Kapitel
64: Zärtlichkeit – Teil Zwei
Finstere
Melodie
Wei WuXian nahm seine
Flöte und spielte einen Abschnitt nach dieser Partitur. Wie
erwartet, waren die beiden Teile dieser Melodie getrennt worden. Die
Hälfte der Partitur auf der ersten Seite war überhaupt nicht
dasselbe Lied wie auf der zweiten Seite.
Zwischen diesen beiden
Seiten sollte eine weitere Seite liegen. Sie war herausgerissen
worden, vorsichtig, heimlich.
Die Person hatte die
Seite mit viel Sorgfalt entfernt. Es gab keine einzige Spur mehr von
dieser Seite, was es schwierig machte, entdeckt zu werden. Wei WuXian
drehte das Buch um. Auf dem dunkelblauen Cover befand sich ein Titel
mit drei großen Schriftzeichen.
Wei WuXian, „Die
Sammlung der Unruhe?
Was für ein Buch ist das? Die Lieder darin klingen irgendwie etwas
seltsam.“
Lan WangJi, „Es ist
eine Liedersammlung von Dongying.“
Wei WuXian, „Von
Dongying? Deshalb klingt die Melodie so anders als die von hier
drüben.“
Lan XiChens Ausdruck war
komplex, „... Legendär ist ‚Die Sammlung der Unruhe‘, eine
Sammlung dunkler Lieder, die von einem der Kultivierenden der
GusuLan-Sekte während seiner Wanderjahre gesammelt wurden, als er
über das große Wasser reiste und nach Dongying kam. Die Lieder in
diesem Buch, wenn sie zusammen mit spiritueller Energie gespielt
werden, sind in der Lage, anderen zu schaden, von der Schwächung des
Körpers über die Irritation des Geistes bis hin zur Erregung des
Geistes bis hin zur Abschaltung der Sinne.... Diejenigen mit großer
spiritueller Kraft könnten mit nur sieben Noten das Leben anderer
nehmen.“
Wei WuXian schlug auf die
Schreibtischplatte: „Das ist es!“
Er war so glücklich,
dass er, als er auf den Schreibtisch geschlagen hatte, fast die
Papierlaterne umgestoßen hätte. Lan WangJi fing sie gerade noch
rechtzeitig ab. Wei WuXian sprach: „Sektenführer Lan, innerhalb
der ‚Sammlung der Unruhe‘, gibt es da etwas, das die Gelassenheit
einer Person stören könnte und sie irritiert, aufgeregt,
gewalttätig, leicht gefährdet macht?“
Lan XiChen, „... Es
sollte so sein.“
Wei WuXian, „Die
spirituelle Energie von Jin GuangYao ist nicht besonders hoch. Mit
nur sieben Noten hätte er nicht das Leben von jemandem nehmen
können. Und ihn so zu töten, wäre zu offensichtlich gewesen. Er
hätte definitiv nicht ein so kraftvolles Lied ausgewählt. Aber,
wenn er den Grund, das 'Lied der Klarheit' für ChiFeng-Zun zu
spielen, dazu ausnutzen könnte, um angeblich sein Temperament zu
beruhigen und es drei Monate lang weiterspielen würde, dann würde
das Lied dazu in der Lage sein, als langsames Gift zu wirken und den
Ausbruch von ChiFeng-Zun zu katalysieren?!“
Lan XiChen, „... Ja.“
Wei WuXian, „Dann wäre
die Spekulation sehr vernünftig. Die herausgerissene Partitur, die
nicht Teil von 'Reinigung' war, gehörte zu einer fehlenden Seite
innerhalb der ‚Sammlung der Unruhe‘. Alle Dongying-Lieder, die in
die ‚Sammlung der Unruhe‘ aufgenommen wurden, sind komplex und
schwer zu beherrschen. Er hatte keine Zeit, sie hier im verbotenen
Raum zu kopieren und konnte sie nur herausreißen - nein, das ist so
nicht richtig. Jin GuangYao ist in der Lage, etwas nur einmal
anzusehen und es dann nie wieder zu vergessen. Er riss die Seite
nicht aus, weil er sie sich nicht merken konnte, sondern weil es dann
keinen Beweis dafür geben würde, das sie weg ist. Um für sich
selbst sicherzustellen, dass selbst wenn es eines Tages alles ans
Licht käme, oder er auf frischer Tat ertappt werden würde, niemand
die Quelle dieser Melodie finden könnte. Alles, was er getan hat,
war mit äußerster Vorsicht. Vor dir spielte er eindeutig die
richtige Version von 'Reinigung' im 'Lied der Klarheit'. ChiFeng-Zun
war kein leidenschaftlicher Kunstliebhaber. Er hatte dir zugehört,
Sektenführer Lan, wie du 'Reinigung' zuvor gespielt hast und kannte
daher die gesamte Melodie. So wagte es Jin GuangYao nicht, ihm das
dunkle Lied vorzuspielen, sondern gab sich die Mühe, zwei Lieder
verschiedener Stile mit unterschiedlichen Verwendungszwecken zu
kombinieren. Und er hat sie so gut kombiniert. Sie klingen, als wäre
es das Gleiche. Sein musikalisches Talent ist in der Tat
ausgezeichnet. Ich vermute, dass er in den Reinigungsabschnitten
wenig spirituelle Kraft benutzte und nur in den Teilen der ‚Sammlung
der Unruhe‘ Kraft ausübte. Schließlich war ChiFeng-Zun mit dieser
Kultivierungsmethode nicht vertraut, so dass er natürlich nicht
erkennen würde, dass Jin GuangYao bereits einen der Abschnitte in
eine dunkle, lebensverneinende Melodie umgewandelt hatte!“
Nach einer Weile der
Stille flüsterte Lan XiChen, „.... Obwohl er die Wolken-Schluchten
schon oft besucht hat.… habe ich ihm nie von der verbotenen Kammer
im Bibliothekspavillon der Lan-Sekte erzählt.“
Wei WuXian, „Sektenführer
Lan, entschuldigt meine Dreistigkeit, aber während der
'Sunshot-Kampagne' war Jin GuangYao ein Spion in der 'Nachtlosen
Stadt' der QishanWen-Sekte, und er war ein sehr guter Spion. Er
konnte sogar Wen RuoHans geheime Kammer finden, sich
hineinschleichen, ohne dass es jemand bemerkt hat, sich alle Karten
und Schriftrollen merken und alle Informationen auswendig lernen,
bevor er sie an den Karpfenturm schickte. Für ihn ist der verbotene
Raum des Bibliothekspavillons der Lan-Sekte.... wirklich kein
Hindernis.“
Lan XiChen nahm das Blatt
Papier mit der Partitur in seine Hände. Er starrte es eine Weile
lang an: „Ich werde einen Weg finden, diese Partitur zu testen.“
Lan WangJi, „Bruder?“
Lan XiChen, „Als Bruder
starb, war die Belagerung des Grabhügels bereits vorbei und der
junge Meister Wei war nicht mehr auf dieser Welt. Wenn dieser Teil
der Partitur nach den Versuchen wirklich in der Lage ist, den Geist
zu stören und er sich nicht wieder versöhnen lässt, dann werde
ich....“
Wei WuXian, „ZeWu-Jun,
das Lied an einem lebenden Menschen auszuprobieren, könnte den
Sektenregeln der GusuLan-Sekte widersprechen.“
Lan XiChen, „Ich werde
es an mir selbst versuchen.“
Wie er als Sektenführer
der GusuLan-Sekte so etwas fast Lächerliches sagen konnte,
bedeutete, dass sein Herz bereits vollkommen verwirrt war. Lan WangJi
erhob seine Stimme leicht, „Bruder!“
Lan XiChen stützte
seinen Kopf mit der Hand ab. Seine Stimme war leise, als ob er
versuchte, etwas zurückzuhalten, „WangJi, die Version von Jin
GuangYao, die ich kenne, ist völlig anders als die Version, die du
kennst und die Version, die die Welt kennt! In all den Jahren, in
meinen Augen, war er immer.... er ertrug seine Leiden, er kümmerte
sich um alle Menschen, er behandelte jeden mit Respekt. Ich habe
immer, ohne Zweifel, geglaubt, dass die Kritik, die er von anderen
erhalten hat, alle auf Missverständnissen beruhen, dass das, was ich
über ihn wusste, die Wirklichkeit ist. Nun willst du, dass ich
sofort glaube, dass alles an dieser Person gelogen ist, dass er einen
seiner geschworenen Brüder töten wollte, dass ich auch Teil seines
Plans war und ihm sogar dabei geholfen habe... Könntest du mir bitte
etwas mehr Diskretion gewähren, bevor ich mein eigenes Urteil
fälle?“
Lan XiChen hatte Jin
GuangYao das 'Lied der Klarheit' beigebracht, wobei er den Groll
zwischen Jin GuangYao und Nie MingJue im Hinterkopf hatte, in der
Hoffnung, dass sie so sein könnten, wie sie einmal gewesen waren. Er
bat Jin GuangYao, Nie MingJue anstelle von ihm zu beruhigen. Wer
hätte gedacht, dass seine Freundlichkeit die Grausamkeit von Jin
GuangYao erst ermöglicht hatte? Wie sollte er sich da selbst noch im
Spiegel ansehen können?
Keiner der drei sagte
etwas. Nachdem sie den Bibliothekspavillon verlassen hatten, sprach
Lan WangJi schließlich: „Ich werde zu Onkel gehen.“
Lan XiChen, der lange
Zeit still gewesen war, sprach ebenfalls: „Ich werde den jungen
Meister Wei zurückbringen. Du kannst danach kommen.“
Während er Wei WuXian
den Weg wies, ging er eine Weile lang die weißen Pfade der
Wolken-Schluchten entlang, bevor sie zu dem abgelegenen, mit Enzian
umwachsenen Haus in den Tiefen der Berge zurückkehrten. Wei WuXian
stand vor der Tür: „Weiß Meister Lan, dass HanGuang-Jun....“
Lan XiChen, „Onkel ist
gerade erst aufgewacht. Ich sagte allen, sie sollten ihm nichts
Unnötiges sagen.“
Wenn Lan QiRen von den
Dingen wüsste, die Lan WangJi mit ihm zusammen im Karpfenturm
gemacht hatte, dann wäre er definitiv so wütend, dass er gleich
nach dem Aufwachen wieder ohnmächtig werden würde. Wei WuXian,
„Vielen Dank an Meister Lan für die ganze Arbeit, die er geleistet
hat.“
Lan XiChen, „Onkel hat
in der Tat eine Menge Arbeit geleistet.“
Plötzlich sprach er:
„Junger Meister Wei, weißt du, weshalb hier dieses Haus ist?“
Wei WuXian, „ZeWu-Jun,
warum denkst du, dass ich es weiß?“
Lan XiChen blickte ihn
an: „Hier lebte meine Mutter damals in den Wolken-Schluchten.“
Lan XiChens Mutter war
auch Lan WangJis Mutter. Wei WuXian fand das etwas seltsam. Die
Residenzen aller Sektenführer der GusuLan-Sekte waren die ‚Hanshi‘
gewesen, die definitiv nicht so ein kleines Haus waren, das in einer
Ecke der Wolken-Schluchten versteckt war. Vielleicht waren Lan
WangJis Eltern in einer ungeeigneten, aber vorbereiteten Ehe wie
Jiang FengMian und Herrin Yu gewesen und lebten so getrennt
voneinander?
Egal wie man darüber
nachdachte, es konnte keinen positiven Grund dafür geben, dass ein
Sektenführer nicht mit seiner Frau zusammenlebte. Und es wurde
gesagt, dass die Frau des früheren Sektenführers QingHeng-Jun
körperlich ziemlich schwach gewesen war. Sie ruhte sich die meiste
Zeit aus und es war unpassend für sie, andere zu treffen. Die Leute
wussten von Anfang an nicht viel über sie. Hinter ihrem Rücken
ahnten alle Sekten, dass diese ‚Krankheit‘ etwas Schändliches
war wie eine Narbe im Gesicht oder eine Behinderung. Und so fragte
Wei WuXian nicht zu viel danach und blieb still und wartete auf die
Erklärung von Lan XiChen.
Lan XiChen, „Junger
Meister Wei, du solltest wissen, dass mein Vater normalerweise in der
Abgeschiedenheit meditierte und nie zu oft mit dem Rest der Welt
interagierte. Während all dieser Jahre wurde die GusuLan-Sekte fast
allein von meinem Onkel betreut.“
Wei WuXian, „Das weiß
ich doch.“
Lan XiChen ließ seine
Hand sinken. Die Hand, mit der er Liebing hielt, war in seinem Ärmel
versteckt. Er sprach langsam: „Der Grund, warum mein Vater oft
zurückgezogene Meditation praktizierte, war meine Mutter. Dieser
Ort, verglichen mit einem Ort des Lebens.... war für sie eher ein
Ort der Inhaftierung.“
Wei WuXian war
überrascht.
Der Vater von ZeWu-Jun
und HanGuang-Jun, QingHeng-Jun, war früher ein berühmter
Kultivierender gewesen. Er hatte sich schon in jungen Jahren einen
Namen gemacht und man hatte ihm eine große Zukunft prophezeit. Im
Alter von zwanzig Jahren zog er sich jedoch plötzlich zurück und
kündigte seine Heirat an. Er hatte auch aufgehört, sich um einen
Großteil des Weltgeschehens zu kümmern. Obwohl es als
zurückgezogene Meditation bezeichnet wurde, war es viel eher wie der
Ruhestand. Die Leute hatten viele mögliche Gründe dafür gefunden,
aber keiner von ihnen war bestätigt worden.
Lan XiChen beugte sich
inmitten der Büschel von Enzianen nach unten. Er streichelte sanft
die dünnen, zarten Blütenblätter: „Als mein Vater jung war, kam
er einmal von einer Nachtjagd zurück, und sah meine Mutter außerhalb
der Stadt Gusu.“
Er lächelte: „Ich
hörte, dass es Liebe auf den ersten Blick gewesen war.“
Wei WuXian grinste auch:
„Die Jungend ist da oft sentimental.“
Lan XiChen fuhr fort:
„Die Frau mochte ihn jedoch nicht so sehr. Außerdem hatte sie
einen der Lehrer meines Vaters getötet.“
Das war unvorstellbar.
Obwohl Wei WuXian wusste, dass es nun unhöflich wäre, zu viele
Fragen zu stellen, so hatte er das Gefühl, da es sich um Lan WangJis
Eltern handelte, dass er fragen musste, „Warum?“
Lan XiChen, „Ich weiß
es nicht. Aber ich nehme an, dass es etwas im Sinne von
‚Beanstandungen‘ war.“
Wei WuXian fragte nicht
mehr danach und zwang seine Neugierde zurück: „Und... was geschah
später?“
„Und dann“, erklärte
Lan XiChen, „als mein Vater davon erfuhr, litt er besonders stark
darunter. Aber, egal wie sehr er gegen den Widerspruch in sich
ankämpfte, so brachte er die Frau immer wieder heimlich zu seiner
Sekte. Er ignorierte die Einwände seines Clans, kniete mit ihr für
Himmel und die Erde nieder, ohne es groß zu verkünden, und
sagte allen im Clan, dass sie für den Rest seines Lebens seine Frau
sein würde, dass jeder, der ihr etwas antun wollte, zuerst an ihm
vorbei müsste.“
Wei WuXian Augen wurden
groß.
Lan XiChen fuhr fort:
„Nachdem die Zeremonie abgeschlossen war, fand mein Vater ein Haus
und schloss meine Mutter darin ein. Er fand ein anderes Haus und
schloss sich darin ein. Es hieß abgeschiedene Meditation, aber es
war in Wahrheit nichts anderes als Buße zu tun.“
Er hielt inne, bevor er
wieder sprach: „Junger Meister Wei, kannst du verstehen, warum er
so etwas getan hat?“
Wei WuXian antwortete
nach einer Schweigeminute: „Er konnte weder demjenigen vergeben,
der seinen Lehrer getötet hatte, noch dem Tod der Frau zusehen, die
er liebte. Er konnte sie nur heiraten, um ihr Leben zu schützen und
sich dann zwingen, sie nicht zu sehen.“
Lan XiChen, „Glaubst
du, dass das richtig war?“
Wei WuXian, „Ich weiß
nicht.“
Lan XiChen sah etwas
verloren aus: „Was wäre dann deiner Meinung nach richtig gewesen?“
Wei WuXian, „Ich weiß
nicht.“
Wenig später flüsterte
Lan XiChen: „Man könnte sagen, dass mein Vater dies ohne Rücksicht
auf etwas anderes tat. Alle älteren Menschen des Clans waren wütend,
aber sie alle hatten ihn beim Aufwachsen beobachtet. Sie konnten
nichts anderes tun, als das Geheimnis zu bewahren, die Außenwelt
darauf hinzuweisen, dass die Frau des Sektenführers der
GusuLan-Sekte eine unsägliche Krankheit hatte und keine anderen sie
sehen konnten. Nachdem WangJi und ich geboren wurden, wurden wir
sofort von ihr weggenommen, um von anderen Menschen betreut zu
werden. Als wir älter wurden, wurden wir zu Onkel gebracht, um
unterrichtet zu werden. Mein Onkel.... hatte von Anfang an eine
ehrliche Persönlichkeit. Weil meine Mutter meinen Vater dazu
gebracht hatte, sein eigenes Leben zu zerstören, begann er
diejenigen zu hassen, die sich noch mehr unangemessen verhielten. So
widmete er sein Herz in die Lehren von WangJi und mir. Er war auch
besonders hart zu uns. Jeden Monat konnten wir Mutter nur einmal
sehen, in diesem Haus.“
Es waren zwei kleine
Kinder, die jeden Tag nur ihrem harten Onkel, strengen Lehren und
Bergen von Büchern gegenüberstanden. Egal wie müde sie auch waren,
sie mussten ihren weichen Rücken aufrichten, um die herausragendsten
Schüler des Clans zu werden, die Musterschüler in den Augen
anderer. Sie konnten ihre engsten Verwandten nur selten sehen. Sie
konnten nicht in den Armen ihres Vaters herumalbern, sie konnten sich
vor ihrer Mutter nicht verzogen verhalten.
Aber sie hatten eindeutig
nichts falsch gemacht.
Lan XiChen, „Jedes Mal,
wenn WangJi und ich sie besuchten, hatte sie sich nie darüber
beschwert, wie mühsam es sei, hier drin eingesperrt zu sein, und
nicht in der Lage zu sein, einen Schritt hinauszugehen. Sie hatte uns
auch nie nach unserem Studium gefragt. Sie mochte es besonders,
WangJi zu necken, aber WangJi, je mehr man ihn neckt, desto weniger
ist er bereit zu reden, desto schlimmer wird sein Ausdruck. So ist er
schon seit seiner Jugend. Aber“, kicherte er, „obwohl WangJi es
nie gesagt hat, so wusste ich, dass er sich jeden Monat auf den Tag
freute, an dem er Mutter sehen konnte. Er war so, und ich war
genauso.“
Wei WuXian stellte sich
einen jungen Lan WangJi vor, der von den Armen seiner Mutter umarmt
wurde, seine schneeweißen kleinen Wangen zeigten eine zartrosa
Färbung. Er lachte auch. Aber bevor sein Lächeln überhaupt
abgeklungen war, fuhr Lan XiChen fort: „Aber eines Tages sagte uns
Onkel plötzlich, dass wir nicht mehr hingehen müssten. Mutter sei
gegangen.“
Wei WuXians Stimme war
leise: „Wie alt war Lan Zhan damals?“
Lan XiChen, „Sechs.“
Er fuhr fort: „Er war
noch zu jung, um zu verstehen, was ‚gegangen‘ bedeutet. Egal, wie
sehr andere ihn trösteten, wie sehr Onkel ihn schimpfte, er kam
jeden Monat hierher zurück, setzte sich in den Gang und wartete
darauf, dass jemand die Tür für ihn öffnete. Als er älter wurde,
verstand er, dass Mutter nicht mehr zurückkommen würde, dass
niemand die Tür für ihn öffnen würde, aber er kam immer wieder
hierher.“
Lan XiChen stand auf.
Seine dunklen Augen sahen genau in Wei WuXians Augen: „WangJi ist
schon seit seiner Jugend so stur.“
Die Blätter raschelten
und die Enzianblüten schwangen entlang des Windes, ihr Duft
verweilte. Wei WuXians Blick landete auf dem Holzflur des Hauses. Er
konnte fast sehen, wie ein kleines Kind mit einem Stirnband vor dem
Haus in richtiger Haltung saß und leise darauf wartete, dass sich
die Tür öffnete.
Er sagte: „Herrin Lan
muss eine sehr sanfte Frau gewesen sein.“
Lan XiChen, „In meinen
Erinnerungen war Mutter tatsächlich so. Ich weiß nicht, warum sie
damals so etwas getan hat. Und in Wahrheit, ich....“
Er holte tief Luft, bevor
er gestand: „Ich will es auch nicht wissen.“
Nach einigen Momenten der
Stille schloss Lan XiChen seine Augen. Er holte Liebing heraus. Ein
nächtlicher Windstoß schickte plötzlich eine schluchzende Note des
Xiao aus. Der Klang war tief, wie ein Seufzer.
Wei WuXian hatte Lan
XiChen schon einmal Liebing spielen hören. Sein Klang war genau wie
Lan XiChen selbst, so warm und anmutig wie die Brise und der Regen
des Frühlings. Doch jetzt, obwohl seine Technik so hervorragend war
wie eh und je, rief der Ton eine seltsame Mischung von Gefühlen in
ihm hervor.
Der nächtliche Wind zog
vorbei. Lan XiChens Haar und Stirnband waren bereits etwas zerzaust.
Der Sektenführer der GusuLan-Sekte, der das Aussehen immer sehr
geschätzt hatte, schenkte dem jedoch keine Beachtung. Erst nach dem
Ende des Liedes legte er Liebing wieder hin: „Musik ist nachts in
den Wolken-Schluchten verboten. Heute bin ich viel zu weit gegangen.
Es tut mir leid, junger Meister Wei.“
Wei WuXian, „Warum?
ZeWu-Jun, hast du vergessen, dass die Person, die hier vor dir steht,
die Person ist, die die meisten Regeln hier gebrochen hat....“
Lan XiChen lächelte:
„Die GusuLan-Sekte hat der Außenwelt noch nie etwas über WangJis
und meiner Vergangenheit offenbart. Ich hätte es dir nicht sagen
sollen. Heute Abend war mein plötzlicher Drang, mich zu entlasten
wohl ein Impuls des Augenblicks.“
Wei WuXian, „Ich bin
nicht die Art von Person, die zu viel redet. Keine Sorge, ZeWu-Jun.“
Lan XiChen, „Trotzdem
würde ich annehmen, dass WangJi nichts vor dir verbergen würde.“
Wei WuXian, „Wenn er
nicht über etwas reden will, dann werde ich ihn auch nicht fragen.“
Lan XiChen, „Aber, bei
WangJis Persönlichkeit, wie könnte er dir da etwas sagen, wenn du
ihn nicht fragst? Es gibt einige Dinge, die er nicht sagen würde,
selbst wenn man ihn fragt.“
Wei WuXian wollte
weitersprechen, als er hörte, wie Schritte von hinten kamen. Er
drehte sich um, um zu sehen, wie sich ihnen Lan WangJi im Mondlicht
näherte. Seine rechte Hand hielt zwei runde Schnapskrüge mit roten
Deckeln. Wei WuXians Augen leuchteten auf: „HanGuang-Jun, du bist
wirklich rücksichtsvoll!“
Information
Dongying:
Das bezieht sich auf Japan. In Wuxia-Novels wird so das Inselreich im
Meer bezeichnet.
die
Himmel und die Erde: Das Knien vor dem Himmel und der Erde ist
das letzte der drei knienden Rituale während einer chinesischen
Trauung.
oi und jetzt hab ich tatsächlich Tränen in den Augen
AntwortenLöschenlg.Lilli
Du bretterst ja echt durch... sorry, dass ich gerade kaum bis gar nicht reagieren kann...bin mitten im Umzug und hab erst in 9 Tagen wieder Internet (muss sparsam mit meinen Smartphone GBs sein...auch ne Flat ist nicht unendlich). Aber es freut mich total, dass dir meine Übersetzung so gut gefällt :-D! Da weiß ich immer, dass sich die viele und lange Arbeit doch gelohnt hat.
AntwortenLöschenIch habe vor 2 Tagen das Drama beendet und dann direkt mit deiner Übersetzung angefangen. Großartig das du das alles für uns übersetzt hast :3
AntwortenLöschenIch weine mindestens einmal bei jedem Kapitel Q.Q