselte er mit einem Knoten die beiden Handgelenke aneinander und
positionierte die frechen Hände von Wei WuXian fest über seinem
Kopf, bevor er sein eigenes Gesicht an seinen Hals drückte . Genau
in diesem Augenblick erklang ein Schrei aus dem Gras.
Die beiden sprangen
förmlich auseinander. Lan WangJi legte seine Hand auf Bichens Griff,
aber er zog es nicht vorschnell aus seiner Hülle, da dieser Schrei
jung und zierlich geklungen hatte, eindeutig der eines Kindes. Es
wäre schrecklich, wenn sie versehentlich einen gewöhnlichen
Menschen verletzen würden. Das hüfthohe Gras raschelte und die
Wellen der Bewegung entfernten sich immer weiter weg von ihnen. Es
schien, als würde es sich wegschleichen. Wei WuXian und Lan WangJi
verfolgten es für eine Weile, ehe sie die ekstatische Stimme einer
Frau von unten hörten: „MianMian, geht es dir gut? Wie kannst du
nur einfach so hier herumlaufen? Mami hatte Todesangst!“
Wei WuXian hielt inne,
„MianMian?“
Er hatte das Gefühl,
dass der Name irgendwie vertraut klang. Er musste ihn schon einmal
irgendwo vorher gehört haben. Die Stimme eines Mannes schimpfte:
„Ich habe dir schon oft gesagt, dass du während einer Nachtjagd
nicht herumlaufen sollst, und dennoch bist du wieder allein
losgestürmt. Was sollen deine Mutter und ich tun, wenn du von einem
Geist gefressen wirst?! .... MianMian? Was ist denn los? Warum ist
sie denn jetzt so?“
Der nächste Satz
richtete sich wahrscheinlich an die Frau, „QingYang, komm, sieh dir
das an. Ist MianMian etwas zugestoßen? Warum ist sie so? Hat sie
etwas gesehen, das man da oben nicht sehen sollte?“
.... Sie hatte
tatsächlich etwas gesehen.... das man nicht sehen sollte.....
Lan WangJi blickte zu Wei
WuXian, der den Blick mit einer unschuldigen Miene erwiderte und
murmelte: „Was für eine Sünde.“
Er fühlte eindeutig
keine Schuldgefühle, weil er die Augen eines Kindes befleckt hatte.
Lan WangJi schüttelte den Kopf. Die beiden verließen zusammen den
Friedhof und gingen bergab. Die drei Untenstehenden sahen sie
überrascht und mit Vorsicht an. Der Mann und die Frau waren
verheiratet, beide hockten auf dem Boden, während in ihrer Mitte ein
junges Mädchen, etwa zehn Jahre alt, das geflochtene Zöpfe trug,
stand. Die Frau war eine junge Mutter mit schönen Gesichtszügen und
trug ein Schwert an ihrer Taille. In dem Moment, als sie Wei WuXian
sah, zog sie es aus seiner Scheide und rief, während sie es auf ihn
richtete, „Wer bist du?!“
Wei WuXian, „Egal, wer
ich bin, so bin ich doch ein Mensch und nichts anderes.“
Die Frau wollte noch
einmal etwas an ihn richten, aber dann sah sie Lan WangJi hinter Wei
WuXian stehen. Sie zögerte sofort: „HanGuang-Jun?“
Lan WangJi trug gerade
nicht sein Stirnband, also konnte sie sich für einen Moment nicht
sicher sein. Wenn sein Gesicht nicht so unvergesslich wäre, hätte
sie vielleicht etwas länger gezögert. Sie wandte ihren Blick zurück
auf Wei WuXian, und wirkte ein wenig benommen, „Da-Dann bist
du....“
Es war schon lange her,
dass sich die Nachricht, dass der YiLing-Patriarch zu den Lebenden
zurückgekehrt war auf der ganzen Welt verbreitet hatte. Derjenige,
der nun neben Lan WangJi stand, musste somit er sein, da er sich
nicht seltsam benahm, nachdem er erkannt wurde. Als Wei WuXian sah,
dass sie etwas aufgeregt wirkte, und auch aufgrund des vertrauten
Gesichts, dachte er: Vielleicht kennt mich die Frau? Habe ich ihr
Unrecht getan? Habe ich sie verärgert? Nein, ich kannte nie ein
Mädchen namens QingYang.... Ah, MianMian!
Wei WuXian erkannte sie
plötzlich: „Bist du nicht MianMian?“
Der Mann starrte ihn an:
„Warum sagen Sie den Namen meiner Tochter?“
So stellte sich heraus,
dass das kleine Mädchen, das herumgelaufen war und sie zufällig
gesehen hatte, MianMians Tochter war. Ihr Name war auch MianMian. Wei
WuXian fand das ziemlich amüsant, Es gibt eine große MianMian
und eine kleine MianMian.
Lan WangJi nickte der
Frau zu, „Fräulein Luo.“
Die Frau streichelte das
etwas zerzauste Haar aus ihrem Gesicht hinter ihr Ohr und erwiderte
den Gruß, „HanGuang-Jun.“
Dann blickte sie zu Wei
WuXian, „Junger Meister Wei.“
Wei WuXian grinste die
Frau an, „Fräulein Luo. Oh, jetzt weiß ich endlich, wie du
heißt.“
Luo QingYang lächelte
schüchtern, als ob sie sich plötzlich an einige alte, peinliche
Geschichten erinnern würde. Sie zog den noch hockenden Mann an ihrer
Seite hoch: „Das ist mein Mann.“
Als er bemerkte, dass sie
keine böswillige Absicht hatten, wurde der Mann sichtbar offener.
Nach einem kurzen Gespräch fragte Wei WuXian aus Bequemlichkeit: „Zu
welcher Sekte gehörst du und welche Art von Kultivierung
praktizierst du?“
Der Mann antwortete frei
heraus: „Nichts von alldem.“
Luo QingYang sah zu ihrem
Mann herüber und lächelte: „Mein Mann stammt nicht aus der sich
kultivierenden Welt. Er war einmal ein Kaufmann. Aber er ist bereit,
mit mir auf Nachtjagd zu gehen....“
Es war sowohl selten als
auch bewundernswert, dass ein gewöhnlicher Mensch, und zwar ein
Mann, bereit war, sein ursprünglich stabiles Leben aufzugeben und es
zu wagen, mit seiner Frau die Welt zu bereisen, ohne Angst vor den
Gefahren und den langen Wanderungen. Wei WuXian konnte nicht anders,
als Respekt für ihm zu empfinden. Er fragte: „Bist du auch zur
Nachtjagd hierher gekommen?“
Luo QingYang nickte, „Ja.
Ich hörte, dass Geister auf diesem Berg einen namenlosen Friedhof
heimsuchen und das Leben der Menschen hier stören, also kam ich, um
zu sehen, ob es eine Möglichkeit gibt, wie ich helfen kann. Habt ihr
beide diese Angelegenheit schon erledigt?“
Wenn Wei WuXian und Lan
WangJi sich bereits damit beschäftigt hatten, dann wäre ein
weiteres Eingreifen ihrerseits unnötig. Doch Wei WuXian sagte: „Du
wurdest von den Dorfbewohnern getäuscht.“
Luo QingYang hielt inne,
„Wie das?“
Wei WuXian, „Sie sagten
zwar Außenstehenden, dass es hier Angriffe durch Geister gäbe, aber
in Wirklichkeit haben sie selbst die Gräber ausgeraubt und dadurch
zuerst die Körper der Toten verwirrt, ehe sie mit diesem dadurch
vorhersehbaren Gegenangriff der Bestatteten konfrontiert wurden.“
Luo QingYangs Mann klang
verwirrt: „Wirklich? Aber selbst wenn es nur ein Gegenangriff
gewesen wäre, dann hätten sie doch nicht so viele Leben nehmen
müssen, oder?“
Wei WuXian und Lan WangJi
tauschten einen Blick aus: „Das war auch eine Lüge. Es gab keine
Verluste an Menschenleben. Wir haben es recherchiert. Nur wenige der
Dorfbewohner, die die Gräber ausgeraubt hatten, waren für eine
Weile bettlägerig, nachdem sie von den Geistern so erschrocken
worden waren, und einer von ihnen brach sich beim Weglaufen das Bein.
Abgesehen davon gab es keine Verluste. All diese 'verlorenen Leben'
wurden der Dramatik wegen benutzt.“
Luo QingYangs Mann: „Also
das ist passiert?! Das ist absolut schamlos!“
Luo QingYang seufzte:
„Oh, diese Leute....“
Sie schien sich an etwas
zu erinnern, schüttelte dabei den Kopf: „Sie sind überall
gleich.“
Wei WuXian, „Ich habe
sie eben ein bisschen erschreckt. Wahrscheinlich werden sie hiernach
nun nicht mehr die Gräber ausrauben, so dass die Geister sie dann
natürlich auch nicht mehr stören werden. Es ist also vorbei.“
Luo QingYang, „Aber
was, wenn sie andere Kultivierende finden, die die Geister dann mit
Gewalt unterdrücken....“
Wei WuXian grinste: „Ich
habe ihnen mein Gesicht gezeigt.“
Luo QingYang verstand.
Wenn der YiLing-Patriarch sein Gesicht gezeigt hatte, dann würden
die Kultivierenden diese Nachricht definitiv verbreiten, nachdem sie
ihn gesehen hatten. Die anderen würden nur denken, dass er diesen
Ort als sein eigenes Gebiet betrachten würde. Welcher Kultivierende
hätte da schon den Mut, herzukommen und ihn zu provozieren?
Luo QingYang lächelte:
„Das war also der Fall. Als ich sah, wie verängstigt MianMian war,
dachte ich, sie wäre einem Geist über den Weg gelaufen. Wenn es
irgendeine Unhöflichkeit gab, so seht es ihr bitte nach.“
Wei WuXian dachte: Nein,
nein, nein, ich glaube eher, wir waren hier die Unhöflicheren.
Doch oberflächlich
betrachtet sprach er mit aller Ernsthaftigkeit: „Natürlich nicht,
natürlich nicht. Bitte entschuldige, dass wir die kleine MianMian
erschreckt haben.“
Luo QingYangs Mann hob
seine Tochter hoch. MianMian saß auf dem Arm ihres Vaters und
starrte Wei WuXian mit aufgeblasenen Wangen an, eindeutig vor
Verlegenheit, aber zu beschämt, um es zu sagen. Sie trug ein
hellrosa Kleid, hatte tiefschwarze Augen, die wie Kristalltrauben
aussahen und ihr süßes, schneeweißes Gesicht schmückten. Als Wei
WuXian das sah, verspürte er den starken Drang, in ihre Wangen zu
kneifen, aber da ihr Vater zusah, zog er nur an ihren baumelnden Zopf
und grinste mit der anderen Hand hinter seinem Rücken: „MianMian
sieht dir so ähnlich, als du noch jünger warst, Fräulein Luo.“
Lan WangJi blickte ihn an
und sagte nichts. Luo QingYang zeigte ein Lächeln: „Junger Meister
Wei, fühlst du dich nicht schuldig, so etwas zu sagen? Erinnerst du
dich wirklich daran, wie ich ausgesehen habe, als ich noch jünger
war?“
Das lächelnde Gesicht
schien sich mit dem des jungen Mädchens zu überlappen, das damals
die rosa Roben getragen hatte. Wei WuXian fühlte sich nicht im
Geringsten beschämt: „Natürlich tue ich das! Du siehst im Moment
gar nicht so anders aus. Richtig, wie alt ist sie? Ich sollte ihr
etwas Geld geben, um böse Geister abzuwehren.“
Luo QingYang lehnte
sofort mit ihrem Mann gemeinsam ab: „Es ist in Ordnung, es ist in
Ordnung.“
Wei WuXian lachte: „Ist
es nicht, ist es nicht. Ich bin eh nicht derjenige, der bezahlt.
Haha.“
Das Paar hielt überrascht
inne. Bevor sie wussten, was los war, hatte Lan WangJi Wei WuXian
bereits etwas in die Hand gedrückt. Wei WuXian nahm die schweren
Münzen aus seiner Hand und bestand darauf, sie MianMian zu geben.
Als sie sah, dass sie es nicht ablehnen konnten, wandte sich Luo
QingYang an ihre Tochter: „MianMian, geh und danke HanGuang-Jun und
dem jungen Meister Wei.“
MianMian, „Danke,
HanGuang-Jun.“
Wei WuXian, „MianMian,
ich war derjenige, der es dir gegeben hat, nicht wahr? Warum hast du
mir nicht gedankt?“
MianMian zeigte ihm einen
wütenden Blick. Egal, wie sehr er sie neckte, sie weigerte sich, mit
ihm zu sprechen, während sie nach unten schaute und an einer roten
Schnur um ihren Hals zog und einen zarten kleinen Parfümbeutel
herauszog. Mit viel Sorgfalt legte sie das Geld hinein. Bald war die
Gruppe den Berg gemeinsam hinuntergegangen, und Wei WuXian konnte
sich nur mit Bedauern von ihnen verabschieden und mit Lan WangJi
einen anderen Weg entlang gehen.
Nachdem ihre Silhouetten
verschwunden waren, ermahnte Luo QingYang ihrer Tochter, „MianMian.
Du warst so unhöflich. Das war jemand, der das Leben deiner Mutter
gerettet hat.“
Ihr Mann war schockiert:
„Wirklich?! MianMian, hast du sie gehört? Sieh dir an, wie
unhöflich du gewesen bist.“
MianMian murmelte,
„Ich... Ich mag ihn nicht.“
Luo QingYang, „Wenn du
ihn wirklich nicht mögen würdest, dann hättest du das Geld schon
vor langer Zeit weggeworfen.“
MianMian begrub ihr
kleines, rosiges Gesicht an der Brust ihres Vaters und jammerte: „Er
hat schlechte Dinge getan!“
Luo QingYang wusste
nicht, ob sie lachen sollte oder nicht. Als sie gerade sprechen
wollte, begann ihr Mann: „QingYang, ich habe schon einmal gehört,
wie du diesen HanGuang-Jun erwähnt hast. Ich erinnere mich, dass er
eine wichtige Person aus einer sehr bekannten Sekte ist. Warum sollte
er an einem so kleinen Ort auftauchen und eine so kleine Beute jagen
wollen?“
Luo QingYang erklärte
daraufhin ihrem Mann geduldig: „Dieser HanGuang-Jun unterscheidet
sich von den anderen berühmten Kultivierenden. Er erscheint immer
dort, wo das Chaos ist. Solange es etwas gibt, egal wie hoch das Ziel
der Nachtjagd ist oder ob er eine Belohnung dafür erhalten würde,
er würde immer Hilfe leisten.“
Ihr Mann nickte: „Was
für ein wahrer Kultivierender.“
Er fragte diesmal eher
ängstlich und verwirrt klingend weiter: „Was ist dann mit diesem
jungen Meister Wei? Du sagtest, er hätte dein Leben gerettet, aber
ich glaube nicht, dass ich dich jemals über eine solche Person reden
gehört habe? War dein Leben jemals in Gefahr?!“
Luo QingYang übernahm
MianMian und hatte dabei einen ungewöhnlichen Glanz in ihren Augen.
Sie lächelte: „Also.... Dieser junge Meister Wei....“
Auf dem anderen Weg
sprach Wei WuXian mit Lan WangJi: „Ich kann einfach nicht glauben,
dass das kleine Mädchen von damals schon eine Tochter hat, die auch
schon ein kleines Mädchen ist!“
Lan WangJi, „Mn.“
Wei WuXian, „Aber das
ist nicht fair. Die Kleine hätte eben sehen sollen, dass du
derjenige gewesen bist, der mir all die schlechten Dinge angetan hat.
Warum findet sie mich unangenehmer?“
Bevor Lan WangJi darauf
antworten konnte, drehte sich Wei WuXian herum und stellte sich Lan
WangJi gegenüber, und ging von nun an rückwärts, während er
fortfuhr: „Oh, ich weiß. Sie mag mich definitiv im Geheimen. Wie
ein gewisser jemand von damals.“
Lan WangJi strich den
nicht vorhandenen Staub von seinem Ärmel, und antwortete mit kühler
Stimme, „Bitte gib mir mein Stirnband zurück, Wei YuanDao.“
Wei WuXian hörte den
unbekannten Namen und verstand ihn erst nach einem Moment des
Nachdenkens. Er schnalzte mit der Zunge und lachte: „Hey, zweiter
junger Meister Lan, hast du etwa Essig getrunken, ja?“
Lan WangJi sah nach
unten. Wei WuXian blieb vor ihm stehen, ein Arm um seine Taille und
die andere an sein Kinn gelegt, sein Gesicht wirkte ernsthaft, „Sag
mir die Wahrheit. Wie lange trinkst du schon aus dieser Essigflasche?
Wie hast du es nur so gut verstecken können? Ich habe keine einzige
Spur von dem Essig riechen können.“
Wie üblich ging Lan
WangJi darauf ein und hob sein Kinn an, nur um zu spüren, wie eine
gewisse ungezogene Hand über seine Brust glitt. Als er jedoch nach
unten blickte, war Wei WuXians Hand bereits verschwunden und hielt
nun ein bestimmtes Objekt fest. Er täuschte Überraschung vor: „Was
ist das?“
Es war Lan WangJis
Geldbörse.
Wei WuXian wirbelte den
zarten kleinen Beutel an seinen Schnüren in seiner rechten Hand
herum, während er mit seiner linken Hand darauf zeigte:
„HanGuang-Jun, oh, HanGuang-Jun, sich etwas ohne Erlaubnis zu
nehmen, ist zu stehlen. Wie haben sie dich damals genannt? Erbe einer
bedeutenden Sekte? Der allen Jüngern mit gutem Beispiel vorsteht?
Was ist das für ein Schüler, der heimlich starken Essig trinkt und
den Parfümbeutel stiehlt, den mir ein kleines Mädchen geschenkt
hat, um daraus seinen eigenen Geldbeutel zu machen. Kein Wunder, dass
ich ihn nicht finden konnte, egal, wo ich danach suchte, nachdem ich
aufgewacht war. Wenn der Parfümbeutel, der an der Brust der kleinen
MianMian hängt, nicht genau derselbe gewesen wäre wie dieser hier,
dann hätte ich mich nicht einmal daran erinnert. Sieh dich nur an,
tz tz tz. Sag es mir. Wie hast du ihn mir weggenommen, als ich
bewusstlos war? Wie lange hast du damit gehadert, ihn dir zu nehmen?“
Winzige Wellen schienen
über Lan WangJis Gesicht zu blitzen, während er danach griff. Wei
WuXian zog die Geldbörse zurück und wich seinen Händen aus,
während er zurücksprang, „Du willst ihn dir also mit Gewalt
zurückholen, da du nicht gegen mich argumentieren kannst? Warum so
verlegen? Ich werde von so etwas verlegen - ich weiß nun endlich,
warum ich so schamlos bin. Wir sind wirklich dazu bestimmt, zusammen
zu sein. Es liegt definitiv daran, dass all meine Scham in deiner
Obhut bleibt, damit du sie für mich aufbewahren kannst.“
Lan WangJis Ohrläppchen
waren zartrosa gefärbt, aber sein Gesicht war immer noch
ausdruckslos. Seine Hände waren schnell, aber Wei WuXians Füße
waren schneller und weigerten sich, es ihm zu geben: „Damals
wolltest du mir deinen Geldbeutel selbst geben. Warum willst du ihn
mir jetzt nicht geben? Sieh dich nur an. Du stiehlst nicht nur im
Geheimen, sondern hast auch eine Affäre im Geheimen.“
Lan WangJi stürzte sich
zu ihm hinüber und erwischte ihn schließlich, hielt ihn fest in
seinen Armen, während er protestierte: „Wir haben uns dreimal
verbeugt, also sind wir schon so etwas wie.... Mann und Frau. Es
zählt nicht als Affäre.“
Wei WuXian, „Du kannst
mich nicht weiterhin so zwingen, wie du es getan hast, auch nicht
zwischen Mann und Frau! Du bringst mich immer dazu, dich zu bitten,
und hörst nie auf, selbst wenn ich es tue. Jetzt, da du so geworden
bist, müssten alle Vorfahren der GusuLan-Sekte wütend sein....“
Lan WangJi konnte es
nicht mehr ertragen und dämpfte schließlich seinen Mund mit seinem
eigenen.
Information
Xiongzhang:
Gege und Xiongzhang - was LWJ für XiChen verwendet – heißen beide
„Bruder“, obwohl Gege süßer/ niedlicher klingt und Xiongzhang
formaler (ist).
Geld: Die
Folklore eines alten Paares, das Geld zur Abwehr böser Geister von
seinem Kind benutzt, führte schließlich zur Tradition, Kindern am
Silvesterabend rote Umschläge mit Geld zu geben.
YuanDao:
Für diejenigen, die sich nicht erinnern, lautet das Gedicht "mian
mian si yuan dao", was in etwa "die endlosen Grenzen des
Grases, das sich meilenweit sehnt". WWX sagte ihr damals, dass
sein Name YuanDao ist, was dann bedeutet hätte, dass MianMian sich
nach ihm sehnt.
Essig
getrunken: Essig zu trinken ist
ein Idiom, was im Chinesischen soviel bedeutet, dass jemand
eifersüchtig ist.
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