Freitag, 1. November 2019

Kapitel 102


Kapitel 102: Hensheng – Teil Fünf

Es tut mir leid.
Ich habe mein Versprechen gebrochen.

Obwohl er direkt durch die Brust gestochen worden war, war Jiang Cheng nicht so schwach, dass er dadurch sofort gestorben wäre. Es wäre nun einfach nicht das Beste für ihn gewesen, seine spirituellen Kräfte zu nutzen oder zu beschwören. Er mochte es auch nicht, dass nun andere versuchten, ihm zu helfen, und daher wandte er sich an Jin Ling, während er sagte: „Verpiss dich.“

Jin Ling wusste, dass Jiang Cheng immer noch sauer auf ihn war, weil er weggelaufen war. Er fühlte sich schuldig und wagte es nicht, sich zu widersetzen. Das Bellen des Hundes kam aus der Ferne, gefolgt von einem plötzlichen Winseln. Jin Ling erschauderte, als er sich daran erinnerte, was Jin GuangYao gesagt hatte, und rief: „Fee, lauf! Sie werden dich umbringen!“

Bald darauf eilte Su She wütend durch den Sturm zurück zu ihnen. Jin GuangYao, „Du hast ihn nicht getötet?“

Su Shes Gesichtsausdruck verdunkelte sich, „Ich konnte nicht. Ich kann nicht glauben, dass der Hund so rückgratlos ist. Es ist wild, wenn jemand da ist, der ihm hilft, aber sobald er im Nachteil ist, läuft er schneller weg als alles andere!“

Jin GuangYao schüttelte den Kopf: „Er könnte jemand anderen hier herführen. Wir sollten die Dinge hier schnell beenden.“

Su She, „Diese Nichtsnutze! Ich werde sie dazu bringen, sich zu beeilen.“

Jin Ling hingegen stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Als er Jiang Cheng auf dem Boden sitzen sah, noch immer verbittert, wandte er sich nach einigem Zögern an Lan WangJi, „HanGuang-Jun, gibt es noch mehr Sitzmatten?“

Die vier Matten, auf denen sie gesessen hatten, waren alle von Lan WangJi eingesammelt worden. Allerdings gab es nur diese vier innerhalb des Tempels. Nach einiger Zeit der Stille stand Lan WangJi auf und schob die Matte herüber, auf der er gesessen hatte.

Jin Ling beeilte sich: „Danke! Es ist schon in Ordnung. Ich werde ihm einfach meine....“

Lan WangJi, „Das ist nicht nötig.“

Sobald er fertig geredet hatte setzte er sich neben Wei WuXian. Auch wenn die beiden nebeneinander auf derselben Sitzmatte saßen, so schien es ihnen nicht zu eng zu sein. Nun, da die Matte bereits übergeben worden war, kratzte sich Jin Ling am Kopf, bevor er sie zu Jiang Cheng hinüberzog. Jiang Cheng drückte sich zuerst auf einen Akupunkturpunkt an seiner Brust und stoppte damit den Blutfluss. Nachdem er sich hingesetzt hatte, sah er auf und blickte zu Wei WuXian und Lan WangJi hinüber. Er sah bald darauf wieder nach unten. Sein Gesicht war düster und enthüllte nichts von dem, was er dachte.

Genau an diesem Punkt ertönte ein ekstatischer Schrei hinter dem Palast: „Sektenführer! Wir haben es geschafft! Eine Ecke ist schon raus!“

Der Gesichtsausdruck von Jin GuangYao entspannte sich etwas. Er ging schnell zurück hinter den Palast, „Weitermachen! Seid bitte vorsichtig. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Über ein Dutzend Blitzschläge zogen sich über den gesamten Himmel. Bald darauf folgte eine Reihe von heftigen Donnern. Wei WuXian und Lan WangJi saßen dicht zusammen, während Jiang Cheng mehr an der Seite saß. Jin Ling zog auch seine eigene Matte rüber. Inmitten des unnachlässigen Trommels des Regens gab es eine lange Zeit nur eine tote, unangenehme Stille. Niemand sagte etwas.

Aber aus irgendeinem Grund schien es Jin Ling, als wollte Jiang Cheng wirklich mit ihnen reden. Nach einem kurzen Blick auf sie alle begann er plötzlich: „Onkel, gut, dass du die Guqinschnur so früh gestoppt hast, sonst hätte es ziemlich schlimm werden können.“

Jiang Chengs Gesicht verdunkelte sich, „Du kannst die Klappe halten!“

Wenn er Jin GuangYao nicht wegen seiner eigenen instabilen Emotionen die Chance auf einen heimlichen Angriff gelassen hätte, dann wäre er auch nicht in den Händen des Feindes gelandet. Darüber hinaus hätten Wei WuXian und Lan WangJi in Wirklichkeit dem Angriff ganz allein ausweichen können. Obwohl Lan WangJi im Moment keine spirituellen Kräfte hatte und die von Wei WuXians von Anfang an niedrig waren, waren ihre Fähigkeiten immer noch vorhanden. Sie konnten nicht angreifen, aber sie konnten trotzdem immer noch ausweichen. Ungeschickt hatte Jin Ling versucht, für seinen Onkel zu sprechen, aber seine Überlegungen hatten die Situation nur noch unangenehmer gemacht.

Nachdem er beschimpft worden war, hörte Jin Ling verlegen auf zu reden. Jiang Cheng schien ebenso seine Lippen versiegelt zu haben und sprach auch nicht mehr.

Wei WuXian hatte bislang auch noch nichts gesagt. In der Vergangenheit hätte er definitiv über Jiang Cheng gelacht, weil dieser sich hatte so leicht provozieren lassen, so dass er dem Gegner eine Chance gegeben hatte. Aber jetzt, als er sich daran erinnerte, was Jin GuangYao zuvor gesagt hatte, verstand er alles.

Jiang Cheng kannte bereits die Wahrheit.

Lan WangJi streichelte noch ein paar Mal über den Rücken von Wei WuXian. Wei WuXian sah auf. Lan WangJi schien überhaupt nicht überrascht. Seine Augen wirkten fast sanft. Wei WuXian fühlte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Er konnte nicht anders, als zu flüstern: „.... Du weißt es auch?“

Lan WangJi nickte langsam.

Wei WuXian stieß einen leichten Atemzug aus, „.... Wen Ning.“

Wen Ning hatte ursprünglich Suibian behalten, aber jetzt war es in Jiang Chengs Händen. Und auf dem Rückweg vom Lotus Pier hatte ihm Wen Ning nichts von einer solchen Angelegenheit erzählt.

Wei WuXian, „Wann hat er es erzählt?“

Lan WangJi, „Als du bewusstlos warst.“

Wei WuXian, „Haben wir so den Lotus Pier verlassen können?!“

Wenn Wen Ning jetzt gerade wieder bei ihnen gewesen wäre, dann hätte Wei WuXian definitiv schon angefangen, ihn finster anzustarren.

Lan WangJi, „Du hast ihm schon immer leid getan.“

Wei WuXians Ton war von Wut erfüllt, „.... Ich habe ihm so oft gesagt, er solle es nicht sagen!“

Aus heiterem Himmel sagte Jiang Cheng: „Was sollte er nicht sagen?“

Wei WuXian hielt überrascht inne und wandte sich zusammen mit Lan WangJi an ihn. Jiang Cheng bedeckte seine Wunde mit einer Hand, seine Stimme war kühl: „Wei WuXian, du bist so ein großer, selbstloser Mensch. Du hast das Beste getan, was möglich war, und du hast all das Leid auf dich genommen und niemanden davon wissen lassen. Was für eine bewegende Geschichte. Ich sollte mich vor dir hinknien und in Dankbarkeit weinen, nicht wahr?“

Als er den spöttischen Ton hörte, dem es an Höflichkeit fehlte, wurde Lan WangJis Mimik kalt. Jin Ling sah den unzufriedenen Gesichtsausdruck und stellte sich sofort vor Jiang Cheng, da er Angst hatte, dass Lan WangJi ihn mit einem Schlag töten würde, „Onkel!“

Wei WuXians Ausdruck verfinsterte sich ebenfalls. Er hätte niemals erwartet, dass Jiang Cheng sich mit ihm versöhnen würde, nachdem er die Wahrheit herausgefunden hätte, aber er hatte auch nicht damit gerechnet, dass sein Ton so unfreundlich wie immer sein würde. Nach einer Schweigeminute antwortete er mit gedämpfter Stimme: „Ich habe dich nie darum gebeten, mir zu danken.“

Jiang Cheng stieß ein hah aus, „Natürlich. Geben, ohne etwas als Gegenleistung dafür zu erwarten. Was für ein hohes Niveau. Im Gegensatz zu mir natürlich. Deshalb hat mein Vater immer gesagt, dass du derjenige bist, der das Motto der Jiang-Sekte wirklich verstanden hat und die Dinge auf die Jiang-Art-und-Weise machst, damals, als er noch am Leben war.“

Wei WuXian konnte nicht mehr zuhören, und unterbrach ihn, „Genug.“

Jiang Chengs Stimme verschärfte sich, „Was meinst du mit genug? Es reicht, solange du es sagst? Du weißt alles! Du bist in allem besser als ich! Ob Talent oder Kultivierung, Spiritualität oder Persönlichkeit, ihr Jungs wusstet immer alles, während meine Leistungen nichts waren – also was bin ich?!?!“

Plötzlich streckte er die Hand aus, als wollte er sich Wei WuXians Kragen greifen. Lan WangJi packte Wei WuXians Schulter mit einer Hand, zog Wei WuXian hinter sich, und mit seiner anderen Hand drückte er Jiang Chengs Hand kraftvoll weg. Verborgene Wut konnte in seinen Augen gesehen werden. Obwohl sein Druck keine spirituelle Energie enthalten hatte, so war er in Bezug auf die Körperstärke ziemlich stark. Die Wunde an Jiang Chengs Brust riss wieder auf. Das Blut sickerte wieder heraus.

Jin Ling schrie panisch auf: „Onkel, deine Wunde! HanGuang-Jun, zeige etwas Gnade!“

Doch Lan WangJis Stimme war kalt: „Jiang WanYin, zeige etwas Tugend!“

Lan XiChen zog sein äußeres Gewand aus und legte es über den zitternden Nie HuaiSang, „Sektenführer Jiang, bitte rege dich nicht so sehr auf. Deine Verletzung wird sich noch verschlimmern.“

Jiang Cheng schob Jin Ling, der ihn hilflos hochgehalten hatte, aus dem Weg. Obwohl er viel Blut verlor, stieg es ihm dennoch unaufhörlich zu Kopf. Seine Gesichtsfarbe wechselte zwischen Weiß und Rot: „Warum? Wei WuXian, verdammt nochmal warum?!“

Hinter Lan WangJi antwortete Wei WuXian steif: „Warum was?“

Jiang Cheng, „Wie viel haben wir dir von der Jiang-Sekte gegeben? Ich hätte sein Sohn sein sollen, ich hätte der Erbe der YunmengJiang-Sekte sein sollen, aber all die Jahre wurde ich von dir bei jeder einzelnen Sache übertroffen. Du hast für deine Erziehung mit Leben bezahlt! Das Leben von meinem Vaters, von meiner Mutter, von meiner Schwester und von Jin ZiXuan! Wegen dir ist nur noch ein elternloser Jin Ling übrig!“

Jin Ling zitterte. Seine Schultern sackten nach unten, und auch sein Kopf senkte sich. Wei WuXian bewegte seine Lippen, aber er konnte nichts sagen. Lan WangJi drehte sich um und hielt seine Hand.

Auf der anderen Seite weigerte sich Jiang Cheng, nachzugeben und schrie aufgebracht: „Wei WuXian, wer war derjenige, der sein Versprechen gebrochen und zuerst die Jiang-Sekte verraten hat? Sag es mir. Dass ich der Sektenführer und du mein Untergebener sein würdest, dass du mir dein ganzes Leben lang helfen würdest, dass, solange die GusuLan-Sekte ihre zwei Jaden hat, die YunmengJiang-Sekte ihre zwei Helden haben würde, dass du mich oder die Jiang-Sekte nie verraten würdest - Wer war derjenige, der das alles gesagt hat?! Ich frage dich - wer war derjenige, der das alles gesagt hat?!! Hast du all deine verdammten Versprechen gegessen?“

Er steigerte sich nur noch mehr in seine aufgeregte Wut hinein, während er weitermachte: „Und am Ende? Da gehst du hin und beschützt Außenseiter, haha! Sogar noch Leute von der Wen-Sekte. Wie viel von ihrem Reis hast du gegessen?! Wirst abtrünnig mit einer solchen Entschlossenheit! Für was hast du unsere Sekte gehalten?! Du hast immer die besten Dinge getan, aber jedes Mal, wenn du die schlimmsten getan hast, dann war das unabsichtlich! Erzwungen! Mit einigen unaussprechlichen Beschwerden! Beschwerden?! Du hast mir nichts gesagt, du hast mich zum Narren gehalten. Wie viel schuldest du der Jiang-Sekte? Darf ich dich dafür nicht hassen? Kann ich dich dafür nicht hassen?! Warum schaut es jetzt so aus, als hätte ich dir jetzt Unrecht getan?!! Warum muss ich mich jetzt so fühlen, als hätte ich mich in all den Jahren zu einem verdammten Clown gemacht?!! Was bin ich? Verdiene ich es, von all deiner schillernden Pracht geblendet zu werden?! Ist es mir da nicht gestattet, dich zu hassen?“

Lan WangJi erhob sich zu voller Größe. In Panik sprang Jin Ling genau vor Jiang Cheng, „HanGuang-Jun! Mein Onkel ist verletzt....“

Jiang Cheng schubste ihn hart zu Boden: „Lass ihn kommen! Sollte ich Angst vor ihm haben?!“

Aber nach dem Schlag erstarrte Jin Ling. Nicht nur er, Wei WuXian, Lan WangJi und Lan XiChen hörten alle auf, sich zu bewegen.

Jiang Cheng weinte.

Tränen strömten aus seinen Augen, während er gewaltsam seine nächsten Worte durch zusammengebissene Zähne drückte, „.... Warum... Warum hast du es mir nicht gesagt?!“

Jiang Cheng ballte seine Faust zusammen, als wollte er jemanden schlagen, als wollte er sich selbst schlagen. Am Ende schlug er mit ihr auf den Boden. Er hätte Wei WuXian ohne Rücksicht weiterhin verabscheuen können. Aber im Moment nahm ihm der goldene Kern, der sich in ihm befand, jegliche Zuversicht.

Wei WuXian wusste nicht, was er sagen sollte.

Zu Anfang hatte er beschlossen gehabt, es ihm nicht zu sagen, gerade weil er einen solchen Jiang Cheng nicht sehen wollte. Er erinnerte sich an jede einzelne Kleinigkeit, die er Jiang FengMian und Herrin Yu versprochen hatte – er sollte Jiang Cheng helfen und sich um ihn kümmern. Wenn jemand, der so ungesund schlecht konkurrenzfähig war wie Jiang Cheng, davon erfahren hätte, dann wäre er sein ganzes Leben lang entmutigt gewesen und hätte sich schon damit gefoltert, sich selbst überhaupt noch im Spiegel ansehen zu können. Es hatte immer etwas gegeben, das er nie hatte überwinden können, und nun erinnerte es ihn daran, dass er nur durch das Opfer eines anderen dorthin gelangen konnte, wo er jetzt war. Es war keineswegs seine Kultivierung und seine Leistung allein gewesen. Egal, ob er gewonnen oder verloren hatte, er hatte längst jedes Wettbewerbsrecht verloren.

Danach hatte er nicht den Mut, sich anderen mitzuteilen, weil Jin ZiXuan und Jiang YanLi für ihn gestorben waren. All das Jiang Cheng zu erzählen, was dann passiert war, wäre so gewesen, als hätte er sich der Verantwortung entziehen wollen und hätte nur gezeigt, dass er auch an all dem mit beigetragen hatte. Es wäre so gewesen, als hätte er Jiang Cheng gesagt, 'Hasse mich nicht, schau nur, ich habe auch etwas zur YunmengJiang-Sekte beigetragen'.

Jiang Cheng weinte lautlos, aber die Tränen hatten sich bereits über sein gesamtes Gesicht verteilt. So unansehnlich in der Gegenwart von anderen zu weinen, wäre für ihn in der Vergangenheit fast unmöglich gewesen. Aber jeder einzelne Moment, der von nun an verging, und solange der goldene Kern in seinem Körper verweilte und er sich in ihm drehte, würde er sich immer an dieses Gefühl erinnern.

Er japste, „... Du sagtest, ich würde der Sektenführer sein und du wärst mein Untergebener, du sagtest, du würdest mir dein ganzes Leben lang helfen, du sagtest, du würdest nie die YunmengJiang-Sekte verraten.... Du selbst hast das gesagt.“

„…“

Nach einer Schweigeminute antwortete Wei WuXian: „Es tut mir leid. Ich habe meine Versprechen gebrochen.“

Jiang Cheng schüttelte den Kopf und vergrub sein Gesicht tief in seinen Handflächen. Eine Sekunde später brach er plötzlich in ein Lachen aus. Seine gedämpfte Stimme spottete leise: „Jetzt ist es schon so weit, dass ich dich immer noch dafür brauche, dass du dich bei mir entschuldigen kannst. Was für ein schwacher Mensch ich doch bin.“


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