Kapitel 110: CangFeng – Teil Vier
Jeder hat seinen eigenen Weg
Wei WuXian, „Särge werden natürlich zur Aufbewahrung von Leichen benutzt. Ich schätze, dass das, was hier ursprünglich begraben lag, die Leiche von Jin GuangYaos Mutter Meng Shi gewesen war. Er kam heute Abend hierher, um die Leiche seiner Mutter zu holen und um mit ihr dann nach Dongying zu reisen.“
Lan XiChen sagte nichts. Nie HuaiSang Mund formte das Wort 'ah', und er nickte verstehend, „Oh, ja. Das klingt sehr nachvollziehbar.“
Wei WuXian fragte: „Was denkst du, hat die Person getan, nachdem sie die Leiche von Jin GuangYaos Mutter ausgegraben hatte?“
Nie HuaiSang, „Wei-xiong, warum fragst du mich ständig so etwas? Egal, wie oft du mich noch fragst, ich weiß doch nichts.“
Nach einer Pause fuhr er fort: „Aber....“, und langsam versuchte Nie HuaiSang dabei, sein sturmzerzaustes Haar zu richten, „...ich denke, wenn diese Person Jin GuangYao so sehr hasst, wäre sie wahrscheinlich völlig gnadenlos gegenüber etwas, das er mehr geschätzt hat als sein Leben.“
Wei WuXian, „Wie zum Beispiel die Leiche auseinander schneiden und die Gliedmaßen an verschiedenen Orten aufbewahren, so wie bei ChiFeng-Zun?“
Nie HuaiSang sprang entsetzt auf und stolperte rückwärts, „D-d-d-das ist.... Das ist ein bisschen zu viel, nicht wahr....“
Wei WuXian starrte ihn eine Weile an, bevor er schließlich seinen Blick abwandte. Vermutungen waren schließlich Vermutungen. Niemand hatte Beweise.
Vielleicht war die Verwirrung und Hilflosigkeit auf Nie HuaiSangs Gesicht im Moment nur eine Täuschung. Er wollte ihm nicht unterstellen, dass er andere als Bauern in seinem Spiel benutzt und Menschenleben als Nichts betrachtet hatte. Vielleicht waren seine Pläne auch noch nicht abgeschlossen und er musste sein wahres Gesicht weiterhin verbergen, um mehr tun und um noch höhere Ziele erreichen zu können. Oder, vielleicht war es gar nicht so kompliziert. Es war vielleicht jemand anderes, der den Brief geschickt, die Katzen getötet und den Kopf und den Körper von Nie MingJue zusammengesetzt hatte. Vielleicht war Nie HuaiSang wirklich ein vollständiger, authentischer Taugenichts.
Vielleicht waren die letzten Worte, die Jin GuangYao gesagt hatte, eine Lüge in letzter Minute gewesen, nachdem Nie HuaiSang seine Angriffsabsicht durchschaut hatte, so dass Lan XiChens Gedanken verwirrt sein würden, während Jin GuangYao sie in den gemeinsamen Tod zog. Schließlich war Jin GuangYao ein großer Lügner mit unzähligen vergangenen Delikten gewesen. Es wäre nicht seltsam gewesen, egal, ob er gelogen hätte oder worüber er gelogen hätte.
Aber warum er seine Meinung in letzter Sekunde geändert hatte und Lan XiChen aus dem Weg gestoßen hatte, konnte niemand beantworten, da niemand genau wusste, was er in diesem Augenblick wohl gedacht hatte.
Plötzlich traten die Venen auf den Handrücken, in denen Lan XiChen seine Stirn gelegt hatte, hervor. Seine Stimme klang gedämpft, „.... Was wollte er überhaupt tun? Ich habe wirklich einmal gedacht, dass ich ihn gut kennen würde, und dann wurde mir klar, dass ich es nicht tat. Vor heute Abend dachte ich, dass ich ihn wirklich gut kenne, aber jetzt tu ich das nicht mehr.“
Niemand konnte ihm eine Antwort geben. Lan XiChen wiederholte frustriert: „Was wollte er tun?“
Doch da selbst derjenige, der Jin GuangYao am nächsten gestanden hatte, es nicht wusste, war es unmöglich, dass jemand anderes eine Antwort darauf geben konnte.
Nach einer Weile der Stille sprach Wei WuXian: „Wir sollten aufhören, hier nur so herumzustehen. Gehen wir ein paar Leute suchen, die uns hier helfen. Wir brauchen auch ein paar, die dieses Ding hier bewachen. Der Sarg und die Guqinschnüre werden ChiFeng-Zun nicht lange versiegeln können.“
Als ob er seine Aussage noch unterstreichen wollte, erklangen wieder laute Geräusche aus dem Sarg, und ließen eine unaussprechliche Wut erahnen. Nie HuaiSang erzitterte. Wei WuXian blickte ihn an: „Siehst du? Jetzt musst du zu einem festeren Sarg wechseln, ein tieferes Grab graben und ihn noch einmal begraben. Du wirst es für mindestens hundert Jahren nicht mehr öffnen können. Wenn du es doch tust, so sei dir garantiert, dass er weiter jagen wird, was zu endlosen Folgen führen würde....“
Bevor er fertig gesprochen hatte, konnten sie aus der Ferne ein lautes, klares Bellen hören.
Wei WuXians Gesichtsausdruck veränderte sich sofort, während Jin Ling es schaffte, etwas Energie zurück zu gewinnen, „Fee!“
Das Gewitter war weitergezogen und der strömende Regen war zu einem Nieseln geworden. Der dunkelste Teil der Nacht war bereits vorüber. Das erste Tageslicht war bereits zu sehen.
Im Sprint flog der nasse Hund wie ein schwarzer Wirbelwind herein und warf sich auf Jin Ling. Seine runden Augen waren feucht, während er auf seinen Hinterbeinen stand, sich an Jin Lings Körper klammerte und wimmerte. Wei WuXian beobachtete, wie sich seine purpurrote Zunge aus seinen mit weißen, scharfen Zähnen bespickten Maul streckte und Jin Lings Hand ableckte. Sein Gesicht wurde blasser und seine Augen glasiger. Als er seine Lippen öffnete, spürte er, dass seine Seele im Begriff war, zu einem Hauch von grünem Rauch zu werden, um durch seinen Mund zum Himmel aufzusteigen. Ganz dezent stellte sich Lan WangJi vor ihn und blockierte die gerade Sicht zwischen ihm und Fee.
Augenblicklich umzingelten Hunderte von Menschen den GuanYin Tempel. Sie alle schienen alarmiert und hatten ihre Schwertern aus den Scheiden gezogen, als wären sie jederzeit bereit für einen großen Kampf. Nachdem diejenigen, die zuerst in den Tempel gestürzt waren, die Szene mit ihren eigenen Augen sahen, zögerten sie alle überrascht. Diejenigen, die auf dem Boden lagen, waren bereits alle tot; Diejenigen, die nicht gestorben waren, waren halb liegend, halb stehend. Zusammenfassend ließ sich sagen, dass Leichen und allgemeines Chaos den ganzen Boden pflasterten.
Von den beiden, die an vorderster Front standen, war der Linke die rechte Hand und Stellvertreter des Führers der YunmengJiang-Sekte, während der Rechte Lan QiRen war. Lan QiRen zeigte noch immer ein Gesicht voller Schock und Zweifel. Bevor er überhaupt seinen Mund öffnen konnte, um nachzufragen, war das erste, was er sah, Lan WangJi, der so dicht bei Wei WuXian stand, dass man sie praktisch für eine Person halten konnte. Im Handumdrehen hatte er alles vergessen, was er fragen wollte. Wut zeichnete sich deutlich auf seinem Gesicht ab. Seine Brauen waren zusammengezogen, er schnaufte und blähte erbost seine Wangen, wobei sein Schnurrbart in der Luft förmlich vibrierte.
Der Stellvertreter ging sofort los, um Jiang Cheng zu helfen: „Sektenführer, geht es dir gut....?“
Während Lan QiRen sein Schwert anhob und schrie: „Wei....“
Noch bevor er fertig geschrien hatte, stürzten hinter seinem Rücken ein paar weiß gekleidete Gestalten hervor, die alle riefen: „HanGuang-Jun!“
„Senior Wei!“
„Senior Patriarch!“
Der letzte Junge stieß gegen Lan QiRen, so hart, dass dieser fast umkippte. Er schnaubte: „Nicht rennen! Nicht schreien!“
Außer Lan WangJi, der sich an ihn wandte und „Onkel“ rief, schenkte ihm niemand Beachtung.
Lan SiZhui packte Lan WangJis Ärmel mit der linken Hand und Wei WuXians Arm mit der rechten, und strahlte: „Das ist toll! HanGuang-Jun, Senior Wei! Was für eine Erleichterung, dass es euch beiden gut geht. Bei aller Besorgnis dachten wir, ihr wärt diesmal wirklich in Schwierigkeiten geraten.“
Lan JingYi, „SiZhui, wirklich? Wie könnte es eine Situation geben, mit der HanGuang-Jun nicht umgehen könnte? Ich habe dir doch gesagt, dass du dir zu viele Sorgen machst.“
„JingYi, warst du nicht derjenige, der sich den ganzen Weg hierher Sorgen gemacht hat?“
„Verschwinde! Hör auf, Unsinn zu reden.“
Lan SiZhui sah Wen Ning, der nun endlich vom Boden aufstehen konnte, aus dem Augenwinkel. Er schleppte ihn sofort auch zu ihnen hinüber und stellte ihn in den Kreis der Jungen, die alle auf einmal erklärten, was passiert war.
Nachdem Fee Su She gebissen hatte, war sie den ganzen Weg alleine zu einer kleineren, von der YunmengJiang-Sekte abhängigen Sekte gelaufen, die ihren Sitz hier in der Stadt hatte, und hatte dort unnachlässig vor deren Tür gebellt. Als der junge Sektenführer dort das spezielle Halsband an ihrem Hals mit einem goldenen Zeichen und einem Wappen sah, wusste er, dass dieser spirituelle Hund wahrscheinlich aus wichtigem Grund da war. Mit all dem Blut am ganzen Körper war klar, dass sie sich in einem Kampf befunden haben musste, wobei ihr Besitzer wahrscheinlich nun in großer Gefahr war. Aus Angst diese Situation misszuverstehen, war er sofort mit ihr auf sein Schwert gesprungen und zum Lotus Pier geflogen, um die eigentliche Sekte, die den Vorsitz über das Gebiet innehatte, die YunmengJiang-Sekte, zu informieren. Der Stellvertreter erkannte sofort, dass es sich um den spirituellen Hund Fee des jungen Meisters Jin Ling handelte und schickte sofort Hilfe.
In diesem Augenblick war die GusuLan-Sekte dabei gewesen, den Lotus-Pier zu verlassen. Lan QiRen wurde jedoch von Fee gestoppt. Sie sprang ihn an, riss einen dünnen weißen Stofffetzen aus dem Saum von Lan SiZhuis Gewand und schob ihn mit ihren Pfoten auf ihren Kopf, als ob sie das weiße Tuch zu einem Kreis um ihre Stirn machen wollte. Dann legte sie auf dem Boden und tat so, als wäre sie tot. Lan QiRen hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, aber Lan SiZhui hatte einen Moment der Offenbarung: „Meister Lan, sieht es nicht so aus, als würde sie das Stirnband unserer Sekte nachahmen? Will sie uns damit sagen, dass entweder HanGuang-Jun oder jemand von der Lan-Sekte ebenfalls in Gefahr ist?“
Und so versammelten sich die YunmengJiang-Sekte, die GusuLan-Sekte und ein paar andere Sekten, die noch nicht gegangen waren, schließlich alle und kamen, um ihnen gemeinsam zu helfen.
Lan JingYi schnalzte mit der Zunge, „Wir haben zwar immer über Fee hergezogen und Witze über sie gemacht, aber wer hätte gedacht, dass sie wirklich ein spiritueller Hund ist!“
Aber egal wie spirituell, wie magisch sie auch war, so war sie immer noch ein Hund, das furchterregendste aller Wesen auf dieser Welt, zumindest für Wei WuXian. Selbst wenn Lan WangJi vor ihm stand, zitterte er immer noch von Kopf bis Fuß. Seitdem die Junioren der Lan-Sekte zu ihnen gekommen waren, war Jin Lings Blick immer wieder auf sie gefallen und er beobachtete, wie sie Wei WuXian und Lan WangJi im Gespräch umgaben.
Als er jedoch sah, wie Wei WuXians Teint noch blasser wurde, tätschelte er Fees Hintern und flüsterte: „Fee, geh schon einmal nach draußen.“
Fee schüttelte jedoch mit Kopf und Schwanz und leckte weiter. Jin Ling schimpfte: „Raus jetzt! Hörst du etwa nicht mehr auf mich?!“
Fee gab ihm einen erbärmlichen Hundeblick und trabte schließlich mit eingezogenem Schwanz aus dem Tempel. Wei WuXian konnte endlich einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen. Jin Ling wollte hinübergehen, aber er fühlte sich nun doch etwas verlegen. Während er noch zögerte, sah Lan SiZhui plötzlich etwas an Wei WuXians Taille. Er hielt einen Moment inne, „....Senior Wei?“
Wei WuXian, „Hm? Was?“
Lan SiZhui schien wie in Trance zu sein: „Könntest du... Könntest du mich mal einen Blick auf deine Flöte werfen lassen?“
Wei WuXian zog sie hervor, „Was ist denn mit der Flöte?“
Lan SiZhui nahm die Flöte mit beiden Händen entgegen und runzelte die Stirn. Verwirrung war ihm ins Gesicht geschrieben. Lan WangJi sah ihn an, während Wei WuXian Lan WangJi ansah: „Was ist denn los mit deinem SiZhui? Mag er meine Flöte?“
Lan JingYi rief aus: „Was denn?! Hast du etwa endlich deine schlechte, verstimmte Flöte verloren? Diese Neue hier scheint ziemlich gut zu sein!“
Aber er wusste natürlich nicht, dass diese neue, 'ziemlich gute' Flöte ein spirituelles Werkzeug war, das er schon immer einmal hatte sehen wollen - die legendäre Geisterflöte 'Chenqing'. Er war nur glücklich in seinem Herzen, Großartig! Jetzt wird er zumindest nicht mehr HanGuang-Jun blamieren, wenn er ein Duett mit HanGuang-Jun spielt. Um Himmels willen! Die Flöte, die er hatte, war sowohl für das Auge als auch für das Ohr hässlich!
Lan WangJi, „SiZhui.“
Lan SiZhui schien nun endlich aus seiner geistigen Abwesenheit herauszukommen. Er gab Chenqing mit beiden Händen wieder an Wei WuXian zurück, „Senior Wei.“
Wei WuXian nahm die Flöte entgegen. Als er sich daran erinnerte, dass Jiang Cheng derjenige gewesen war, der sie mitgebracht hatte, drehte er sich dort um und kommentierte beiläufig: „Danke.“
Er winkte mit Chenqing in seine Richtung: „Ich... Kann ich sie behalten?“
Jiang Cheng blickte ihn an: „Sie ist doch sowieso deine!“
Nach einem Moment des Zögerns bewegten sich seine Lippen leicht, als ob er etwas anderes sagen wollte. Wei WuXian hatte sich jedoch bereits an Lan WangJi gewandt. Als Jiang Cheng dies sah, schwieg er.
Von den Leuten hier räumten einige auf, einige festigten das Siegel auf dem Sarg, einige dachten darüber nach, wie man ihn sicher bewegen konnte, und einige waren einfach nur wütend über all das. Lan QiRen schimpfte: „XiChen, was in aller Welt ist los mit dir?!“
Während er mit seinen Händen die Schläfen kreisend massierte, schien Lan XiChens Gesicht voller unaussprechlicher Trauer. Er wirkte unendlich müde, „.... Onkel, ich flehe dich an. Frag nicht weiter. Wirklich. Im Moment möchte ich wirklich nichts sagen.“
Lan QiRen hatte Lan XiChen, ein Kind, das er praktisch allein aufgezogen hatte, noch nie so aufgewühlt und unruhig gesehen. Er sah ihn an, dann sah er Lan WangJi an, umgeben von Schülern neben Wei WuXian stehend, und er fühlte sich umso gereizter, je mehr er sie ansah. Er fühlte, dass seine beiden stolzesten Jünger, die absolut perfekt waren, nun nicht mehr auf ihn hörten und ihm beide große Sorgen machten.
Der Sarg, der Nie MingJue und Jin GuangYao versiegelte, war nicht nur ungewöhnlich schwer, sondern erforderte auch eine sorgfältige Behandlung. Daher meldeten sich ein paar Sektenführer freiwillig, um sich darum zu kümmern. Als ein Sektenführer sich die GuanYin Statue genauer ansah, hielt er zuerst überrascht inne und zeigte dann auf sie, damit auch die anderen sehen konnten, was er Neues und Interessantes gefunden hatte: „Seht euch das Gesicht an! Sieht es nicht aus wie das von Jin GuangYao?“
Alle stöhnten auf, nachdem sie nachgesehen hatten: „Es ist in der Tat sein Gesicht! Warum sollte Jin GuangYao so etwas machen?“
Sektenführer Yao, „Um sich in wilder Arroganz zum Gott zu erklären, natürlich.“
„Das ist dann in der Tat arrogant, hahaha.“
Wei WuXian dachte bei sich selbst: Nein, nicht unbedingt.
Jin GuangYaos Mutter war als die niedrigste Prostituierte angesehen worden, daher hatte er beschlossen, eine GuanYin Statue mit dem Aussehen seiner Mutter zu schnitzen, um ihr so die Verehrung von Zehntausenden zukommen zu lassen.
Aber es hätte keinen Sinn gehabt, das alles den Anwesenden zu sagen. Niemand wusste mit mehr Klarheit als Wei WuXian, dass es niemanden interessieren würde und niemand würde ihm Glauben schenken. Alles, was mit Jin GuangYao zu tun hatte, wurde sofort mit bösartigsten Vermutungen konfrontiert und ging dann als Halbwahrheiten in die Münder der Menge. Bald würde dieser Sarg in einem noch größeren, festeren Sarg versiegelt werden. Dieser Würde dann mit 72 Mahagoni-Nägeln gesichert und tief unter der Erde vergraben werden, versiegelt unter einem Berg mit warnenden und abschreckenden Steintafeln.
Und die darin versiegelten Dinge würden unter all dieser schweren Barrieren und endloser Verachtung nie wieder das Licht der Welt erblicken.
Nie HuaiSang lehnte sich an die Wand neben der Tür und beobachtete, wie einige Sektenführer den Sarg über die Schwelle des GuanYin Tempels trugen. Er blickte nach unten und versuchte den schmutzigen Schlamm am unteren Saum seiner Kleidung abzuklopfen. Als ob er etwas sehen würde, hielt er plötzlich inne. Wei WuXian sah auch hinüber. Was dort zu Boden gefallen war, war die Mütze von Jin GuangYao.
Nie HuaiSang beugte sich nach unten und hob sie auf. Erst danach schlenderte er langsam nach draußen.
Fee wartete ängstlich draußen auf ihren Herrn und bellte einige Male. Als Jin Ling das Bellen hörte, erinnerte er sich plötzlich daran, dass Jin GuangYao derjenige gewesen war, der ihm Fee überlassen hatte, als diese noch ein ungeschickter kleiner Welpe war, der nicht einmal seine Knie erreichen konnte.
Damals war er erst ein paar Jahre alt gewesen. Er hatte mit den anderen Kindern des Karpfenturms gekämpft und hatte sich auch nach dem Sieg nicht zufrieden mit sich selbst gefühlt und alles in seinem Zimmer zertrümmert, während er sich dabei die Augen ausgeweint hatte. Keines der Dienstmädchen und keiner der Diener wagte es, sich ihm zu nähern, aus Angst, von einem Gegenstand getroffen zu werden.
Grinsend hatte sich sein jüngster Onkel hineingeschlichen, um zu fragen: „A-Ling, was ist los?“
Er hatte sofort ein halbes Dutzend Vasen neben Jin GuangYaos Füße geworfen. Jin GuangYao, „Oh-oh, heute sind wir aber wieder wild. Ich habe solche Angst.“
Er schüttelte den Kopf, während er ging, und tat so, als hätte er Angst.
Am zweiten Tag weigerte sich Jin Ling, nach draußen zu gehen oder etwas zu essen, während er schmollte. Jin GuangYao ging direkt vor seinem Zimmer auf und ab. Mit dem Rücken zur Tür schrie Jin Ling, dass er seine Ruhe haben wollte, als er plötzlich das Bellen eines Welpen von außerhalb der Tür hörte.
Er öffnete die Tür. Halb hockend hielt Jin GuangYao einen glitzernd-schwarzen Welpen mit runden, großen Augen in den Armen. Er blickte auf und lächelte: „Ich habe dieses kleine Ding hier gefunden, aber ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. A-Ling, willst du ihm einen Namen geben?“
Das Lächeln war so freundlich, so echt, dass Jin Ling nicht glauben konnte, dass Jin GuangYao es vorgetäuscht haben könnte. Plötzlich fielen ihm wieder Tränen aus den Augen.
Jin Ling hatte immer gedacht, dass Weinen ein Zeichen von Schwäche sei, und behandelte einen solchen Akt mit Verachtung. Doch außer einer Flut von Tränen gab es keinen anderen Weg, den Schmerz und die Wut in seinem Herzen heraus zu lassen.
Er wusste nicht, warum, aber er hatte das Gefühl, dass er nun niemanden dafür hassen oder verantwortlich machen konnte. Wei WuXian, Jin GuangYao, Wen Ning - Jeder von ihnen sollte bis zu einem gewissen Grad für den Tod seiner Eltern verantwortlich sein, jeder von ihnen hatte ihm einen Grund gegeben, sie mit allem, was er hatte, zu hassen. Aber es schien auch, dass jeder von ihnen ihm einen Grund gab, dass er dazu nicht mehr in der Lage war. Aber wenn er sie nicht hassen konnte, wen sollte er dann hassen? Hatte er es etwa verdient, seine beiden Eltern zu verlieren, als er noch so jung war? War er nun nicht mehr in der Lage, nicht mehr nur nicht Rache nehmen zu können, sondern auch nicht mehr zu hassen?
Er wollte irgendwie von diesen Gedanken nicht loslassen. Er fühlte sich vom Leben ungerecht behandelt. Er hätte besser zusammen mit ihnen sterben und somit alles beenden sollen.
Als er ihn lautlos weinen sah, während er auf den Sarg starrte, fragte Sektenführer Yao: „Junger Meister Jin, warum weinst du? Wegen Jin GuangYao?“
Als er sah, dass Jin Ling nicht antwortete, sprach Sektenführer Yao in einem Ton, mit dem ältere Menschen oft Jugendliche ihrer Sekte beschimpften: „Warum weinst du? Halte deine Tränen zurück. Jemand wie dein Onkel verdient die Tränen von niemandem. Junger Meister, ich meine, nichts für ungut, aber du kannst nicht so schwach sein! Das ist dem schöneren Geschlecht allein vorbehalten. Du solltest wissen, was richtig und was falsch ist, und deine....“
Wenn dies zu einer Zeit passiert wäre, als der Anführer der LanlingJin-Sekte noch immer der Hauptkultivierende gewesen war, der die ganze Welt der Kultivierung anführte, dann hätten die Anführer der anderen Sekten niemals den Mut gehabt, die Schüler der Jin-Sekte zu bevormunden, egal was auch passierte. Doch im Moment war Jin GuangYao bereits verstorben. Niemand war in der Lage, die LanlingJin-Sekte aufrechtzuerhalten. Der Name war auch ziemlich in Mitleidenschaft genommen worden, und wahrscheinlich würde er in Zukunft auch nicht mehr wieder auferstehen können, so dass sich nun einige Leute mutig vorwagten.
Jin Ling hatte anfänglich noch Tausende von Gedanken und Gefühlen, die in seinem Herzen herumwirbelten. Als er jedoch die Kommentare von Sektenführer Yao hörte, strömte ein Feuer durch sein Herz. Er brüllte: „Und was ist, wenn ich weinen will?!! Wer bist du denn? Was bist du denn? Du lässt mich nicht mal zum Weinen allein?!“
Sektenführer Yao hatte auch nicht damit gerechnet, angeschrien zu werden. Er war ein Sektenführer, der auch einen gewissen Ruhm hatte. Sofort verdunkelte sich sein Gesicht. Einige andere trösteten ihn mit leiser Stimme: „Lass es gut sein. Kümmere dich nicht um solche Kinder.“
Er zog schließlich die aufgestaute Wut zurück und schnaubte kalt: „Natürlich. Hah, warum sich mit jungen Gören abgeben, die nichts darüber wissen, was richtig und was falsch ist?“
Lan QiRen beobachtete, wie der Sarg auf den Wagen geschleppt wurde. Er drehte sich um und war überrascht: „Wo ist WangJi?“
Er hatte gerade geplant, Lan WangJi zurück in die Wolkenschluchten zu entführen und mindestens hundertzwanzig Tage lang auf ihm einzusprechen und ihn dadurch vielleicht wieder zu erden, da bisheriges bislang nicht funktioniert hatte. Wer hätte gedacht, dass er im Handumdrehen verschwunden sein würde. Er ging ein wenig herum und erhob seine Stimme: „Wo ist WangJi?!“
Lan JingYi, „Gerade eben sagte ich ihnen noch, dass wir Kleiner Apfel mitgebracht und ihn direkt vor dem Tempel angeleint hätten. Und dann ist HanGuang-Jun, zusammen mit.... zusammen mit.... losgegangen, um Kleiner Apfel zu begrüßen.“
Lan QiRen, „Und dann?“
Es war unnötig zu sagen, was danach geschah. Keine einzige Spur von Wei WuXians, Lan WangJis und Wen Nings Schatten waren außerhalb des GuanYin Tempels zu sehen.
Lan QiRen sah zu Lan XiChen hinüber, der träge hinter ihm stand, jedoch geistig abwesend wirkte und seufzte daraufhin, ehe er mit wehenden Ärmeln davonging.
Lan JingYi blickte sich um und schrie überrascht: „SiZhui? Was ist denn jetzt passiert? Wann ist denn auch noch SiZhui verschwunden?“
Als Jin Ling hörte, dass Wei WuXian und Lan WangJi weg waren, eilte er nach draußen und stolperte fast über die Schwelle des GuanYin Tempels. Aber egal wie bestrebt er war, er konnte ihre Gestalten nicht mehr ausfindig machen. Fee lief kreisförmig um ihn herum und hechelte.
Jiang Cheng stand unter einem hohen, geraden Baum inmitten des GuanYin Tempels. Er sah zu ihm herüber und sprach kalt: „Wisch dir das Gesicht ab.“
Jin Ling rieb sich grob über die Augen und wischte sich über das Gesicht, bevor er zurücklief: „Wo sind sie?“
Jiang Cheng, „Weg.“
Jin Ling rief entsetzt aus: „Du hast sie einfach so gehen lassen?“
Jiang Cheng spottete: „Was denn sonst? Sollten sie noch zum Abendessen bleiben? Bedanken und sich dann nach dem Essen entschuldigen?“
Jin Ling begann innerlich zu kochen und zeigte auf ihn: „Kein Wunder, dass er gehen wollte. Es liegt alles an deiner Einstellung! Warum bist du nur so nervig, Onkel?!“
Als Jiang Cheng das hörte, erhob er seine Hand mit funkelnden Augen und schimpfte: „Spricht man so mit jemandem, der älter ist als du? Willst du verprügelt werden?!“
Jin Ling zuckte zurück. Fee zog ebenfalls ihren Schwanz ein. Doch Jiang Chengs Schlag landete nicht auf seinem Hinterkopf. Stattdessen zog er den Arm kraftlos zurück.
Er sprach irritiert: „Halt die Klappe, Jin Ling. Halt einfach die Klappe. Wir gehen zurück. Jeder für sich auf seinem eigenen Weg.“
Jin Ling hielt überrascht inne. Nach einigem Zögern hielt er gehorsam die Klappe. Den Kopf hängen lassend ging er ein paar Schritte neben Jiang Cheng her, bevor er wieder aufblickte: „Onkel, du wolltest etwas sagen, nicht wahr?“
Jiang Cheng, „Was? Nein.“
Jin Ling, „Gerade eben! Ich habe es gesehen. Du wolltest Wei WuXian etwas sagen, und dann hast du es nicht getan.“
Nach einer Schweigeminute schüttelte Jiang Cheng den Kopf: „Da gibt es nichts mehr zu sagen.“
Was sollte er denn sagen?
Dass ich damals nicht von der Wen-Sekte erwischt wurde, weil ich zum Lotus Pier zurückkehren wollte, um die Leichen meiner Eltern zu holen. Dass wir in der Stadt, die wir auf unserem Weg passiert hatten, und während du Essen gekauft hattest, uns eine Gruppe von Wen-Sekten-Kultivierenden eingeholt hatte. Dass ich sie jedoch früh genug entdeckt hatte und ich die Stelle, an der ich saß, verlassen hatte, um mich an der Ecke der Straße zu verstecken, damit sie mich nicht fassen konnten, sie aber weiterhin die Straße patrouillierten und sie dadurch auf dich getroffen wären.... dass das der Grund gewesen war, weshalb ich raus gerannt war und sie abgelenkt hatte?!
Aber genau wie der frühere Wei WuXian ihm nicht hatte die Wahrheit sagen können, als er ihm seinen goldenen Kern gegeben hatte, so konnte auch der heutige Jiang Cheng nichts sagen.
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