Freitag, 1. November 2019

Kapitel 103




Kapitel 103: Hensheng – Teil Sechs
Aber das liegt alles in der Vergangenheit

Die Worte von Sektenführer Jiang waren immer schon von Spott durchzogen gewesen. Aber diesmal war die Person, die er verspottete, niemand anderes außer ihm selbst. Plötzlich sagte er: „Es tut mir leid.“

Wei WuXian zögerte, „.... Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“

An dieser Stelle war es unmöglich herauszufinden, wer sich nun bei wem entschuldigen sollte. Wei WuXian fuhr fort: „Nimm es als meine Rückzahlung an die Jiang-Sekte.“

Jiang Cheng sah auf. Er sah ihn mit weinenden, blutunterlaufenen Augen an und sprach mit heiserer Stimme, „.... Rückzahlung für meinen Vater, meine Mutter, meine Schwester?“

Wei WuXian drückte sich seine Finger gegen seine Schläfen, „Vergiss es. Das ist jetzt alles Vergangenheit. Lass es uns nicht noch einmal erwähnen.“

Es war nichts, woran er sich gerne erinnerte. Er wollte auch nicht immer wieder daran erinnert werden, wie es sich anfühlte, wenn einem sein Kern herausgeschnitten wird oder welchen Preis er dafür zahlen musste. Wenn das in der Vergangenheit aufgedeckt worden wäre, dann hätte er höchstwahrscheinlich gelacht und Jiang Cheng getröstet: 'Es war sowieso keine so große Sache. Du hast mich doch in all den Jahren gesehen! Ich habe es ohne den Kern geschafft, durchzukommen, nicht wahr? Jeden zu schlagen, den ich schlagen wollte, jeden zu töten, den ich töten wollte.'

Aber nun hatte er einfach nicht mehr die Kraft, eine so selbstbewusste, lässige Aussage zu treffen.

Denn er wusste aus tiefstem Herzen, dass es ihm doch nicht so egal war.

War es wirklich so einfach, nach so einer Sache weiterzumachen?

Natürlich nicht.

Doch in Wahrheit, als Wei WuXian siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen war, war sein Stolz nicht viel geringer gewesen als der von Jiang Cheng. Er hatte einst eine starke spirituelle Kraft gehabt, war talentierter gewesen als andere. Egal, wie sehr er herumalbert hatte und die ganze Nacht aufgeblieben war, um andere zu verarschen; er war seinen Klassenkameraden, die so hart an sich gearbeitet hatten, immer stets weit voraus gewesen.

Aber jedes Mal, wenn er nachts wach gelegen hatte und sich gewälzt und gedreht hatte, da hatte er gewusst, dass er die Sterne nie mehr mit den richtigen Mitteln erreichen würde, und er hatte gewusst, dass er niemals mehr sein Schwert mit der Vortrefflichkeit führen konnte, die so viele Augen in Erstaunen versetzt hatten, und dann hatte er sich gefragt, dass wenn Jiang FengMian ihn nicht zum Lotus Pier zurückgebracht hätte, dann wäre er in seinem Leben vielleicht niemals auf den Weg der Kultivierung gekommen. Dann hätte er nie gewusst, dass es einen so großartigen Weg in dieser Welt gab. Er wäre nur ein Bettler gewesen, der durch die Straßen gezogen wäre, der beim ersten Blick auf einen Hund floh; oder der sich vielleicht um Kühe gekümmert und die Ernte anderer Leute auf dem Land gestohlen hätte; und der seine Flöte gespielt hätte, um seine Zeit zu verbringen. Er hätte nicht gewusst, wie man sich kultivierte, und er hätte dann definitiv nicht die Chance gehabt, einen Kern zu bilden. Mit solchen Gedanken hatte er sich immer viel besser gefühlt.

'Nimm es als Rückzahlung oder sieh es als Erlösung. Nimm es hin, als hättest du nie einen goldenen Kern erhalten.'

Nachdem er sich solche Dinge immer wieder selbst gesagt hatte, war es, als wäre er wirklich so selbstbewusst und lässig, wie er es auf der Oberfläche erscheinen ließ, und dabei konnte er sich sogar für einen solchen Geisteszustand loben, ob er sich nun selbst belog oder nicht.

Aber das war in seinem früheren Leben.

Wei WuXian, „Uh, ich denke, es ist das Beste, wenn du.... auch aufhörst, es im Kopf zu behalten. Ich weiß, dass du es definitiv immer im Kopf behalten wirst, aber wie soll ich es sagen....“

Er drückte Lan WangJis Hand fest zusammen und sagte zu Jiang Cheng: „Im Moment denke ich wirklich.... das ist alles Vergangenheit. Es ist zu lange her. Es gibt keinen Grund mehr, sich damit zu beschäftigen.“

Jiang Cheng wischte sich das Gesicht grob ab und trocknete seine Tränen. Er holte tief Luft und schloss die Augen. In diesem Augenblick, noch immer in Lan XiChens Gewand eingehüllt, wachte Nie HuaiSang allmählich auf. Er stöhnte leise und schaffte es, mit immer noch trüben Augen aufzustehen: „Wo bin ich hier?“

Doch als er sich erhob, war das Erste, was er sah, wie Wei WuXian und Lan WangJi eng zusammen auf derselben Sitzmatte saßen. Der YiLing Patriarch saß im Grunde genommen auf dem Schoß von HanGuang-Jun. Ihm entfuhr sofort ein Keuchen, als ob er deswegen gleich wieder ohnmächtig werden würde. Gleichzeitig kamen vom hinteren Teil des GuanYin Tempel eine Reihe seltsamer Geräusche, als ob etwas verspritzt werden würde. Einen Moment später begannen auch die Kultivierenden, die dort gegraben hatten, zu jammern und zu keuchen.

Die Mimik aller im Tempel änderte sich schlagartig. Sofort verteilte sich ein etwas stechender Geruch zu ihnen nach draußen. Als Lan XiChen sein Gesicht mit seinen Ärmeln bedeckte, war Sorge in seinen Augen zu sehen. Bald taumelten zwei Gestalten nach draußen.

Su She hielt Jin GuangYao hoch. Die beiden sahen blass aus, während das Gejammere im hinteren Teil des Palastes weiterging. Su She, „Sektenführer, wie fühlst du dich?!“

Kalter Schweiß perlte von Jin GuangYaos Stirn, „Gut. Danke für deine schnelle Hilfe!“

Seine linke Hand baumelte an ihm herab. Es schien, als könnte er sie nicht anheben. Sein ganzer Arm zitterte, als ob er extreme Schmerzen hätte. Mit der rechten Hand nahm er eine Flasche mit Pillen aus seinem Revers. Er wollte sie öffnen, aber es war schwierig mit nur einer Hand. Als Su She das sah, übernahm er sofort die Flasche und warf eine Pille daraus in seine Handfläche. Jin GuangYao senkte seinen Kopf und schluckte sie mit einem Stirnrunzeln. Seine Augenbrauen entspannten sich sofort.

Lan XiChen zögerte einen Moment, bevor er fragte: „Was ist passiert?“

Jin GuangYao hielt überrascht inne. Das Blut stieg ihm in seine Wangen, während er ein Lächeln schaffte, „Ein Unfall.“

Er nahm etwas Heilpulver heraus und streute es sich über die Hand. Ein rötlicher Bereich war auf der Rückseite seiner linken Hand bis hin zu seinem Handgelenk erschienen. Bei genauerer Beobachtung zeigte sich, dass die Haut wie gekochtes Fleisch aussah. Die Haut war völlig ruiniert. Jin GuangYao riss einen Teil seines weißen Ärmels ab, seine Finger zitterten leicht, „MinShan, wickle das hier fest um mein Handgelenk.“

Su She, „Es ist giftig?“

Jin GuangYao, „Das Gift fließt immer noch nach oben. Es wird keine großen Probleme machen. Das Gift wird mit etwas Ruhe abgestoßen werden.“

Gleich nachdem Su She seine Wunde behandelt hatte, wollte Jin GuangYao wieder hinter den Palast zurückkehren, um dort zu inspizieren. Su Sie beeilte sich: „Sektenführer, lass mich gehen!“

Der stechende Geruch verflüchtigte sich allmählich. Wei WuXian und Lan WangJi standen ebenfalls auf. Neben einem tiefen Graben war ein hoher Berg von ausgehobener Erde zu sehen. Auf der einen Seite lag ein ziemlich zierlicher Sarg, auf der anderen eine pechschwarze Box. Beide waren bereits geöffnet worden, und der dünne, weiße Rauch stieg weiter von innen auf. Der Geruch kam von dem weißen Rauch, was bedeutete, dass es sich um eine Art tödliches Gift handeln musste. Die Leichen, die den Kultivierenden gehörten, die hier so gewissenhaft gegraben hatten, lagen verstreut um den Sarg herum. So wie es aussah, waren sie bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Sogar ihre Uniformen und Gewänder waren zu schwarzen Fragmenten korrodiert worden. Es war offensichtlich, wie giftig der weiße Rauch war.

Als Vorreiter nutzte Su She seine Schwertenergie, um den verbliebenen Rauch abzuwehren. Die Spitze seiner Klinge flackerte über den schwarzen Kasten. Die eiserne Truhe fiel zu Boden. Sie war leer.

Jin GuangYao konnte sich endlich nicht mehr zurückhalten. Er stolperte zum Rand des Sarges. Das Blut, das wieder in sein Gesicht zurückgekehrt war, verblasste sofort wieder. Schon an seinem Gesichtsausdruck konnte man erkennen, dass auch der Sarg leer war.

Lan XiChen näherte sich. Nachdem er das Grauen gesehen hatte, das hier im hinteren Teil des Palastes geschehen war, war er schockiert: „Was um alles in der Welt hast du hier begraben? Wie konnte das geschehen?“

Nie HuaiSang hatte nur einen Blick auf all das geworfen, ehe er zu Boden fiel und würgte. Jin GuangYaos Lippen zitterten. Er konnte nichts sagen. Ein Blitz zuckte über ihnen und reflektierte das blasse Weiß seines Gesichts. Sein Ausdruck war in der Tat erschreckend und schickte Schauer über Nie HuaiSangs Wirbelsäule. Er wagte es nicht einmal, zu laut zu erbrechen, bedeckte seinen Mund hinter Lan XiChens Rücken und zitterte, ob aus Angst oder vor Kälte. Lan XiChen drehte sich um und sagte ein paar Worte des Trostes zu ihm, während Jin GuangYao nicht einmal die Kraft hatte, seine freundliche, sanfte Front aufrechtzuerhalten.

Wei WuXian, „ZeWu-Jun, jetzt tust du dem Sektenführer Jin hier Unrecht. Er war nicht derjenige, der diese Dinge hier überhaupt vergraben hat. Auch wenn er zuerst hier etwas begraben hat, so sollte es schon eine Weile her sein, dass jemand anderes diese Dinge ausgetauscht hat.“

Su She zeigte mit seinem Schwert auf ihn, seine Stimme klang kalt, „Wei WuXian! Ist das ein Trick von dir?!“

Wei WuXian, „Ich versuche ja nun wirklich nicht zu prahlen, aber wenn ich derjenige gewesen wäre, der euch hier einen Streich gespielt hätte, dann wäre ein Arm vielleicht nicht alles, was an deinem Sektenführer verwundet wäre. Sektenführer Jin, erinnerst du dich noch an den Brief, den Qin Su dir mitgebracht hat, damals auf dem Karpfenturm?“

Jin GuangYaos Augen bewegten sich langsam auf ihn zu.

Wei WuXian, „Derjenige, der Qin Su all die guten Dinge erzählt hat, die du getan hast, war Frau Qins frühere Magd Bicao. Aber als Bicao sich plötzlich entschied, alles zu enthüllen, glaubtest du da wirklich, dass niemand die Dinge aus dem Hintergrund vorantreibt? Und Fräulein Sisi, diejenige, die du eingesperrt hast. Wer hat sie gerettet? Wer war derjenige, der ihr gesagt hatte, dass sie mit Bicao in die YunmengJiang-Sekte gehen und deine Geheimnisse vor allen Leuten enthüllen sollte? Wenn derjenige jedes einzelne dieser verborgenen Geheimnisse von dir herausfinden konnte, Sektenführer Jin, was wäre dann so schwer daran gewesen, vor dir hierher zu kommen und es mit giftigem Rauch auszutauschen, damit du diesen ausgräbst?“

Plötzlich sprach ein Mönch: „Sektenführer, es gibt Anzeichen von Ausschürfungen im Dreck hier. Jemand hat sich hier schon einmal von der anderen Seite aus eingegraben!“

Wie erwartet, war schon zuvor jemand hier gewesen. Jin GuangYao drehte sich um und schlug mit der Faust auf den leeren Sarg. Niemand konnte seinen Gesichtsausdruck sehen, aber alle konnten seine zitternden Schultern sehen.

Wei WuXian grinste: „Sektenführer Jin, hast du jemals daran gedacht, dass du heute Abend vielleicht eine Gottesanbeterin bist, aber dennoch einen Oriol hinter dir hast? Derjenige, der dich beobachtet hat, könnte sich in diesem Moment im Dunkeln verstecken und jede deiner Bewegungen beobachten. Nein, vielleicht ist es keine Person....“

Der Sturm dämpfte das Geräusch des Donners. Als er die Worte 'keine Person' hörte, blitzte für einen Bruchteil einer Sekunde etwas, das als Angst beschrieben werden könnte, über Jin GuangYaos Gesicht.

Su She grinste: „Wei WuXian, hör auf mit diesen leeren Einschüchterungsversuchen....“

Jin GuangYao hob seine rechte Hand, um ihn zu unterbrechen. Die Angst auf seinem Gesicht verblasste so schnell, wie sie gekommen war. Alle seine Emotionen waren wieder schnell unter Kontrolle gebracht worden. Er sprach: „Verschwende deine Energie nicht mit Argumentationen. Behandle die Verletzung an deinem Körper. Während ich das Gift entferne, sammelst du den Rest der Leute hier ein und bereitest dich auf unsere Abreise vor.“

Su She, „Sektenführer, was ist mit den Dingen, die wir hier ausgraben wollten?“

Jin GuangYaos Lippen waren etwas blass: „Wenn sie schon ausgegraben wurden, dann ist es definitiv unmöglich, sie wieder zurückzubekommen. Wir sollten nicht länger hier bleiben.“

Su She, „Ja!“

Zuvor, als Su She mit Fee gekämpft hatte, war er an vielen Stellen durch ihre Krallen verwundet worden. Seine Kleidung war sowohl an seinen Armen als auch an seiner Brust zerrissen worden, und vor allem an seiner Brust hatten sich die Wunden tief in sein Fleisch gegraben. Blut sickerte durch die weißen Gewänder. Wenn die Wunden nicht richtig behandelt werden würden, dann könnte er vielleicht nicht in der Lage sein, sich den Notfallsituationen zu stellen, die im Laufe der Zeit noch auf sie zukommen könnten. Jin GuangYao nahm einen Beutel mit Medikamenten aus seinen Revers und gab ihn an ihn weiter.

Su Sie nahm ihn mit beiden Händen entgegen, „Ja.“

Tatsächlich hörte er auf, mit Wei WuXian zu sprechen, während er sich herumdrehte und seine Kleidung auszog, um seine Wunden zu behandeln. Jin GuangYao konnte die durch den giftigen Rauch verbrannte Hand immer noch nicht bewegen. Er konnte nur auf dem Boden sitzen und sich darauf konzentrieren, das Gift auszustoßen. Die übrigen Kultivierenden hielten ihre Schwerter, während sie im GuanYin Tempel hin und her gingen und Wache hielten. Als er diese grellen Klingen sah, blickte Nie HuaiSang starr geradeaus. Er hatte keine Wachen neben sich, also wagte er es nicht einmal, einen lauten Atemzug zu machen. Zusammengesunken in der Ecke hinter Lan XiChen stieß er nur einige Nieser aus.

Wei WuXian dachte: Anderen Menschen gegenüber ist Su She ziemlich sarkastisch, und Lan Zhan gegenüber sogar missgünstig. Aber er ist eindeutig sehr respektvoll gegenüber Jin GuangYao.

Während er das dachte, konnte er nicht anders, als auf Lan WangJi zu blicken, gerade rechtzeitig, um das Aufblitzen wie von Eis in seinen Augen zu sehen.

Mit eiskalter Stimme sprach Lan WangJi zu Su She, „Dreh dich um.“

Su She hatte nach unten geblickt, um sich Medizin auf die Kratzspuren auf seiner Brust zu tupfen und sah dann seitlich zu ihnen herüber. Als er Lan WangJis fast unantastbares Kommando hörte, drehte er sich unfreiwillig um. Als er sich umdrehte, weiteten sich sowohl Jiang Chengs als auch Jin Lings Augen. Das Grinsen auf Wei WuXians Gesicht verschwand ebenfalls. Er konnte es fast nicht glauben, „....du bist es!“













Information
Oriol: Das vollständige Sprichwort lautet: "Die Gottesanbeterin stolziert hinüber zur Zikade, ohne den dahinter liegenden Oriol zu bemerken".

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen